14.

Dem Gegenstand und der Anlage nach steht dem Mitridate am nächsten die 1772 componirte Oper Lucio Silla. Der Text war von Giovanni Gamerra gedichtet und von Metastasio revidirt1; der Inhalt ist ungefähr folgender2.

Cecilio, ein von Silla geächteter Senator, ist heimlich nach Rom zurückgekehrt um das Schicksal seiner Verlobten Giunia, der Tochter des C. Marius zu erfahren; sein Freund Cinna benachrichtigt ihn, daß Silla die Nachricht von seinem Tode habe verbreiten lassen, um die Hand der Giunia zu gewinnen; er räth ihm bei den Gräbern sie zu erwarten. Silla, nachdem er von Giunia, der er seine[287] Hand angetragen hat, mit Stolz zurückgewiesen ist, beschließt sie zu tödten. An einer dunklen Grabstätte mit Denkmälern römischer Helden erwartet Cecilio seine Verlobte. Sie tritt auf, begleitet von edlen Jungfrauen und Männern, welche auf Silla Rache herabrufen, und trauert an der Urne ihres Vaters. Als sie allein ist, zeigt sich ihr Cecilio, den sie Anfangs für einen Geist hält, dann führt die Freude des Wiedersehens zu einem Duett.

Im zweiten Act räth Aufidio, der schlechte Freund Sillas diesem, Giunia öffentlich für seine Verlobte zu erklären um die Parteien zu versöhnen, dann werde sie dem allgemeinen Wunsche nicht widerstreben können. Celia, seine Schwester, die immer zur Güte räth, bekennt ihm, ihr Zureden habe bei Giunia nichts gefruchtet; er verspricht ihr darauf sie mit Cinna, ihrem Geliebten zu verbinden. Kaum ist er abgegangen, stürzt Cecilio herein um ihn, durch ein Traumgesicht gemahnt, zu ermorden; Cinna aber räth zum Aufschub, was sich auch Cecilio gesagt sein läßt. Cinna, nun ganz mit Racheplänen beschäftigt, hört wenig auf Celia, die ihm das nahe Glück ihrer Liebe verkünden will, und sucht dann Giunia zu bereden, daß sie scheinbar nachgebe und Silla im Schlafgemach ermorde; allein sie weigert sich am Staatsoberhaupt Verrath zu begehen. Nun beschließt er selbst Silla zu tödten.

Giunia, welche dem Silla erklärt, daß sie nie ihm ihre Hand reichen werde, wird von ihm mit dem Tode bedroht; bittet aber nichts desto weniger Cecilio, der beide rächen will, ruhig zu bleiben und sich zu verbergen. Celia sucht sie vergebens durch die Schilderung ihres eigenen Glücks zur Nachgiebigkeit zu bewegen, indessen kann sie steh doch trüber Ahnungen selbst nicht erwehren.

Auf dem Capitol erklärt nun Silla, vom Volk mit [288] Zuruf empfangen, daß er sich mit Giunia vermählen werde, Aufidio spricht die Zustimmung des Volks aus, allein Giunia weigert sich und will sich erstechen, woran sie aber verhindert wird. Da stürzt Cecilio mit gezücktem Schwert herzu, wird indessen entwaffnet und Silla verkündigt ihm auf den folgenden Tag seinen Tod; Cinna, der auch mit bloßem Schwert herbeieilt, stellt steh, da er den Plan mißlungen sieht, als käme er zu Sillas Schutz. Ein Terzett zwischen Giunia, Cecilio und Silla beschließt den Act.

Im dritten Act erfährt der gefesselte Cecilio von Cinna das Nähere über den Verlauf des mißlungenen Plans und bittet diesen ihn zu rächen; Giunia erklärt ihm, sie sei entschlossen vor ihm zu sterben. Als Aufidio kommt ihn abzuholen, nimmt er von ihr Abschied.

Vor versammeltem Volk erklärt Silla, dieser Tag solle ihm Rache und seinem Herzen Ruhe geben. Giunia klagt ihn als den Mörder ihres Verlobten an und fordert das Volk zur Rache auf; Silla verzeiht ihr und dem Cecilio und vereinigt das liebende Paar. Gerührt gesteht nun Cinna seinen Anschlag auf Silla; auch ihm wird Verzeihung und die Hand der Celia. Endlich verzeiht Silla auch dem Aufidio seine schlechten Rathschläge, legt die Dictatur nieder und giebt Rom die Freiheit wieder. Dafür wird ihm im Schlußchor zugesungen


Il gran Silla, che a Roma in seno.

che per lui respira e gode,

d'ogni gloria e d'ogni lode

vincitor oggi si fà.

Sol per lui l'acerba sorte

è per me felicità,

e calpesta le ritorte

la Latina libertà.


Einem solchen Text gegenüber begreift man daß Metastasios [289] Opern hoch gehalten werden mußten. Von Charakteren und psychologischer Motivirung ist keine Rede. Silla ist eine Art von umgekehrtem Titus; die ganze Oper hindurch schwankt er zwischen Grausamkeit und Gewissensbissen und schüttet zuletzt ganz unerwartet ein Füllhorn von Großmuth aus. Auch Giunia, die noch am ehesten einem Charakter ähnlich sieht, ist ungleich und schwankend. Die Situationen aber sind alle wie darauf angelegt, daß nichts zu Stande kommt; man sieht welche Mühe es dem Dichter gemacht hat, soviel Scenen aneinander zu reihen, daß die nöthigen Arien in der herkömmlichen Abwechslung herauskommen. Und die Verse des Textes, wie weit sind sie von der Grazie und dem Wohllaut Metastasios entfernt!

Kein Wunder, wenn Mozart bei diesem Text sich an die Sänger hielt3. Von dem Unstern, welcher über der Tenorpartie waltete ist schon (S. 232f.) erzählt worden. Da man zuletzt mit einem ungeübten Sänger sich begnügen mußte, so ließ er die Partie des Silla fallen, soweit sie nicht für den Zusammenhang des Stückes nothwendig war. Die beiden Arien, welche Mozart gleich für ihn componirte, zeigen daß sie auf einen Sänger berechnet sind, dessen Stimme und Kunstfertigkeit sich nicht über das Mittelmäßige erheben; sie sind kurz gehalten, ohne alle Passagen und setzen nur einen mäßigen Umfang voraus, die stärkere Instrumentation allein verräth daß es eine erste Partie vorstellen soll. Zwei andere Arien des Silla, welche im Textbuch stehen und auf die auch in der Partitur am Schluß des Recitativs durch das Segue l'aria di[290] Silla verwiesen wird4 sind nicht vorhanden und, wie Sonnleithner ganz richtig vermuthet, gar nicht componirt worden um den Tenoristen nicht mehr als nöthig war zu beschäftigen.

Desto mehr Nachdruck ist auf die Partien der de Amicis und Rauzzinis gelegt. Giunia hat vier Arien, welche in ihrer musikalischen Behandlung auf eine große Sängerin berechnet sind. Die eigentliche Bravurarie ist im zweiten Act (n. 11): Ah se il crudel periglio del caro ben ramento. Hier sind lange Passagen, verschiedener Structur, die bis


14.

gehen, die Hauptsache, und Mozart selbst erwähnt später noch die Arie von der de Amicis als ein Muster schwieriger Bravurarien5. Ein Beispiel solcher Passagen mag hier von vielen angeführt werden


14.

[291] Trotz der Bravur kann man auch dieser Arie einen entschiedenen Charakter durchaus nicht absprechen, obwohl dieser in der ersten (n. 4)6 und dritten Arie (n. 16)7 noch bestimmter [292] ausgedrückt ist. Man wird jetzt vielleicht nicht geneigt sein, eine dramatische Charakteristik derselben anzuerkennen, und allerdings ist dieselbe weniger darauf gerichtet, die augenblickliche Situation in ihrer eigensten Individualität aufzufassen, die einzelnen Momente derselben scharf auszuprägen, sondern sie begnügt sich den Charakter und die Stimmung der handelnden Person in den wesentlichen Zügen auszudrücken. Man kann dabei an die Masken der alten Tragödie denken, welche auch den Personen des Dramas das allgemeine dauernde Gepräge ihres Charakters aufdrückten, welches für alle individuelle Ausführung der Schauspieler die Grundlage und Norm abgab. Diese allgemeinen Züge nun werden auch hier bestimmt und klar, sowohl in einzelnen Motiven als in der allgemeinen Färbung ausgesprochen; bei der Detailausführung [293] macht sich dann besonders die Rücksicht auf die Kunst des Gesanges geltend als auf diejenige, welcher die Ausführung zugewiesen ist. Es ist die Aufgabe des Sängers, wenn der Componist ihm die Mittel geboten hat um Charakteristik und Gesangkunst zu entwickeln, beides so zu leisten, daß die höhere Einheit beider gewonnen werde. Allerdings wurde grade hier auf die Individualität des darstellenden Künstlers gerechnet, der Componist wußte was diese zu leisten vermochte und arbeitete für sie. Daher erkennt man auch jetzt noch den wesentlichen Charakter in seinen Hauptzügen; die eigenthümliche Belebung, welche ein großer Künstler den auf seine Individualität berechneten Einzelnheiten zu verleihen wußte, können wir uns freilich nicht mehr bestimmt vergegenwärtigen und daher auch nicht die eigentliche Wirkung auf die Zeitgenossen. Es ist aber ein Irrthum, wenn man Bravur und Charakteristik schlechthin als Gegensätze im Vortrag betrachtet. Von bloßen Kunststücken der Kehlfertigkeit abgesehen, so kann die Coloratur an ihrem Ort und in der rechten Weise vorgetragen sehr wohl auch Leidenschaft und überhaupt Stimmung ausdrücken; allerdings ist grade dabei die Individualität des Singenden von außerordentlichem Einfluß. So ist auch in den Arien der Giunia der Charakter einer stolzen, kühnen und kräftigen Römerin bestimmt ausgesprochen; versucht man sich eine Darstellerin vorzustellen, deren Individualität die Aufgaben, welche ihr als Sängerin gestellt sind, genehm waren, so kann man leicht erkennen, daß ihr Alles, zum Theil auch im eigentlich figurirten Gesang, zu einer dramatisch bestimmt ausgeprägten Charakteristik geboten war; einzelne Zuthaten, in welchen sich ausschließlich die Sängerin zeigte, empfand man bei der damaligen Geschmacksrichtung weniger als solche. Ganz ungetrübt ist aber der dramatische Ausdruck in der letzten Arie der Giunia (n. 22):


[294] Fra i pensier più funesti di morte

veder parmi l'esangue consorte,

che con gelida mano m'addita

la fumante sanguigna ferita,

e mi dice: che tardi a morir?

Già vacillo, già manco, già moro,

e l'estinto mio sposo che adoro

ombra fida m'affretto a seguir.


Sie ist durchaus einfach gehalten, ohne alle Verzierungen, aber darum nicht weniger geeignet eine große Stimme in ihrem ganzen Umfang und Reichthum zu entfalten; der charakteristische Ausdruck derselben ist ganz vortrefflich8.

Nicht minder erkennt man in der für Rauzzini geschriebenen Partie des Cecilio die Rücksicht auf den Sänger, sowohl auf die Beschaffenheit der Stimme – sie geht in der Höhe nicht über


14.

hinaus, macht aber auch die Tiefe bis


14.

geltend – als die Art der Bildung. Er war ein sozusagen gelehrter Sänger, theoretisch gebildet und selbst Componist, und es sind ihm daher wohl absichtlich manche Schwierigkeiten im Treffen gemacht; so ist z.B. das seiner zweiten Arie (n. 9) vorhergehende Recitativ reich an fremdartigen harmonischen Wendungen und Uebergängen, die zum [295] Theil wirklich sehr hart sind; in der dritten Arie werden ihm Sprünge zugemuthet wie


14.

oder:


14.

die keine geringe Sicherheit des Einsatzes bezeugen. Die erste Arie (n. 2), welche durch ein schönes ausdrucksvolles Recitativ eingeleitet wird, ist am meisten bestimmt den Gesangskünstler ins günstige Licht zu stellen. Sie beginnt, wie die Castraten das liebten, mit einem lang ausgehaltenen Ton, und bringt nachher außer mancher anderen Gelegenheit die Stimme zu entfalten auch glänzende Passagen verschiedener Art; hat aber im Ganzen den damals üblichen Charakter ohne eigenthümlich hervortretende Erfindung. Durch Charakteristik ist die zweite Arie (n. 9) die bedeutendste, sie drückt einen stolzen und freien Sinn kräftig und lebendig aus. Die dritte (n. 14) ist wieder mehr auf den Sänger berechnet, die letzte (n. 21) aber kann man sich kaum anders als aus einer Laune desselben erklären. Cecilio im Kerker, im Begriff zum Tode geführt zu werden, wird durch die Thränen, welche Giunia um ihn vergießt, aufs äußerste gerührt und wendet sich zu ihr mit den Worten:


Pupille amate,

non lagrimate!

morir mi fate

pria di morir.

Quest' alma fida

a voi d'intorno

farà ritorno

sciolta in sospir.


Diese weichlich spielenden Worte sind von Mozart zwar sehr einfach und recht hübsch aber mit einer so zierlichen Anmuth [296] behandelt, daß sie der Situation und dem Charakter des Cecilio so wenig als möglich entsprechen, und sich, wie Sonnleithner treffend bemerkt, viel eher für eine Soubrette schicken würden. Wahrscheinlich hat der Castrat gewünscht sich auf diese weichlich zierliche Weise beim Publicum zu empfehlen.

Außer diesen Arien sind für die Hauptpersonen noch ein Duett zwischen Giunia und Celia und ein Terzett zwischen denselben und Silla geschrieben. Beides sind nicht grade hervorragend bedeutende, aber sehr wohl angelegte und geschickt ausgeführte Musikstücke. Das Duett (n. 7) besteht aus einem Andante und einem etwas zu gedehnten Allegro, in welchem die Singstimmen meistens in Terzen oder Sexten zusammengehen; doch finden sich auch schon kleine Imitationen, wie sie später fast typisch für die Structur der Duette waren; das Ganze ist sehr bequem und hat damals sicher guten Eindruck gemacht. Das Terzett (n. 18) ist gut angelegt. Jede der drei Stimmen hat ein charakteristisches Motiv, die zwar nicht verarbeitet werden, aber scharf unterschieden neben einander gestellt sind; nachher wo sie zusammenkommen, ist theils den beiden Liebenden, deren Stimmen mit einander gehen, Silla gegenübergestellt, theils geben auch hier kleine Eintritte der drei Stimmen einen lebendigen Ausdruck: kurz man gewahrt hier schon etwas von der musikalischen Architektonik, welche Mozart später so meisterhaft ausübt.

Vor allem aber verdient die ganze Scene, welche dem Schluß des ersten Acts vorangeht, ausgezeichnet zu werden; sie ist mit wahrhaft dramatischer Kraft und in großartiger Weise angelegt und durchgeführt. In einem prachtvollen Atrium, das mit den Denkmälern der Ahnen geschmückt ist, erwartet Cecilio in der Dämmerung die Ankunft der Giunia. Die wechselnden Empfindungen, welche die Betrachtung der Heldengräber und die Sehnsucht nach der Geliebten in ihm [297] erregen spricht er in einem begleiteten Recitativ aus, das wie alle der Art, welche in dieser Oper vorkommen, schön und bedeutend ist. Sie erscheint, umgeben von edlen Römern und Römerinnen, um die Geister der Helden um Beistand und Rache anzuflehen. Der Chor


Fuor di queste urne dolenti

deh n'uscite alme onorate,

e sdegnose vendicate

la Romana libertà!


ist ernst und feierlich und von der schönsten Wirkung. Gegen die gewöhnliche Art die Chöre in der Oper zu behandeln ist er voll Ausdruck und Charakter, harmonisch bedeutend, und durch selbständige Stimmführung belebt: ein ganz vortreffliches, dramatisch wirksames Musikstücke9. Giunia schließt sich ihnen mit den Worten an:


O del padre ombra diletta,

che d'intorno a me t'aggiri,

i miei pianti, i miei sospiri

deh ti movano a pietà!


in einem einfachen, sehr ausdrucksvollen Adagio, das wohl Schmerz aber ohne Weichlichkeit, und einen stolzen, kräftigen Sinn ausdrückt. Der ruhige getragene Gesang bewegt sich in der eigentlichen Sopranlage und giebt einer schönen kräftigen Stimme den erwünschtesten Spielraum sich zu entfalten. Dies Gebet erwiedert der Chor mit den Worten:


Il superbo, che di Roma

stringe i lacci in Campidoglio,

rovesciato oggi dal soglio

sia d'esempio ad ogni età!


welche kräftig und lebhaft ausgedrückt sind und, wenn gleich weniger eigenthümlich als der erste Chor, die Scene würdig [298] abschließen, die in ihrer ganzen Totalität so ernst, so wahrhaft dramatisch und musikalisch schön ist, daß man hier inne wird, wozu eineOpera seria im besten Sinne erhoben werden konnte10. – Nachdem der Chor sich entfernt hat, tritt Cecilio aus seinem Versteck hervor und nach einem kurzen Recitativ, in welchem die Liebenden einander erkennen, folgt das bereits erwähnte Duett, dessen etwas leichter Charakter ohne Zweifel auch auf die vorhergehende Scene und ihren angespannten Ernst berechnet war, um durch den Gegensatz noch entschiedener zu wirken.

Unter den zweiten Partien hat die der Celia noch am meisten selbständigen Charakter. Ihre beiden ersten Arien (n. 3 und 10) sind im Ganzen einfach und recht graziös, namentlich die zweite, während die beiden letzten (n. 15 und 19) von gewöhnlichem Zuschnitt und auch der Erfindung nach nicht bedeutend sind. Das gilt auch von den drei Arien des Cinna (n. 1. 12. 20), und von der Arie des zweiten Tenors Aufidio (n. 8); sie sind zum Theil mit Passagen versehen, um auch diesen Künstlern Gelegenheit zu geben zu zeigen, daß sie etwas gelernt haben, allein weder eine besondere Rücksichtnahme auf ihre Individualität, noch ausgeprägte Charakteristik oder Virtuosität treten in ihnen hervor11.

[299] Der Chor tritt außer der bereits besprochenen Scene noch zweimal auf, aber nicht wieder in so bedeutender Weise. Im zweiten Act wird Silla bei seinem Erscheinen auf dem Capitol mit einem Chor begrüßt (n. 17), der recht kräftig ist und durch eine rauschende Begleitung unterstützt wird, aber keine eigenthümliche Bedeutung hat. Bemerkenswerth ist es immer, wie der Chor hier wieder gegen das Ende des Acts eingeführt ist. Zwar bleibt die Ehre den Act mit dem Duett oder Terzett zu beschließen den Solosängern, denen ihr Effect nicht durch einen darauf folgenden Chor verkümmert werden durfte; der Versuch den Chor an der Handlung zu betheiligen, weist aber auf die Ausbildung des Finales hin, wozu auch im ersten Act schon ein bestimmter Ansatz gemacht wird. Im letzten Act aber macht ein rauschender Chor den Beschluß, mit welchem die Solostimmen abwechseln; der Satz ist nicht erheblich.

Die Symphonie besteht nach der üblichen Weise aus drei Sätzen (Molto Allegro C; Andante 2/4; Molto Allegro 3/8) und zielt in ihrem Charakter nicht auf irgend einen Zusammenhang mit der Oper selbst hin. Der erste Satz zeigt etwas mehr Formation, namentlich durch ein bestimmt hervortretendes zweites Motiv, aber eine Verarbeitung findet nicht Statt, der Rückgang zum ersten Thema ist sogar ziemlich ungeschickt; in einigen Wendungen zeigen sich Spuren der späteren Mozartschen Manier. Der zweite Satz hat einige bescheidene Instrumentaleffecte, [300] die damals wirksam sein mochten, der dritte ist munter und weiter nichts. Die Behandlung des Orchesters hat in der Symphonie keinen vom gewöhnlichen abweichenden Charakter; hie und da ist dies in der Oper selbst der Fall. Unwesentlicher ist es, daß die Trompeten häufiger gebraucht werden, theilweise auch die Pauken; bemerkenswerth dagegen, daß nicht selten die Blasinstrumente schon eine freiere, den Saiteninstrumenten gegenüber selbständige Bewegung erhalten haben. Ueberhaupt ist in der Begleitung das Bestreben unverkennbar, sie reicher, selbständiger und lebendiger zu gestalten. So sind namentlich der zweiten Geige vielfach lebhafte, charakteristische Begleitungsfiguren gegeben, und hie und da sind Imitationen angebracht. Indessen kommt das Alles noch nicht über Ansätze hinaus, hauptsächlich deshalb, weil die Form der Musikstücke – obgleich auch in ihrer Behandlung eine etwas größere Freiheit sich geltend macht und nicht mehr so streng das alte Arienschema befolgt wird – noch nicht auf thematische Durchführung und Verarbeitung angelegt ist, sodaß die einzelnen Motive meist ziemlich locker aneinander gereiht sind. Der Einfluß der überlieferten Form ist allen Versuchen nach freierer Gestaltung, die sich im Einzelnen wahrnehmen lassen, noch entschieden überlegen; in manchen Dingen zeigt er sich noch als mechanische Gewohnheit, wie z.B. um die Cadenz des Sängers einzuleiten fast regelmäßig dieselbe harmonische Wendung gebraucht wird12.

Fußnoten

1 In dem Textbuch, das Sonnleithner (Cäcilia XXIV S. 79ff.) benutzte, sagt der Verfasser zum Schluß desargomento: Da tali istorici fondamenti è tratta l'azione di questo dramma, la quale è per verità fra le più grandi, come ha sensatamente osservato il sempre celebre e inimitabile Sgr. Abbate Pietro Metastasio, che colla sua rara affabilità s'è degnato d'onorare il presente drammatico componimento d'una pienissima approvazione. Allorchè questa proviene dalla meditazion profonda e dalla lunga e gloriosa esperienza dell' unico maestro dell' arte, esser deve ad un giovine autore il maggior d'ogni elogio.


2 Das Personenverzeichniß lautet:


Lucio Silla, Dittatore

Giunia, figlia di Cajo Mario e promessa di Cecilio

Cecilio, Senatore proscritto

Lucio Cinna, amico di Cecilio e nemico occulto di

Lucio Silla, patrizio Romano

Celia, sorella di Lucio Silla.

Aufidio, tribuno, amico di L. Silla


Sgr. Bassano Morgnoni (Tenore).

Sgra. Anna de Amicis-Buonsolazzi (Prima Donna).

Sgr. Venanzio Rauzzini (Soprano, Primo uomo).

Sgr. Felicità Suarti (Soprano).

Sgra. Daniella Micuci (Soprano).

Sgr. Giuseppe Onofrio (Tenore).


3 Die Partitur der Oper ist in Mozarts Handschrift vollständig bei André (Verz. 35); es sind drei Theile, zusammen 610 Seiten stark. Sie enthalt außer der Ouverture 23 Nummern, darunter drei Chöre (6. 17. 23), ein Duett (7) und ein Terzett (18).


4 Da Mozart, wie wohl die Meisten, die Recitative für sich componirte, so sind die einzelnen Scenen bis dahin wo eine Arie eintritt auf besonderen Blattern geschrieben und durch das segue auf diese verwiesen. Die einzelnen Arien, Duetts u.s.f. sind ebenfalls jede gesondert geschrieben und haben zu Anfange die Stichworte des vorangehenden Recitativs. Aus diesen Blattern und Heften wurde dann die Partitur zusammengelegt. Nichts kommt häufiger vor als daß die Tonart, in welcher das Recitativ ursprünglich abschloß, nicht zu der paßt, in welcher die Arie später componirt wurde; dann ist die erforderliche Anzahl von Tacten umgeschrieben, um den jetzt nöthig gewordenen Uebergang herzustellen.


5 In dem Elogio storico di W.A. Mozart vom Conte Folchino Schizzi (Cremona 1817. p. 26ff.) wird folgende Anekdote auf die Gewähr des Abbate Cervellini erzählt, der Zeitgenosse Mozarts war (Nissen Anh. S. 73. A. M. Z. XX S. 93). Die de Amicis habe Mozart gesagt, er möge ihr seine Gedanken und Entwürfe in Betreff ihrer Arien mittheilen, sie wolle ihn dann dabei berathen und werde durch ihren Gesang schon etwaige Schwachen der Composition zu verdecken wissen. Nach kurzer Zeit sei Mozart zu ihr gekommen, habe um Entschuldigung gebeten daß er eine Arie bereits fertig gemacht habe und sie ihr gezeigt. Da sie nun bei der Durchsicht dieselbe vortrefflich gefunden und den jungen Componisten mit Lobsprüchen überhäuft habe, so habe Mozart freundlich lächelnd ihr erklärt, wenn ihr die Arie nicht gefiele, so habe er eine zweite und für den Fall daß auch diese ihr nicht genüge eine dritte in Bereitschaft; alle drei seien dann probirt und von den Musikverständigen für Meisterwerke erklärt worden. Schade, daß diese drei Bearbeitungen nicht mehr existiren! Indessen gestehe ich, daß dies nicht der einzige Grund ist, weshalb ich die Anekdote für ein erfundenes Geschichtchen halte.


6 Die Eingangsarie Delle sponde tenebrose besteht aus einem Andante ma adagio und Allegro, welche beide wiederholt werden, und an die sich ein gesteigertes Allegro 14.: anschließt; Passagen, hauptsächlich in Triolen, sind mäßig angebracht.


7 Diese Arie Parto, m'affretto, ma nel partire il cor si spezza, mi manca l'anima besteht aus einem einzigen, unaufhaltsam fortschreitenden Allegro assai. Eine bewegte Figur in der ersten Geige,


14.

von einer begleitenden in der zweiten unterstützt, ist fast constant durchgeführt; die Harmonie ist interessant und rasch wechselnd, besonders durch das unmittelbare Nebeneinandertreten von Dur und Moll wirksam; das Ganze druckt die unstät schwankende Stimmung treffend aus. Auch hier sind die Passagen, wie


14.

so sehr sie auch hervorleuchten, doch nicht das Wesentliche und eigentlich Charakteristische. Die Arie ist nur von den Saiteninstrumenten begleitet; bei der fortwährenden Bewegung in den Geigenfiguren sollte die Singstimme nicht auch noch durch Blasinstrumente gedeckt werden.


8 Sie besteht aus einem langen Adagio und einem Allegro, und steht der später üblichen Form der Arien schon sehr nahe. Auch die Behandlung des Orchesters zeichnet sich aus. Es sind Flöten, Oboen und Fagotts vereinigt und zwar sind sie als zueinandergehörig den Saiteninstrumenten selbständig gegenüber gestellt, eine Gruppirung der Instrumente, welche damals noch nicht üblich war. Auch die Weise, wie im allegro das Orchester selbständig der Singstimme gegenübertritt, – was Mozart später zur Vollendung gebracht hat – mußte beitragen dieser Arie damals eine sehr eigenthümliche Bedeutung zu geben.


9 Sonnleithner hat diesen Chor mit dem Klavierauszug in der Cäcilia mitgetheilt.


10 Sonnleithner hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Chor in seiner Haltung und selbst in der Behandlung der Singstimmen mit dem ersten Chor in Glucks Orfeo eine gewisse Verwandtschaft zeige, ohne daß aber eine bestimmte Reminiscenz irgendwie bemerklich wäre. Ob Mozart die Glucksche Oper gekannt habe und durch dieselbe angeregt worden sei, dürfte kaum zu ermitteln sein; möglich ist es, da sie 1762 in Wien aufgeführt wurde.


11 Es ist nicht ohne Interesse zu sehen, wie die Ordnung der Musikstücke ist. Goldoni erhielt die Anweisung dafür zu sorgen, che non vengano di seguito due arie patetiche, essendo inoltre necessario spartire con la medesima precauzione le arie di bravura, le arie di azione, di mezzo carattere, i minuet ed i rondò (mem. I, 28 p. 152). Mit Absicht ist es auch so eingerichtet, daß eine Arie der Secondarier immer denen der Primarier vorangeht um diesen als Folie zu dienen; auch folgen diese nicht unmittelbar auf einander, um dem Publicum Zeit zur Erholung zu lassen.


12 Das gewöhnliche, selten variirte Schema ist


14.

oder:


14.

Quelle:
Jahn, Otto: W.A. Mozart. Band 1, Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1856, S. 1.
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