|
[490] Um vier Uhr begann die Einfahrt. Dansaert selbst hatte sich im Zimmer des Kontrollbeamten eingefunden, schrieb jeden Arbeiter ein, der sich meldete, und ließ ihm die Grubenlampe reichen. Er nahm alle an ohne Bemerkung und hielt so das in den Anschlagzetteln gegebene Versprechen. Nur als er Etienne und Katharina am Schalter bemerkte, fuhr er auf, wurde sehr rot und öffnete den Mund, um die beiden abzuweisen. Doch er begnügte sich, mit höhnischer Miene zu triumphieren. Ei, ei, selbst der Starke unter den Starken lag am Boden! Die Gesellschaft hatte denn doch auch ihr Gutes; der furchtbare Bezwinger von Montsou kam wieder zu ihr, um Brot von ihr zu verlangen. Etienne nahm stillschweigend seine Lampe und ging mit der Schlepperin zur Einfahrt.
Hier, im Aufnahmesaal, fürchtete Katharina die bösen Reden der Kameraden. Kaum eingetreten, erkannte sie Chaval mitten in einer Gruppe von etwa zwanzig Bergleuten, die warteten, bis eine Schale frei werde.[490] Er kam mit wütender Miene auf sie zu, doch hielt der Anblick Etiennes ihn zurück. Er tat, als wolle er sie verhöhnen, wobei er geringschätzig die Achseln zuckte. Schon gut; er mache sich nichts daraus, daß der andere seinen Platz eingenommen habe. Er selbst sei dadurch eine Last losgeworden. Es gehe den Herrn an, wenn er die Überreste liebe. Während er diese Mißachtung zur Schau trug, zitterte er vor Eifersucht, und seine Augen flammten. Die Kameraden rührten sich nicht, sondern standen stumm da; sie begnügten sich, die Neuangekommenen von der Seite anzublicken; dann schauten sie traurig, aber ohne Groll wieder nach der Schachtmündung mit der Lampe in der Hand, zitternd in dem dünnen Leinenkittel bei dem Luftzuge des großen Saales.
Endlich setzte sich die Schale in den Ankern fest, und man rief ihnen zu einzusteigen. Etienne und Katharina drängten sich in einen Karren, wo schon Pierron mit zwei Häuern Platz genommen hatte. Nebenan im andern Karren sagte Chaval laut zu Mouquet, es sei nicht recht, daß die Direktion die Gruben nicht von den Lumpen befreie. Doch der Stallknecht, der sich wieder in sein Hundeleben gefügt hatte, grollte nicht mehr wegen des Todes seiner Kinder und antwortete mit einer Gebärde der Versöhnung.
Die Schale hakte los, man versank in die Dunkelheit. Niemand sprach. Plötzlich – man hatte etwa zwei Drittel der Fahrt zurückgelegt – gab es ein furchtbares Krachen. Die Eisenteile knirschten, die Männer wurden aufeinandergeschleudert.
»Donner Gottes!« brummte Etienne, »wollen sie uns plattdrücken lassen? Bei dieser verdammten Verzimmerung werden wir einmal alle die Knochen lassen. Und man sagt noch, sie hätten sie ausbessern lassen.«
Indes war die Schale durch das Hindernis hindurchgekommen. Sie fuhr jetzt unter so heftigem Sturzregen hinab, daß die Arbeiter geängstigt diesen rauschenden[491] Strom hörten. Es mußten wieder neue Risse entstanden sein.
Pierron, der schon seit einigen Tagen arbeitete, wurde befragt; aber er wollte seine Furcht nicht zeigen, weil man sie als einen Angriff auf die Direktion hätte deuten können. Er sagte:
»Es besteht keine Gefahr! Das ist immer so. Sicher hat man keine Zeit gehabt, die Risse zu verstopfen.«
Über ihren Häuptern brauste das Wasser; sie kamen in einem wahren Wolkenbruch auf dem Grunde des Schachtes an. Kein Aufseher war auf den Gedanken gekommen, durch den Leiternschacht aufzusteigen und sich von der Sachlage zu überzeugen. Die Pumpe werde genügen, sagten sie; in der nächsten Nacht würden Zimmerleute die Risse untersuchen. Die Neueinrichtung der Arbeit in den Galerien gab genug zu tun. Der Ingenieur hatte entschieden, daß, ehe die Häuer zu den Schlägen zurückkehrten, in den ersten fünf Tagen gewisse unaufschiebliche Befestigungsarbeiten durchzuführen seien. Auf allen Seiten drohten Einstürze; die Gänge hatten so stark gelitten, daß die Verzimmerung in der Länge von Hunderten von Metern ausgebessert werden mußte. Man bildete daher Gruppen von je zehn Männern, jede Gruppe unter Führung eines Aufsehers, und geleitete sie zu jenen Stollen, die am meisten Schaden genommen hatten. Als der Abstieg beendigt war, zählte man, daß dreihundertzwanzig Arbeiter angefahren waren, ungefähr die Hälfte der Belegschaft in gewöhnlichen Zeiten.
Chaval gehörte zu der Gruppe, der Etienne und Katharina zugeteilt waren; es war keineswegs zufällig geschehen. Er hatte sich anfänglich hinter die Kameraden versteckt und dann den Aufseher gebeten, ihn dieser Gruppe zuzuweisen. Sie begab sich an das Ende der Nordgalerie, etwa drei Kilometer weit, um dort Schutt wegzuräumen, der den Eingang eines Stollens verlegte. Man machte sich mit Spitzhacke und Schaufel an die Arbeit, während Katharina mit zwei Schlepperjungen[492] den Schutt zur schiefen Ebene fuhr. Es wurde wenig gesprochen; der Aufseher verließ die Arbeiter keinen Augenblick.
Gegen acht Uhr kam Dansaert, um die Arbeit zu besichtigen. Er schien sehr übler Laune zu sein und zankte mit dem Aufseher: nichts sei in Ordnung, die Hölzer müßten von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden, man mache die Arbeit schlecht. Dann ging er und kündigte an, daß er mit dem Ingenieur wiederkommen werde.
Wieder verfloß eine Stunde. Der Aufseher hatte mit der Wegräumung des Schuttes innehalten lassen und verwandte alle seine Leute dazu, die Decke zu stützen. Auch die Schlepperin und die zwei Jungen rollten keine Karren mehr, sondern halfen Balken herbeischleppen. In dieser Tiefe der Galerie war diese Arbeitergruppe gleichsam auf Vorposten, am äußersten Ende der Grube, ohne Verbindung mit den übrigen Werkplätzen. Drei oder viermal wandten die Arbeiter die Köpfe, weil sie ferne Geräusche, wie tolles Rennen, hörten. Was war's? Es schien, als leerten sich die Gänge, als beeilten sich die Kameraden hinaufzukommen. Doch der Lärm verlor sich wieder; sie fuhren fort, Hölzer aufzurichten, betäubt durch die schallenden Hammerschläge. Endlich ging man wieder an die Forträumung des Schuttes, und die Abfuhr begann von neuem.
Katharina kam gleich von der ersten Fahrt ganz erschreckt zurück und erzählte, daß niemand mehr bei der schiefen Bahn sei.
»Ich habe gerufen, niemand hat geantwortet. Alle haben Reißaus genommen.«
Die Bestürzung war so groß, daß die zehn Männer sofort ihre Werkzeuge wegwarfen, um zu laufen. Der Gedanke, daß sie so tief in der Grube, so fern von der Auffahrt verlassen seien, raubte ihnen schier den Verstand. Sie hatten nur ihre Lampe behalten; sie liefen hintereinander, die Männer, die Kinder sowie die[493] Schlepperin; und selbst der Aufseher verlor den Kopf und stieß Schreie aus, immer verwirrter durch die Stille und Verlassenheit der endlosen Galerien. Weshalb begegnete man keiner Seele? Welcher Unfall mochte die Kameraden hinweggefegt haben? Ihr Entsetzen wurde noch gesteigert durch die Ungewißheit der Gefahr, durch die Bedrohung, die sie fühlten, ohne sie zu kennen.
Als sie endlich der Auffahrt sich näherten, verlegte ein Strom ihnen den Weg. Das Wasser reichte ihnen bis zu den Knien; sie konnten nicht mehr laufen und durchschritten mühsam die Flut, in der Gewißheit, daß eine Minute Verzögerung den Tod bedeute.
»Donner Gottes! Die Verzimmerung muß geborsten sein!« schrie Etienne. »Ich sagte es ja, daß wir alle das Leben lassen werden!«
Pierron hatte seit der Einfahrt mit Unruhe gesehen, wie die aus dem Schacht niederprasselnde Flut immer höher stieg. Während er mit zwei anderen die Karren zur Beförderung einhängte, blickte er empor; schwere Tropfen fielen ihm ins Gesicht, die Ohren summten ihm von dem Getöse. Was ihn noch mehr erzittern ließ, war die Wahrnehmung, daß die Senkgrube unter ihm, das zehn Meter tiefe Loch, sich füllte; schon quoll Wasser zwischen den Eisenplatten des Fußbodens hervor. Dies war ein Beweis, daß die Pumpe nicht mehr genügte, um das Wasser zu bewältigen; er hörte ordentlich, wie sie ermüdete, wie ihr der Atem ausging. Da benachrichtigte er Dansaert, der wütende Flüche ausstieß und erklärte, man müsse den Ingenieur erwarten. Zweimal erneuerte Pierron seine Warnungen, ohne bei Dansaert etwas anderes als ein verzweifeltes Achselzucken zu erreichen. Das Wasser stieg, was konnte er dagegen tun?
Jetzt erschien Mouquet mit dem Pferde Bataille, um es zur Arbeit zu führen. Er mußte das Tier mit beiden Händen festhalten, denn der alte, schläfrige Gaul bäumte sich plötzlich, streckte den Kopf nach dem[494] Schacht aus und ließ ein ängstliches Wiehern vernehmen.
»Was gibt's denn, Philosoph? Was ängstigt dich? ... Ach, weil es regnet? Komm, das geht dich nichts an.«
Das Tier zitterte am ganzen Körper; er mußte es mit Gewalt fortzerren.
Fast in demselben Augenblick, eben als Mouquet und Bataille in der Tiefe einer Galerie verschwunden waren, ertönte ein Krachen in der Luft, gefolgt von dem Poltern eines Sturzes. Ein Balken war losgerissen und fiel hundertachtzig Meter tief herab, während des Falles wiederholt an die Wände schlagend. Pierron und die anderen Verlader konnten noch rechtzeitig zur Seite springen, der schwere Eichenpfosten zertrümmerte nur einen leeren Karren. Zu gleicher Zeit erfolgte ein Wasserbruch; es schoß hervor wie bei einem geborstenen Damm. Dansaert wollte hinauf, um nachzuschauen; aber er sprach noch, als ein zweiter Balken herunterstürzte. In seinem Schrecken zögerte er angesichts der drohenden Katastrophe nicht länger und gab das Signal zur Auffahrt; gleichzeitig sandte er die Aufseher nach allen Richtungen aus, um die Leute auf den Werkplätzen zu benachrichtigen.
Jetzt folgte furchtbares Hasten und Drängen. Aus allen Galerien kamen Gruppen von Arbeitern im Eilschritt an und stürzten sich auf die Aufzugsschalen. Man rang auf Tod und Leben, um zuerst hinaufgeschafft zu werden. Einige, die auf den Einfall gekommen waren, durch den Leiternschacht aufzusteigen, kamen mit dem Rufe zurück, der Weg sei schon versperrt. Nach jeder Auffahrt einer Schale gab es neues Entsetzen: diese konnte noch durch; wer wußte, ob auch die nächste hinaufkam durch alle Hindernisse, die den Schacht verlegten? Der Einsturz oben schien fortzudauern; man hörte eine Reihe von dumpfen Schlägen; es waren die gespaltenen Hölzer, die unter wachsendem Rauschen der Wasser platzten. Eine Schale wurde bald außer Gebrauch gesetzt; sie glitt[495] nicht mehr zwischen den Leitpfosten, ohne Zweifel war sie gebrochen. Die andere streifte so heftig die Wände, daß ein Reißen der Kabel zu befürchten war. Aber es waren noch etwa hundert Leute hinaufzuschaffen, und alle schrien in Todesangst und klammerten sich aneinander, vom Wasser bedroht, mit Blut bedeckt. Zwei wurden von herabstürzenden Balken erschlagen; ein dritter, der sich an die Schale geklammert hatte, fiel aus einer Höhe von fünfzig Meter herunter und verschwand in der Senkgrube.
Dansaert bemühte sich, Ordnung zu schaffen. Mit einer Spitzhacke bewaffnet, drohte er, dem ersten, der nicht gehorche, den Schädel einzuschlagen. Er wollte sie der Reihe nach aufstellen und rief, die Verlader sollten zuletzt ausfahren, nachdem sie die Kameraden hinaufgeschafft hätten. Doch man hörte nicht auf ihn. Er hatte Pierron, der bleich und feige dastand, gewaltsam hindern müssen, mit den ersten auszufahren. Bei jedem Aufstieg mußte er ihn mit Hieben zurückjagen. Auch er selbst klapperte mit den Zähnen; noch eine Minute, und er war verschlungen; dort oben war alles geplatzt und geborsten, ein wilder Strom ergoß sich herab, dazwischen erfolgte ein mörderischer Sturz von Balken. Einige Arbeiter liefen eben noch herbei, als er, wahnsinnig vor Furcht, in einen Karren sprang, wohin Pierron ihm folgte. Die Schale stieg auf.
In diesem Augenblick erschien die Gruppe Etiennes und Chavals beim Aufzug. Sie sahen die Schale verschwinden und rannten hinzu; doch sie mußten zurückweichen, denn der letzte Rest der Verzimmerung stürzte herab und verrammelte den Schacht. Die Schale konnte nicht mehr niedersteigen. Katharina schluchzte, Chaval stieß fürchterliche Flüche aus. Es waren noch etwa zwanzig Arbeiter da; sollten die Vorgesetzten sie hier verlassen wollen? Vater Mouquet, der das Pferd Bataille – ohne Hast – wieder zurückgeführt hatte, hielt das Tier am Halfter; beide, der Alte und der Gaul, waren verblüfft angesichts des rasch steigenden[496] Wassers. Es reichte den Leuten jetzt bis zu den Schenkeln. Etienne stand mit zusammengepreßten Zähnen da und hob Katharina in seinen Armen empor. Die zwanzig heulten und schauten hartnäckig nach dem Schacht, diesem einstürzenden Loch, das einen Strom spie, und aus dem ihnen keine Hilfe kommen konnte.
Als Dansaert an das Tageslicht gelangte, sah er Negrel herbeieilen. Verhängnisvollerweise hatte ihn Frau Hennebeau damit aufgehalten, daß sie mit ihm Preiskataloge durchblätterte, um ihre Auswahl für die Hochzeitsgeschenke zu treffen. Es war schon zehn Uhr.
»Was gibt's?« rief er von weitem.
»Die Grube ist verloren«, rief der Oberaufseher.
Er erzählte stammelnd von der Katastrophe, während der Ingenieur ungläubig die Achseln zuckte. Man übertrieb sicherlich; er wollte sich überzeugen.
»Es ist doch niemand in der Grube geblieben?«
Dansaert geriet in Verwirrung. Nein, niemand. Er hoffe es wenigstens. Es sei immerhin möglich, daß einzelne Arbeiter sich verspätet hätten.
»Herrgott! Warum sind Sie dann heraufgekommen? Läßt man seine Leute im Stich?«
Sogleich erteilte er den Befehl, daß man die Lampen zähle. Man hatte am Morgen dreihundertzweiundzwanzig verteilt und fand nur zweihundertfünfundfünfzig vor; allein mehrere Arbeiter gestanden, daß die ihre unten geblieben und in dem Schrecken, in dem Gedränge ihnen aus der Hand gefallen sei. Man versuchte mit einem Namensaufruf vorzugehen, aber es war unmöglich, eine genaue Ziffer festzustellen; einzelne Bergleute waren davongelaufen, andere hörten ihre Namen nicht mehr. Man konnte sich über die Zahl der vermißten Kameraden nicht einigen; es waren vielleicht zwanzig, vielleicht vierzig. Eins war für den Ingenieur gewiß: es waren noch Leute in der Grube; man hörte ihr Schreien durch das Geräusch des Wassersturzes hindurch, wenn man am Eingang des Schachtes horchte.[497]
Die erste Sorge Negrels war, Herrn Hennebeau holen und die Grube schließen zu lassen. Aber es war zu spät; die Bergleute, die – wie von dem Krachen der Verzimmerung verfolgt – nach dem Dorf gerannt waren, hatten schon die Familien in Schrecken gejagt; ganze Scharen von Weibern, Greisen und Kindern liefen schreiend und jammernd herbei. Man mußte sie zurückdrängen; eine Reihe von Aufsehern wurde beauftragt, sie fernzuhalten, damit sie die Rettungsarbeiten nicht störten. Viele der Arbeiter, die heraufgeholt waren, blieben da, ganz verstört, ohne daran zu denken, ihre Kleider zu wechseln, im Bann des Entsetzens festgehalten vor diesem furchtbaren Loch, in dem sie fast getötet worden wären. Die Weiber umstanden sie flehend und fragten nach den Namen. War der unten? Und der? Und jener? Aber sie wußten nichts; sie stammelten nur und machten sinnlose Gebärden, als wollten sie ein immer wiederkehrendes, furchtbares Bild verscheuchen. Die Menge wuchs schnell an; auf den Straßen erhob sich furchtbares Gejammer. Oben in der Hütte des alten Bonnemort saß Suwarin auf der Erde. Er hatte sich nicht entfernt; er wartete und schaute.
»Die Namen! Die Namen!« schrien die Weiber mit tränenersticker Stimme.
Negrel erschien einen Augenblick und rief:
»Sobald wir die Namen wissen, werden wir sie bekanntgeben! Noch ist nichts verloren; alle werden gerettet ... Ich fahre ein.«
Die Menge wartete in stummer Angst. In der Tat schickte sich der Ingenieur mit ruhigem Mut zur Einfahrt an. Er hatte die Schale loshaken lassen und den Befehl gegeben, statt derselben eine Tonne an das Seil zu hängen; und da er vermutete, das Wasser werde seine Lampe auslöschen, befahl er, daß unterhalb der Tonne eine zweite Laterne angebracht werde.
Bleich und zitternd halfen mehrere Aufseher bei diesen Vorbereitungen.[498]
»Dansaert, Sie werden mit mir einfahren«, gebot Negrel kurz.
Als er sah, wie der Oberaufseher entsetzt wankte, schob er ihn mit einer verächtlichen Gebärde zur Seite.
»Nein, Sie wären mir nur im Wege ... ich will lieber allein hinunter!«
Schon stand er in dem engen Kübel, der am Ende des Seiles schwankte. Mit der einen Hand die Lampe haltend, mit der andern die Signalleine ergreifend, rief er dem Maschinisten zu:
»Langsam!«
Die Fördermaschine setzte sich in Bewegung; Negrel verschwand in dem Abgrund, aus dem noch immer das Geschrei der Unglücklichen herauftönte.
Oben war alles in Ordnung; er stellte fest, daß die Verzimmerung sich in gutem Zustande befinde. Im Schacht hin und her geschaukelt, drehte er sich nach allen Seiten und beleuchtete die Wände; das Sickerwasser zwischen den Rissen war so spärlich, daß seine Lampe nicht darunter litt. Aber als er in eine Tiefe von dreihundert Meter kam, erlosch sie, wie er es vorhergesehen; ein Wasserstrahl hatte den Kübel gefüllt. Und jetzt beobachtete er nur noch bei dem Schein der an der Tonne hängenden Lampe. Angesichts des furchtbaren Unglücks erbleichte und erschauerte der sonst so kühne Mann. Nur einige Stücke Holz waren geblieben, die übrigen waren hinabgestürzt; aus riesigen Höhlen ergoß sich feiner gelber Flugsand, während die Wasser des unterirdischen Meeres – dieses Meeres mit seinen der Oberwelt unbekannten Stürmen – in breiten Strömen, wie aus einer Schleuse, hinabstürzten. Er stieg noch tiefer, verloren inmitten dieser Höhlen, gepeitscht und im Kreise gedreht durch den Wassersturz, vom roten Stern des Lampenlichts geführt, das unter ihm hinabglitt. In der Ferne, im Spiel der großen, beweglichen Schatten glaubte er Straßen und Wegkreuzungen einer zerstörten Stadt wahrzunehmen. Da war keine menschliche Hilfe mehr möglich. Er bewahrte[499] nur noch eine Hoffnung: die gefährdeten Menschen da unten retten zu können. Je tiefer er hinabstieg, desto lauter hörte er das Schreien anwachsen. Er mußte haltmachen, ein unüberwindliches Hindernis verrammelte den Schacht, eine Anhäufung von gebrochenen Pfosten und Brettern, die geborstenen Holzwände des Schachtes, wirr vermengt mit Resten der Pumpleitung. Als er beklommenen Herzens dieses grauenhafte Wirrsal lange betrachtete, verstummte mit einem Male das Geheul da unten. Ohne Zweifel waren die Unglücklichen vor dem reißend anwachsenden Wasser in die Galerien geflohen, wenn das Wasser ihnen nicht schon in den Mund gedrungen war.
Er mußte sich entschließen, das Signal zur Auffahrt zu geben. Dann ließ er wieder haltmachen. Er befand sich unter dem betäubenden Eindruck dieses plötzlichen Unglücks, dessen Ursache er nicht begreifen konnte. Er wollte sich Aufklärung verschaffen und untersuchte die wenigen Stücke der Verzimmerung, die noch hielten. Zu seiner Überraschung fand er Einschnitte, die sich in bestimmten Zwischenräumen wiederholten. Da sein Lämpchen in der riesigen Nässe zu erlöschen drohte, tastete er mit den Fingern und erkannte genau die Spuren der Säge und des Bohrers: ein niederträchtiges Zerstörungswerk. Augenscheinlich war diese Katastrophe mit Absicht herbeigeführt worden. Er war wie versteinert; da krachten die Hölzer, der letzte Rest stürzte samt den Rahmen hinab und drohte ihn selbst mitzureißen. Sein Mut war zu Ende. Seine Haare sträubten sich, wenn er an den Menschen dachte, der dies verübt; er erschauerte in der grauenhaften Furcht vor dem Bösen, als ob der Mensch mit seiner unheimlichen Gewalt noch da sei in dem finstern Schlunde, um seine ungeheuerliche Missetat zu vollenden. Er schrie auf und riß mit wütender Hand an der Signalleine. Es war übrigens hohe Zeit, denn er sah hundert Meter höher, daß auch die obere Verzimmerung in Bewegung geraten war, die Fugen öffneten[500] sich, das geteerte Werg fiel heraus, Wasser brach hervor. In einer Stunde mußte die ganze Verzimmerung des Schachtes in Trümmer gehen.
Oben wurde Negrel von dem auf das äußerste erregten Herrn Hennebeau erwartet.
»Nun, was ist's?« fragte er.
Doch der Ingenieur blieb stumm, seine Kräfte drohten ihn zu verlassen.
»Es ist nicht möglich! ... Man hat dergleichen nie gesehen! Hast du alles genau untersucht?«
Er nickte und warf mißtrauische Blicke nach allen Seiten. Er wollte in Gegenwart der Aufseher, die zuhörten, keine Erklärungen geben und führte den Oheim beiseite. Dann erzählte er ihm leise ins Ohr den Anschlag, wie die Planken durchbohrt und durchsägt, die Grube abgeschlachtet worden, daß sie in den letzten Zügen lag. Der Direktor war bleich geworden und dämpfte gleichfalls die Stimme, wie von großen Verbrechen nur in aller Stille gesprochen wird. Es war nicht nötig, vor den zehntausend Arbeitern in Montsou Furcht zu zeigen; man werde später sehen, was zu tun sei. Sie fuhren fort zu flüstern, niedergeschmettert von dem Gedanken, daß ein Mensch den Mut gefunden habe da hinabzusteigen, wo er sozusagen in der Luft hing, und sein Leben zu wagen, um dieses furchtbare Werk zu verrichten. Sie begriffen diese Tollkühnheit der Zerstörung nicht; sie wollten an das Offenkundige nicht glauben, wie man Schilderungen bezweifelt, die von berühmten Ausfällen aus belagerten Festungen erzählen oder von Gefangenen, die durch dreißig Meter hoch gelegene Fenster entkommen.
Als Herr Hennebeau sich den Aufsehern näherte, war sein Gesicht von nervösem Zucken gefurcht. Er machte eine verzweifelte Gebärde und gab den Befehl, daß die Grube sofort geräumt werde. Es war ein trauriger Zug, stumm sahen alle rückwärts auf die großen leeren Ziegelbauten, die noch aufrecht standen, aber unrettbar verloren waren.[501]
Als der Direktor und der Ingenieur als die letzten vom Aufnahmesaal herunterkamen, empfing sie die Menge mit hartnäckig wiederholten Rufen:
»Die Namen! Die Namen! Sagt die Namen!«
Jetzt war auch Frau Maheu unter den Weibern. Sie erinnerte sich des Geräusches, das sie in der Nacht gehört; ihre Tochter und ihr Mieter mußten zusammen weggegangen sein; sie befinden sich gewiß in der Grube. Nachdem sie gerufen hatte, es geschehe ihnen recht, wenn sie unten blieben, die Herzlosen, die Feiglinge, war sie herbeigeeilt; zitternd vor Angst stand sie in der ersten Reihe. Sie wagte nicht mehr zu zweifeln; der Streit um die Namen ringsumher belehrte sie, daß Katharina unten war und Etienne gleichfalls. Ein Kamerad hatte sie gesehen. Aber hinsichtlich der übrigen war man nicht einig. Dieser nicht, jener ja; Chaval sei unten, meinte der eine, während ein Schlepperjunge schwor, mit ihm ausgefahren zu sein. Die Levaque und die Pierron hatten sich, obgleich keiner der ihrigen in Gefahr war, unter die übrigen gemengt und schrien am lautesten. Zacharias, der als einer der ersten ausgefahren war, küßte weinend sein Weib und seine Mutter, wenngleich er sonst den gegen alles gleichmütigen Menschen spielte. Neben der Mutter bleibend, teilte er ihre Angst, bekundete heftige Liebe für die Schwester und wollte nicht glauben, daß sie noch unten sei, solange die Vorgesetzten es nicht bestätigten.
»Die Namen! Die Namen! Um Gottes willen, sagt uns die Namen!«
So waren zwei Stunden verflossen. Im ersten Schrecken hatte niemand an den andern Schacht gedacht, an den alten Schacht von Réquillart. Herr Hennebeau verkündete eben, daß man das Rettungswerk von jener Seite versuchen wolle, da fünf Arbeiter sich aus der ersäuften Grube gerettet hätten, indem sie die morschen Leitern des alten Schachtes erstiegen. Man nannte den Vater Mouquet; dies überraschte alle, man hatte nicht geglaubt, daß er unten sei. Doch die Mitteilungen[502] der Geretteten vermehrten den Jammer: fünfzehn Kameraden hätten ihnen nicht folgen können; sie hätten sich verirrt, seien durch Verschüttungen abgeschnitten; es sei nicht möglich, ihnen zu Hilfe zu kommen, denn es ständen zehn Meter Wasser im Réquillartschacht. Man kannte jetzt alle Namen, und die Luft widerhallte von dem Jammergeschrei.
»Heißt sie schweigen!« wiederholte Negrel wütend. »Sie sollen hundert Meter zurückweichen, denn hier ist Gefahr. Drängt sie zurück!«
Man mußte sich dieser armen Leute erwehren; man jagte sie davon, um Tote vor ihnen zu verbergen. Die Aufseher mußten ihnen erklären, daß die ganze Grube einstürzen werde. Sie ließen sich schließlich Schritt für Schritt zurückdrängen, aber man mußte die Wachen verdoppeln, denn sie kamen unwillkürlich immer wieder, gleichsam angezogen durch die Grube. Etwa tausend Personen drängten sich auf der Straße; man lief aus allen Arbeiterdörfern herbei, selbst aus Montsou. Der Mann auf dem Hügel aber – der blonde Mann mit dem Mädchengesicht – rauchte Zigaretten, um sich die Zeit zu vertreiben, und wandte die hellen Augen nicht von der Grube.
Jetzt begann das Warten. Es war Mittag; niemand hatte gegessen, und dennoch entfernte sich niemand. Am nebeligen, schmutzig-grauen Himmel zogen langsam rostfarbene Wolken dahin. Hinter der Hecke der Rasseneurschen Schenke ließ ein großer Hund, den die Menge reizte, ein unaufhörliches, wütendes Gebell vernehmen. Die Leute hatten sich allmählich über die anstoßenden Felder verteilt und – in einer Entfernung von etwa hundert Meter – einen Kreis geschlossen. Mitten in dem Raum erhoben sich die Gebäude der Voreuxgrube. Fenster und Türen standen offen, die verlassenen Räume lagen wüst da. Eine rote Katze, die man vergessen hatte, witterte die Gefahr dieser Einsamkeit, sprang von einer Treppe herab und verschwand. Die Kesselfeuer waren ohne Zweifel eben erst[503] ausgegangen, denn der aus roten Ziegeln erbaute hohe Schlot sandte noch leichte Rauchwölkchen zu dem düsteren Himmel empor, während der Wetterhahn des Schachtturmes im Winde krächzte.
Um zwei Uhr hatte sich noch nichts gerührt. Herr Hennebeau, Negrel und andere Ingenieure, die herbeigeeilt waren, bildeten eine besondere Gruppe in schwarzen Röcken und Hüten. Auch sie wollten sich nicht entfernen; ihre Beine waren von Müdigkeit wie gebrochen; sie fieberten und waren krank, weil sie machtlos einem solchen Unglück beiwohnen mußten; sie tauschten nur wenige Worte im Flüsterton aus, als stünden sie am Bett eines Sterbenden. Die obere Verzimmerung mußte vollends zusammengebrochen sein; man hörte plötzlich laute, abgerissene Geräusche, wie wenn Gegenstände in die Tiefe stürzten; dann trat wieder tiefe Stille ein. Die Katastrophe wurde immer größer; der Einsturz, der unten begonnen hatte, rückte höher, näherte sich der Oberfläche. Eine nervöse Ungeduld hatte sich Negrels bemächtigt; er wollte alles sehen und wagte sich vor, als ihn mehrere an den Schultern faßten. Wozu denn? Er konnte nichts verhindern. Ein alter Bergmann täuschte indessen die Wachsamkeit der Aufseher und lief zur Baracke; doch kehrte er sogleich ruhig zurück, er hatte nur seine Holzschuhe geholt.
Es schlug drei Uhr. Nichts regte sich. Ein Platzregen hatte die Menge durchnäßt, ohne daß sie zurückwich. Rasseneurs Hund bellte wieder. Zwanzig Minuten später erschütterte ein erster Stoß die Erde. Der Voreuxschacht erzitterte, stand aber noch fest und aufrecht. Sogleich folgte ein zweiter Stoß, und ein langgedehnter Schrei ertönte: der Sichtungsschuppen hatte zweimal geschwankt und war dann mit ungeheurem Krachen eingestürzt. Unter dem ungeheuren Druck brachen die Balken und rieben sich so gewaltig aneinander, daß Funkengarben aufstoben. Von diesem Augenblick an hörte die Erde nicht mehr auf zu zittern; Stöße folgten auf Stöße, unterirdische Einstürze, begleitet von dem[504] dumpfen Grollen eines feuerspeienden Vulkans. Der Hund in der Ferne bellte nicht mehr, sondern stieß ein klagendes Geheul aus, wie um die Schwankungen der Erde anzukündigen, die er kommen fühlte; und die Weiber und Kinder, all das Volk, das zuschaute, konnte einen Jammerschrei nicht zurückhalten bei jedem Ruck. In weniger als zehn Minuten war das Schieferdach des Schachtturmes eingestürzt; der Aufnahmesaal und der Maschinenraum zeigten Risse, die sich zu großen Breschen erweiterten. Dann verstummten die Geräusche, und tiefe Stille trat ein.
Etwa eine Stunde lang wurde der Voreuxschacht in schrecklicher Weise in Stücke gerissen, wie von einem Barbarenheer bombardiert. Man schrie nicht mehr; der erweiterte Kreis von Zuschauern betrachtete still die Geschehnisse. Unter den Balken des Sichtungswerkes sah man zertrümmerte Karren und verbogene Trichter. Aber ganz besonders im Aufnahmesaal häuften sich die Trümmer mitten in einem Regen von Ziegeln, unter Mauerteilen, die in ganzen Stücken niedersanken und in Schutt zerfielen. Das eiserne Gerüst hatte sich geneigt und war halb eingesunken; eine Förderschale blieb daran hängen; oben baumelte das Ende einer abgerissenen Kette; überall lagen in wirrem Durcheinander Karren, gußeiserne Platten und Leitern. Durch einen seltsamen Zufall war die Lampenkammer verschont geblieben und zeigte links die hellen Reihen der Lichter. Im Hintergrund sah man die Maschine fest auf ihrem gemauerten Unterbau ruhen; die Kupferteile schimmerten; die großen stählernen Glieder hatten das Aussehen von unverwüstlichen Muskeln; eine ungeheure, gebogene Stange glich dem mächtigen Knie eines Riesen, der in gewaltiger Stärke ruhig daliegt.
Nachdem eine Stunde ohne Erschütterung verflossen war, schöpfte Herr Hennebeau wieder Hoffnung. Die Bewegung des Erdreiches mußte jetzt zu Ende sein, man werde wenigstens die Maschinen und den Rest der Gebäude retten können. Aber er verbot noch immer[505] jede Annäherung; er wollte noch eine halbe Stunde warten. Das Harren aber wurde unerträglich; die Hoffnung verdoppelte die Angst; alle Herzen schlugen stürmischer. Ein rasch anwachsendes Gewölk am Horizont beschleunigte die Dämmerung; ein düsterer Abend breitete sich über die Trümmer. Seit sieben Stunden standen die Leute da, ohne sich zu rühren und ohne zu essen.
Plötzlich wurden die Ingenieure, als sie sich vorsichtig näher wagten, durch eine letzte Erschütterung der Erde in die Flucht gejagt. Unterirdische Schläge wurden hörbar; auf der Oberfläche stürzten die letzten Gebäude zusammen. Zuerst wurden die Trümmer des Sichtungsschuppens und des Aufnahmesaales wie von einem Wirbelwind davongetragen, dann barst das Kesselhaus und verschwand. Jetzt kam die Reihe an den viereckigen Turm, in dem die Pumpe ächzte; er fiel nach vorn zu Boden wie ein Mensch, den eine Kanonenkugel niedergeworfen. Und dann bot sich ein fürchterlicher Anblick: man sah die Maschine, die zerrissen, mit ausgereckten Gliedern, auf ihrem Unterbau ruhte, gegen den Tod ankämpfen: sie setzte sich in Bewegung, streckte ihren Kolben aus, wie um sich zu erheben; doch sie sollte sterben, sie wurde zermalmt und verschlungen. Nur der dreißig Meter hohe Schlot stand noch aufrecht, wenngleich geschüttelt wie ein Mast im Sturm. Man glaubte schon, er werde zerbröckeln und als Staubwolke auffliegen, als er plötzlich mit einem Ruck gänzlich versank, von der Erde eingesogen, geschmolzen wie eine Riesenkerze; nichts ragte mehr hervor, nicht einmal die Spitze des Blitzableiters. Es war aus; das böse Ungetüm, das in der Grube hockte und sich mit Menschenfleisch nährte, ließ nicht mehr seinen lauten, langen Atem hören. Der Voreuxschacht war vollständig im Abgrund verschwunden.
Heulend floh die Menge. Die Weiber flüchteten mit den Händen vor den Augen. Der Schrecken jagte die Männer wie ein Häuflein welker Blätter. Man wollte[506] nicht schreien und schrie dennoch auf mit fuchtelnden Armen angesichts des ungeheuren Abgrundes, der sich aufgetan hatte. Dieser Krater – dem eines erloschenen Vulkans gleich – hatte eine Tiefe von fünfzehn Meter und dehnte sich von der Straße bis zum Kanal aus, mindestens vierzig Meter breit. Der ganze Werkhof war den Gebäuden nachgefolgt: die riesigen Gerüste, die Brücken mit ihren Schienen, ein vollständiger Zug, drei Waggons, ein ganzer Wald von geschnittenen Stangen: alles verschlungen wie Strohhalme. Man sah nur ein Wirrsaal von Balken, Ziegeln, Eisen, Mörtel. Das Loch rundete sich noch weiter aus; von den Rändern gingen Risse aus, verlängerten sich quer durch die Felder. Ein solcher Spalt reichte bis zur Schenke Rasseneurs, deren Stirnwand geborsten war. Sollte das ganze Dorf zugrunde gehen? Wie weit mußte man fliehen, um sicher zu sein an diesem Schreckensabend, unter diesem bleischweren Gewölk, das ebenfalls die Welt erdrücken zu wollen schien?
Negrel stieß einen Schmerzensschrei aus, und Herr Hennebeau, über dessen Antlitz helle Zähren liefen, wich weiter zurück. Das Unglück war noch nicht vollständig; einer der Dämme brach, und der Kanal ergoß sich plötzlich als schäumende Masse in einen der Risse. Er verschwand, stürzte hinein wie ein Wasserfall in ein tiefes Tal. Die Grube trank den Fluß; die Flut ersäufte die Galerien auf Jahre hinaus. Bald füllte sich der Krater; wo früher der Voreuxschacht gewesen, war jetzt nur schmutziges Wasser, jenen Seen gleichend, unter denen die verwunschenen Städte schlafen. Eine Stille des Entsetzens war eingetreten; man hörte nichts mehr als den Sturz dieses Wassers, das in den Eingeweiden der Erde brauste.
Jetzt erhob sich Suwarin auf dem Hügel, der gleichfalls gewankt hatte. Er hatte Frau Maheu und Zacharias erkannt, die schluchzend vor diesem Einsturz standen, unter sich die Unglücklichen, die dem Tode geweiht waren. Er warf seine letzte Zigarette weg und[507] entfernte sich – ohne einen Blick nach rückwärts – in die Nacht. Sein Schatten wurde immer kleiner und verlor sich schließlich in der Finsternis. Er ging fort, weit, weit, ins Unbekannte. Er ging mit ruhiger Miene ans Werk der Vernichtung; überallhin, wo es Dynamit gab, um Städte und Menschen in die Luft zu sprengen.
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
|
Buchempfehlung
Im Kampf um die Macht in Rom ist jedes Mittel recht: Intrige, Betrug und Inzest. Schließlich läßt Nero seine Mutter Agrippina erschlagen und ihren zuckenden Körper mit Messern durchbohren. Neben Epicharis ist Agrippina das zweite Nero-Drama Daniel Casper von Lohensteins.
142 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro