Schluss
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Neun Wochen nach der ersten Aufführung der »Zauberflöte« ist Mozart gestorben. Es beginnt seine Wirkung auf die Nachwelt, die – besonders dank der »Zauberflöte« – so außerordentlich war, daß sie sogleich Protest hervorrief. Im 18. Stück der »Berliner Musik-Zeitung« von 1793 veröffentlichte der Preußische Hofkapellmeister Johann Friedrich Reichardt einen kleinen Artikel über das Thema: »Mode-Komponisten«, in dem es unter anderm heißt: »Zu welchen Ungerechtigkeiten« (zum Beispiel gegen Johann Friedrich Reichardt) »kann also nicht das Verteidigen der Mode in der Musik verleiten! Mozart zum Beispiel gebührt Verehrung, allerdings; er war ein großes Genie und hat mitunter vortreffliche Sachen geschrieben, siehe seine ›Zauberflöte‹, einige seiner Ouvertüren und Quartetts. Aber das Gemozarte hat jetzt schier kein Ende ...« Was den verdrossenen oder scheelsüchtigen Mann nicht hinderte, in seinem Singspiel nach Shakespeares »Sturm«, »Die Geisterinsel«, selber so viel wie möglich zu »mozarten«. Aber um Norddeutschland kein Unrecht zu tun, sei auch das Urteil des württembergischen Hofmusikus Johann Baptist Schaul wiedergegeben, der in seinen »Briefen über den Geschmack in der Musik« (1809 und noch 1818) von Mozarts Werken sagte, »sie enthielten Gutes, Mittelmäßiges, Schlechtes und ganz Schlechtes, weshalb sie keines solchen Aufhebens wert sind, als seine Verehrer davon machen«; und von den Arien im besonderen, Mozart sei in ihnen niemals glücklich gewesen, und Taminos Bildnis-Arie sei ein Gassenhauer.
Solche Urteile werden allerdings im Lauf des 19. Jahrhunderts immer seltener, und nicht häufig hat ein schöpferischer
[528] Musiker noch den Mut, seiner äußersten Abneigung gegen Mozart offenen Ausdruck zu geben, wie Frederick Delius es getan hat. Obwohl es viele solcher Antimozartianer gegeben hat – was wenig aussagt über Mozart, aber immerhin einiges über den Antimozartianer.
Das Buch über Mozarts historische Wirkung, wir haben es bereits angedeutet, ist noch nicht geschrieben. Der spätere Haydn, der der Londoner Sinfonien, der beiden Oratorien, der letzten Messen ist von Mozart ebenso tief beeinflußt wie, wenn auch in andrer Art, der junge – und selbst der mittlere und späte – Beethoven; oder wie der junge Schubert. Trotz Beethoven bleiben manche Musiker der Generation nach Mozart zeitlebens Mozartianer wie Mozarts persönlicher Schüler Johann Nepomuk Hummel oder wie Louis Spohr. Der norddeutschen Frühromantik wird Mozart empfohlen durch den literarischen Bannerträger der Romantik, E.T.A. Hoffmann, der als Musiker auch in den allerromantischsten Stoffen, wie seiner Oper »Undine«, über den mozartianischen Stil nicht hinauskam. Die Romantik selber hat dann freilich alles Mögliche getan, um Mozart in ihrem Sinne zu mißdeuten, da sie ihn nicht negieren konnte: aber ein paar romantische Musiker haben es doch verstanden, etwas von Mozartscher Wesenheit ihrem Werk zu amalgamieren: Mendelssohn, der wenigstens ein Gefühl besaß für Mozarts Vollkommenheit beseelter Form; Chopin, in dessen Werk manchmal nebeneinander, manchmal verschmolzen und sublimiert Bach, Mozart und – Rossini aufleuchten; Brahms, dem Mozarts Unschuld der Empfindung und Reinheit, Durchsichtigkeit der Technik ein Ziel der ewigen Sehnsucht bleibt; bis auf Busoni, der Mozart geliebt und schöne Worte für seine Kunst gefunden hat. Dabei ist zu bedenken, daß das 19. Jahrhundert erst allmählich in den Besitz des Gesamtwerks von Mozart kam und daß manche Mozartschen Werke überhaupt erst durch die Gesamtausgabe zugänglich wurden. Der Opernkomponist Mozart übt frühere Wirkung aus als der Instrumentalkomponist; die Messen und einige andere Kirchenwerke, im katholischen Süddeutschland geliebt und verstanden, sind dem nördlichen Deutschland immer fremd geblieben. Aber auch die historische Wirkung der Opern darf man nicht generalisieren.
[529] Die italienischen Opere buffe haben keine Fortsetzung gefunden, Mozart hat sie – im geschichtlichen Sinn – umsonst in die Welt gesetzt. Deutschland konnte sie nicht fruktifizieren, und Italien hat sie kaum beachtet, trotz Rossinis Enthusiasmus, und Rossini selber am allerwenigsten. Aber die »Zauberflöte« wurde zum Ausgangspunkt der deutschen Oper, und ohne sie gäbe es vielleicht weder »Freischütz« noch »Oberon«, weder »Vampyr« noch »Hans Heiling«, und folglich auch nicht »Tannhäuser« oder »Lohengrin« und was sonst darauf gefolgt ist.
Aber Mozarts Wirkung ist überhistorisch. Jede Generation sieht in seinem Werk etwas anderes. Man kann den Vorgang vielleicht klarmachen durch das Wort des Dichters. Eduard Mörike schenkte einmal Freunden zur Hochzeit einen schlichten irdenen Topf, aber mit folgender Inschrift:
»Doch, Freunde, lacht soviel ihr wollt,
Ihr werdet Wunder noch erfahren:
Denn wißt, von heut in fünfzig Jahren
Verwandl' ich mich in pures Gold.«
Das ist es wohl. Mozarts Musik, in der so manches den Zeitgenossen »tönern« erschien, hat sich längst in Gold verwandelt, leuchtend im Licht, wenn auch von immer wechselndem Glanz für jede neue Generation. Jede Generation wäre ohne ihn ärmer um ein Unendliches. Nichts Irdisches ist von ihm übriggeblieben als ein paar elende Porträts, von denen keins dem andern gleicht; es ist wie ein Symbol, daß von seiner Totenmaske, die sein Antlitz wirklich gezeigt hätte, alle Abdrücke in Scherben gegangen sind. Es ist, als ob der Weltgeist habe zum Ausdruck bringen wollen, daß hier reiner Klang sei, geordnet zu einem schwerelosen Kosmos, Überwindung alles chaotischen Erdentums, Geist von seinem Geiste.