[51] Aufruf des Königs von Preußen und Deutschlands Erhebung. – Richard Wagners Geburt. – E. T. A. Hoffmann in Leipzig. – Geyer in Dresden und Teplitz. – Die Oktobertage: ›Napoleon ohne Hut‹. – Der Tod Friedrich Wagners. – Jean Pauls Prophezeihung.
Im Jahre 1813 schlug der sich aufraffende ›deutsche Geist‹ die große Völkerschlacht bei Leipzig. Er schlug sie für die Erhaltung seiner Fürsten, die ihn bisher meist nur kläglich verkannt und unterdrückt hatten. Staunend mußte sich der gallische Cäsar fragen, warum er jetzt die Kosaken und Kroaten, die kaiserlichen und königlichen Gardisten nicht mehr zu schlagen vermöchte?
Richard Wagner.1
Da er mich zeugt' und starb – –
(Tristan, 3. Akt.)
Auf den weiten Schneeflächen Rußlands und in dem lodernden Brande der alten Zarenstadt Moskau bereitete sich der gewaltige Umschwung der Ereignisse des Befreiungsjahres vor. Die Kunde vom Untergange der großen Armee, von dem verderblichen Rückzug über die Berezina, der heimlichen Flucht des Kaisers im Schlitten von Warschau über Dresden nach Paris, sie drang von Mund zu Munde, von Land zu Lande; überall hoben sich die Herzen der Unterdrückten. Wohl stand der Mächtige schon nach wenigen Monaten wieder an der Spitze eines Heeres von zweimalhunderttausend Mann; aber die Lage der Dinge war inzwischen eine ganz andere geworden: der Allgefürchtete galt nicht mehr für unüberwindlich. Der Aufruf des preußischen Königs ›an mein Volk‹ erfüllte Alles mit heiliger Begeisterung für den Kampf; todesmutig sammelte sich die Blüte deutscher Jugend unter die Fahnen des Lützower Korps; selbst die zurückbleibenden Greise werden als Landsturm bewaffnet.
Bereits im Februar mußte Friedrich August, während Geyer sich noch mit der Secondaschen Gesellschaft in Dresden befand, seine Residenz und sein[51] Land verlassen; eine Regierungskommission wurde eingesetzt. Vier Wochen später rückten die vereinigten Preußen und Russen unter Blücher und Wittgenstein in die Stadt ein: schmucke preußische Freiwillige und bärtige Kosaken zogen in Scharen über den Altmarkt; kaum wußten die Bewohner, ob sie es mit Freund oder Feind zu tun hätten. Nicht volle acht Tage nach der ›Bluttaufe‹ des jungen deutschen Heeres bei Möckern wurde der vierzehnjährige Albert, als Tertianer der Meißener Fürstenschule, am Sonntag den 11. April, in der Kirche zu Friedrichstadt in Dresden konfirmiert, im Beisein Geyers, der ihn um die Ostermessenzeit unter seinen Flügeln den Eltern zuführen sollte. Statt dessen gestaltete sich durch die unberechenbaren Kriegsunruhen Alles anders: es war der Gesellschaft überhaupt nicht vergönnt, ihre alljährliche Fahrt nach Leipzig anzutreten, und Geyer mußte schweren Herzens der verhofften Freude des Wiedersehens entsagen. Ein schlechter Trost für diese Entbehrung, daß der Ausfall der Leipziger Ostermesse auch noch den Abzug eines, nicht so leicht zu verschmerzenden, Gagendritteiles nach sich zog! Am 26. April hielten die verbündeten Herrscher, Friedrich Wilhelm und Kaiser Alexander, ihren Einzug in Dresden. Das Hoftheater gab abends: ›Minna von Barnhelm, oder: das Soldatenglück‹, wobei Geyer die Rolle des Wirtes ›mit aller Pfiffigkeit und Aufhorcherei in Gebärden und Mienen ausstattete‹. – Mit ungeheurer Kraftanstrengung hatte inzwischen Napoleon ein neues Heer geschaffen, und während das russische Hauptheer langsam vorrückte und Preußen noch mit der Rüstung der Landwehr beschäftigt war, machte die Lützener Schlacht ihn aufs neue zum Herrn von Sachsen. Das ›Soldatenglück‹ bewährte sich noch nicht! Ganz Europa aber richtete seine Augen erwartungsvoll auf den Boden des sächsischen Landes; hier mußte in kurzem der Entscheidungskampf sich vollziehen.
So standen die Dinge beim Aufgang der Sonne des 22. Mai, als im Brühl zu Leipzig im ›weißen und roten Löwen‹ der jüngstgeborene Sohn des Polizeiaktuarius Wagner mit seinem ersten Schrei das Licht dieser kriegerischen Welt begrüßte. Noch war der Kanonendonner der Bautzener Schlacht nicht verhallt, die an den beiden vorausgehenden Tagen (20. und 21. Mai) getobt hatte: in dem gewaltigen Ringen war Napoleon Sieger geblieben, aber er hatte an Toten und Verwundeten 25000 Mann verloren, dabei weder Gefangene gemacht noch Geschütz erbeutet. Ebensowenig hatte er verhindern können, daß sich die Verbündeten, deren Einbuße kaum halb so groß war, langsam und wohlgeordnet nach Schlesien zurückzogen. Zwar folgte er ihnen auf dem Fuße, aber alle seine Angriffe mißglückten und er erlitt neue empfindliche Verluste; so fiel am Abend des 22. Mai sein treuer Freund, der Großmarschall Duroc, von einer Kanonenkugel getroffen. Der folgende Tag war ein Sonntag; an diesem Sonntag – nachmittags um drei Uhr – zog eben, von Dresden her, auf ›abenteuerlicher Komödiantenfahrt‹, mitten durch [52] das Kriegsgetümmel, mit seiner durch einen Sturz mit dem Postwagen schwer verwundeten Frau, ein merkwürdig genialer Mann in die Tore der Stadt ein, die seit gestern die Geburtsstadt Richard Wagners geworden war: der ›Romantiker‹ E. T. A. Hoffmann. Hoffmann war soeben als Musikdirektor der Joseph Secondaschen italienischen Operngesellschaft nach Dresden berufen worden, hatte diese aber daselbst nicht angetroffen. Dieselben Störungen, welche Franz Seconda mit seinem Schauspielerpersonal in Dresden zurückhielten, waren in gleicher Weise für die mit ihr alternierende Operngesellschaft seines Bruders wirksam gewesen. Sie war in Leipzig stecken geblieben, und ihr neuer Musikdirektor mußte ihr dahin nachreisen. Am 24. früh, am Tage nach seiner Ankunft, hielt Hoffmann bereits seine erste Klavierprobe, Tags darauf die erste Orchesterprobe einer neuen Oper und war völlig als Musikdirektor des ihm fremden Theaters eingerichtet. Freilich wollte es mit der Leipziger Opernentreprise in jenen stürmischen Tagen nicht recht von der Stelle. Das Theater war leer, oft konnte überhaupt nicht gespielt werden, da plötzlich kurz vor der Theaterzeit der Generalmarsch geschlagen und die Tore gesperrt wurden.2 Unter diesen Umständen sah sich der Direktor genötigt, um die Erlaubnis einer Rückkehr nach Dresden nachzusuchen, und vier Wochen später saß Hoffmann schon wieder auf einem elenden Leiterwagen, um nach Dresden zurückzukehren.
Inzwischen hatte, nach Abschluß eines mehrwöchentlichen Waffenstillstandes, Napoleon seinen Einzug in die sächsische Residenz gehalten und im Palais des Grafen Marcolini in der Friedrichstadt Wohnung genommen. Noch einmal ward Dresden der Schauplatz größten Glanzes Neben der italienischen Oper Joseph Secondas spielten die von dem Kaiser für die Dauer der Waffenruhe hierher beorderten Akteurs des Théâtre français, unter ihnen Napoleons bevorzugter Liebling, der berühmte Talma, und die hochgefeierte Georges, – sowohl im Hoftheater, wie vor dem engeren Hofkreise auf einer improvisierten [53] Bühne in der Orangerie des Marcolinischen Palais. Die Talente der französischen Künstler mußte Friedrich August auch noch mit 1000 Dukaten Reisegeld belohnen. Da hierdurch die Kosten der theatralischen Unterhaltung der Hauptstadt sogar zwiefach bestritten waren, entschied sich Geyers Schicksal für diesen Sommer in möglichst ungünstiger Weise. Nicht nach Leipzig, nach dem noch friedlichen Teplitz nahm die Gesellschaft ihren Weg; so hatte es die höhere Vorsehung der Direktion unter Berücksichtigung der Zeitläufte beschlossen. ›Die Reise nach Leipzig hätte mich entzückt, Teplitz ist mir gleichgültig, ich möchte sagen, unangenehm‹, schreibt er unterm 6. Juni an die Freunde, ›doch die Hoffnung, die letzten Monate des Sommers in Leipzig zuzubringen, wird meinen Widerwillen bekämpfen. Noch keinen Sommer habe ich mich so nach Leipzig gesehnt, wie diesen, wo es mir nur in den Ferien gegönnt ist, an Ihren angenehmen Sommerbeschäftigungen in dem lieblichen Stötteritz teilzunehmen, – denken Sie dort zuweilen an mich, wenn ich in der Erinnerung an mein geliebtes Leipzig die Teplitzer Berge besteige‹. Der eben proklamierte Waffenstillstand lasse zwar, fährt er fort, auf einen Frieden hoffen, der aber wohl, wie gewöhnlich, so beschaffen sein werde, daß in den Friedensartikeln ein neuer Krieg beschlossen läge. ›Napoleon hat Sachsen zu einem Paradies umzuschaffen versprochen; die Aussicht ist wahrhaft vortrefflich, bis aufs Hemde sind wir beinahe ausgezogen, und die Erfüllung des Versprechens wird uns ganz in den Stand der Unschuld zurückführen‹.
In dem anmutigen, hochgelegenen Stötteritz, unweit des Thonberges, und den Hauptoperationspunkten der bevorstehenden Leipziger Schlacht nächstbenachbart, verbrachte der – noch ungetaufte! – Richard mit den Seinen die ersten Monate seines Lebens. In voller Rüstigkeit und Gesundheit beschloß hier Friedrich Wagner Mitte Juni sein dreiundvierzigstes Lebensjahr, ohne ein Vorgefühl davon, daß es sein letztes sein sollte. Geyer hatte dem Freunde einen Sommerausflug nach Teplitz vorgeschlagen, wie er ihn sonst wohl gern mit seiner Frau zu unternehmen pflegte; statt dessen erhielt Wagner bald Veranlassung, [54] seine Rückkehr nach Leipzig zu beschleunigen Napoleon war nicht der Mann müßiger Ergötzungen, am wenigsten zu so entscheidender Zeit; bereits im Juli duldete es ihn nicht mehr in Dresden: er traf zur Abhaltung einer großen Revue in Leipzig ein, wo er im Thomäschen Hause am Rathausplatz Quartier nahm, und Jungfer Jeannette demnach in ihren, zuletzt (1809) von dem Exkönig Jerôme von Westfalen bewohnten Prunkgemächern, wiederum einen hohen Gast zu logieren hatte. Auch der übrige Teil des Sommers verging unter mannigfachen Beunruhigungen und Aufregungen. Am 15. August endlich lief der Waffenstillstand ab. Für Geyer war damit das Unangenehme verknüpft, daß tags darauf auf strengen Befehl alle Fremden in Teplitz binnen achtundvierzig Stunden über die Grenze verwiesen wurden; er mußte mit der übrigen Gesellschaft Böhmen verlassen, um sich zunächst wieder auf Dresden angewiesen zu sehen. Am gleichen Tage, Montag d. 16. August, ward endlich in der Thomaskirche (durch den Diakonus Mag. Eulenstein) der durch die Zwischenfälle des Kriegsjahrs fast um ein volles Vierteljahr verspätete Taufakt vollzogen, in welchem der bis dahin trotz großer Schwächlichkeit gut entwickelte Knabe die Namen Wilhelm Richard Wagner erhielt Taufzeugen waren nach den vorliegenden Kirchenakten3: Dr. Wilhelm Wiesand, Oberhofgerichts- und Konsistorialadvokat; der Kaufmann Adolf Träger; Jgfr. Juliane Henriette Schöffelin, hinterlassene Tochter des weiland Kaufmannes Heinrich Gottlob Schöffel (nachmalige Frau Hofrätin B. in Stuttgart); wegen Krankheit derselben stand für sie: Jgfr. Johanna Henriette Luise Mohl. Dem Advokaten Dr. Wiesand übersandte fünf Jahre später Arthur Schopenhauer, nachdem er mit seinem Verleger Brockhaus zerfallen, bei seiner Abreise nach Italien, das noch ungedruckte letzte Dritteil der Handschrift von ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹, und bevollmächtigte ihn zur Empfangnahme des ausbedungenen Honorars. Das Trägersche Haus wird als ein gut befreundetes wiederholt in den Briefen Geyers und Adolf Wagners erwähnt; für Träger hatte Geyer noch während seines letzten Leipziger Aufenthaltes das Porträt des Schauspielers Christ gemalt.
Und so war denn die heilige Handlung, durch deren Verzögerung Richards Deutschtum sein Christentum um ein Vierteljahr an Priorität übertraf, bereits in den Beginn der wiederausbrechenden blutigen Kämpfe gefallen. Am 22. August verkündeten Kanonenschüsse von den Wällen den eben erfochtenen Sieg Napoleons bei Löwenberg in Schlesien. Und nur näher und näher um die Vaterstadt zog sich das laute Treiben des Krieges zusammen. Wenige Tage später gewann der Gewaltige bei Dresden seinen letzten Sieg. Preußen und Österreicher zogen sich mit Gefahr nach Teplitz zurück, welches Geyer soeben mit seiner Truppe verlassen. Gleichzeitig war an der Katzbach die Armee Macdonalds [55] von Blücher geschlagen und aufgelöst. Am 19. September feierte die Mutter ihren fünfunddreißigsten Geburtstag; der Entscheidungskampf stand nahe bevor.
Alle Vorbereitungen zum letzten Schlage waren getroffen, als am 13. Oktober der König in Leipzig eintraf und im Thomäschen Hause abstieg. Die Verbündeten nahmen rings um die Stadt Stellung; am 16. donnerten von früh acht Uhr über tausend Kanonen gegeneinander, in der Stadt zersprangen die Fensterscheiben. Um drei Uhr nachmittags kamen Boten Napoleons mit der Siegesnachricht; alle Turmglocken wurden geläutet. Der nächste Tag, ein Sonntag, brachte Waffenruhe; die Friedensanträge des stolzen Siegers wurden nicht einmal der Antwort gewürdigt. So begann am Montag, dem 18. ›wiederum um acht Uhr morgens, der letzte mörderische Kampf: mitten in der Schlacht gingen die Sachsen zu den Verbündeten über; abends waren die Franzosen bis dicht unter die Tore der Stadt zurückgedrängt. Am Dienstag ward der Sturm auf die Vorstädte eröffnet, Feuerlärm setzte den Brühl in Bewegung. Um zehn Uhr verließ Napoleon die Stadt, nachdem er von Friedrich August Abschied genommen. Seine Mutter hat es dem heranwachsenden Richard oft erzählt, wie der Kaiser in Hast und barhäuptig, da ihm der Hut entfallen, den Brühl hinunter und am, weißen und roten Löwen‹ vorbeigesprengt sei, in welchem er in der Wiege gelegen.4 Mittags – Einzug der verbündeten Herrscher; aus allen Fenstern wehten ihnen weiße Tücher entgegen. Dem Könige, der durch seinen starrköpfigen Souveränitätsglauben und seine bornierte Anhänglichkeit an den fremden Gewaltherrscher sein Land ins tiefste Elend gestürzt, wurde die Gefangennahme angekündigt; in denselben Räumen des Thomäschen Hauses, die ihm soeben noch zur Wohnung gedient, nahm sogleich nach ihm der russische Fürst Repnin, als Generalgouverneur von Sachsen, bis zur Einnahme von Dresden seinen provisorischen Sitz. Keine Brust eines treuen Landeskindes, welche nicht durch das Hochgefühl des Sieges geschwellt gewesen wäre! An Richards Wiege hatte seine Mutter um das Schicksal des Vaterlandes gezagt, und jauchzte nun über dessen Rettung. Friedrich Wagner war in diesen aufregenden Tagen in voller Amtstätigkeit. Der Anblick der Stadt war schauder- und ekelerregend: die Alleen umgehauen, die Promenaden verwüstet, die Landhäuser demoliert; jeder Schritt in der äußeren Stadt stieß auf Leichname und tote Pferde. Den Anblick der Zerstörung vergegenwärtigt uns noch heute ein vielverbreiteter alter Holzschnitt der Gegend am Rannstädter Tor in jenen Oktobertagen.
Aber die verhängnisvolle Folge der Erregungen des Kampfes und des Umherliegens von Toten und Verwundeten rings um die Stadt, ja bis in ihre Straßen und Plätze hinein, blieb nicht aus. Ein epidemisches Nervensieber [56] (Lazarettyphus) griff unter den Einwohnern um sich; an ihm erkrankte, nach allen vorausgegangenen Anstrengungen, Friedrich Wagner, und ward in wenigen Tagen, am 22. November, dem Kreise der Seinen in rüstigstem Mannesalter entrafft.
Richards halbjähriger Geburtstag war der Todestag seines Vaters.
Wir haben es uns nicht erst auszumalen, wie der jähe Schlag die Mutter betroffen. Sorgen für die Erhaltung der Familie kamen dazu. Friedrich Wagners unvermutetes Hinscheiden ließ die Seinen in wenig gesicherten Verhältnissen zurück. Dafür fehlte es nicht an teilnehmenden Freunden, welche über die ersten Beschwernisse hinweghalfen. Es scheint, daß Geyer zur Bestattung des Freundes, zur Tröstung der tiefgebeugten Freundin nach Leipzig herübergeeilt sei; Vorkehrungen für die fernere Erziehung der Kinder wurden verabredet. Albert blieb auf der Meißener Schule, Rosalie wurde unter der Aufsicht Geyers von einer Dresdener Freundin erzogen, Luise der Obhut von Frau Hartwig anvertraut, unter deren mütterlicher Pflege sie bereits am 14. Dezember ihr achtes Lebensjahr in Dresden vollendete. In einem liebevollen Briefe vom 22. berichtete er der Mutter über die bevorstehende Bescherung für die beiden Dresdener Kinder und seine Vorbereitungen für das Weihnachtsfest; sie möge dem ›Kosaken‹ (Richard), den er gar zu gern, ein wenig auf dem Sofa herumkollern möchte, einen schönen Baum anzünden. Er selber lebe ›vergraben wie ein Dachs, in seiner Einsamkeit die Stube messend, und höchstens einmal zur Hartwig schleichend, um zu sehen, was seine Pflegetochter mache‹.
In demselben Leipzig aber, in welchem Johanna Wagner sorgend um Richards und seiner Geschwister Wohl sich mühte, in demselben Leipzig in der Fleischergasse im ›goldenen Herzen‹, vollendete in der Silvesternacht von 1813 zu 1814 der kürzlich dahin zurückgekehrte Hoffmann die Abschrift seines phantastisch-genialen Meisterwerkes, des Märchens ›der goldene Topf‹. Es war zum Abdruck in den ›Phantasiestücken in Callots Manier‹ bestimmt, zu denen Jean Paul bereits am 24. November, zwei Tage nach Friedrich Wagners Tode, das Vorwort und die darin enthaltene, zunächst auf Hoffmann bezügliche prophetische Stelle niedergeschrieben hatte: ›Bisher warf der Sonnengott die Dichtergabe mit der Rechten, die Tongabe mit der Linken zwei so weit auseinander stehenden Menschen zu, daß wir noch bis auf diese Stunde des Mannes harren, der eine echte Oper zugleich dichtete und setzte‹. Ein bedeutsames Wort, zu Bayreuth im Geburtsjahr des Bayreuther Meisters aufgezeichnet! Wie eine Verkündigung des guten Genius, der in allen Nöten und Bedrängnissen des kaum begonnenen Künstlerlebens, doch immer wieder darüber walten sollte, um es zu siegreichem Ende zu führen!
1 Der Anfang des Zitats aus der deutschen Rückübertragung von: The work and mission of my life.
2 Mit größter Lebendigkeit schildert uns Hoffmann diese Leipziger Tage, in denen er einmal sogar ›im Vertrauen auf seine Schnellfüßigkeit‹, ein Gefecht aus geringer Entfernung mit ansah: ›es war die Affaire, welche am 7. Juni, vormittags 9 Uhr, dicht vor den Toren von Leipzig stattfand. (Tags darauf) erklärte Herr Seconda ganz kaltblütig: er müsse das Theater schließen und wir könnten alle hingehen, wohin wir wollten. Dies traf uns alle wie ein Donnerschlag aus heiterer Luft; alle Vorstellungen, ja selbst das durch die Vermittelung unseres Komikers Keller, eines in Leipzig sehr geschätzten Mannes, von einem Kaufmann angebotene Darlehen von 1000 Rtlr. fruchteten nichts, – Seconda blieb bei seinem Vorhaben. Nun trat die Gesellschaft zusammen, und beschloß, nach möglichster Verringerung des Ausgabeetats, wenigstens 14 Tage hindurch auf eigene Rechnung zu spielen, und Herrn Seconda die Buchführung über Einnahme und Ausgabe zu überlassen. Der Leipziger Rat erlaubte dies nicht nur, sondern war so billig, die Miete des Hauses merklich herabzusetzen. Das Glück wollte uns wohl; die beiden, nichts weniger als neuen Opern: »Sargines« und »Figaro«, die aber exzellent gingen, und mit rauschendem Beifall aufgenommen wurden, konnten jede dreimal bei vollem Hause wiederholt werden. Schon präparierten wir uns auf die Fortsetzung unseres Unternehmens, und gedachten keck und kühn die »Vestalin« einzustudieren, als Herrn Seconda ganz unerwartet ein Glücksstern aufgegangen war. Durch die Vermittelung seines Bruders Franz hatte er nämlich die Erlaubnis erhalten, in Dresden auf dem Hoftheater spielen zu dürfen; nun nahm er natürlicherweise das Steuer wieder in die Hand, und wir richteten unsern Lauf am 24. Juni in neun Halbwagen gen Dresden, – eine lächerliche Reise, die mir Stoff zu der humoristischesten Erzählung geben würde. Vorzüglich war ein Hamburger Stuhlwagen, auf dem sich der Unterstab befand, mir so merkwürdig, daß ich nie versäumte, mich beim Ein- und Ausladen gegenwärtig zu finden. Nach richtiger Schätzung und Zählung befanden sich darauf: ein Theaterfriseur, zwei Theatergehilfen, fünf Mägde, neun Kinder, worunter zwei neugeborne und drei annoch säugende; ein Papagei, der unaufhörlich und sehr passend schimpfte, fünf Hunde, worunter drei abgelebte Möpse, vier Meerschweinchen, und ein Eichhorn.‹
3 Bei denen sich auch die eigenhändige ›Geburtsmeldung‹ des Vaters befindet.
4 F. Avenarius, ›R. Wagner als Kind‹ (Augsb. Allg. Zeitung 1883).
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