29.

Wir haben, indem wir dem Entwickelungsgang unseres jungen Meisters nachgingen, die lange vielverzweigte Bahn seiner Studien mit ihm durchmessen; versuchen wir nun in einem raschen Ueberblick die Hauptzüge zusammenzufassen.

Als ein Jüngling von einundzwanzig Jahren stand er nicht allein als Virtuos auf drei Instrumenten, dem Klavier, der Orgel und der Violine den ersten Meistern seiner Zeit [617] ebenbürtig da, sondern er überbot durch seine Leistungen als Componist auf den verschiedensten Gebieten beiweitem das was er als ausübender Künstler leistete. Vergegenwärtigen wir uns daß er für das Theater in der Operia seria und buffa, für die Kirche in verschiedenen Zweigen und Richtungen, für das Concert in allen Gattungen der Instrumentalmusik für Orchester, für Blas- und Saiteninstrumente, für das Solospiel mit Erfolg thätig gewesen war, daß bereits gegen zweihundert Compositionen von dieser Thätigkeit Zeugniß ablegten, so erstaunt man über die Leichtigkeit und Fruchtbarkeit seiner Production, nicht minder über die Beharrlichkeit seines Fleißes und den Ernst seiner Studien. Nie sehen wir ihn aufs Gerathewohl zugreifen und wieder liegen lassen, vom Zufall getrieben versuchen und nachgeben ehe das Ziel erreicht ist; überall ist bewußtes Wollen, sichere Stetigkeit im Arbeiten und im Fortschreiten. Um diese glückliche Entwickelung hat ein nicht geringes Verdienst die planmäßige, von ebensoviel Ernst und Pflichttreue als Einsicht und Liebe getragene Erziehung des Vaters, die nicht allein schädliche Einflüsse von dem leicht erregbaren Sinn des Sohnes abwehrte und seine ganze Kraft auf die künstlerische Ausbildung concentrirte, sondern auch positiv ihn auf dem Wege der rechten Erkenntniß erhielt. Allein der größere Antheil fällt der wunderbaren Organisation Mozarts zu. Seine Natur war eine so echt künstlerische, daß sein ganzes inneres Leben für ihn der Keim zu musikalischer Gestaltung war, daß die Formen des musikalischen Kunstwerks für ihn die nothwendigen und natürlichen waren um seine Empfindungen auszusprechen. So sehr die außerordentliche Fähigkeit, mit welcher er sich derselben in einem Alter bemächtigt hatte, in welchem man gewöhnlich sich der Formen des Denkens mittelst der sprachlichen Darstellung zu bemeistern anfängt, [618] eine Anticipation gewöhnlichen Menschen gegenüber ist, so erscheint doch in dem Entwickelungsgange dieser so organisirten Natur nichts verfrüht, übereilt oder verschoben. Von einem unmittelbaren Gefühl geleitet nimmt er stets nur das an, was auf diesem Standpunkt seiner Natur gemäß ist, nimmt dieses ganz in sich auf und gewinnt dadurch die Festigkeit, den nächsten Schritt ebenso sicher zu thun. Wir sehen, wie er von allen Seiten her der Form Herr zu werden bestrebt ist, und wie ihm dies Schritt vor Schritt mehr und mehr gelingt. Allein von Anfang an geschieht dies nicht in der Weise daß er eine äußerliche Fertigkeit und Gewandtheit zu erreichen strebt, um sie hinterher anzuwenden, sondern er sucht nach dem nothwendigen Ausdruck für das was ihn innerlich bewegt und zu produciren zwingt. Daher auch von seinen frühesten Arbeiten an kein Widerspruch zwischen Form und Gehalt sich findet; beides in seiner Vereinigung macht das Kunstwerk und darin offenbart sich die wahrhaft künstlerische Natur, daß er von Jugend auf aus einem Mittelpunkt heraus schafft, daß aus einem Keim alle Glieder hervorwachsen, daher immer ein Ganzes entsteht, anfangs noch unbedeutend dem Wesen und der Behandlung nach, aber schon ein Ganzes, abgerundet und abgeschlossen in bestimmt ausgesprochener künstlerischer Gestalt. Im Entwickelungsgang der Völker, welche eine Kunst selbständig erzeugt und ausgebildet haben, tritt uns die Erscheinung entgegen, daß sie, bald begünstigt bald gehemmt von äußeren Verhältnissen, Jahrhunderte lang ringen und streben, bis sie in verschiedenen Ansätzen, hier stoßweise, dort in leisen, kaum merklichen Uebergängen aller Mittel und Formen der Kunstübung sich bemächtigt haben, sobald daß diese, so auch das innere geistige und gemüthliche Leben des Volks frei geworden ist und angeregt zu künstlerischen Thaten, dem Meister sich willig fügen, der mit dem geistigen und technischen [619] Erbtheil seiner Väter frei schaltend, in der Darstellung des Schönen die höchste Aufgabe der Kunst zu lösen vermag. Diesen wunderbar herrlichen Anblick der organischen Entwickelung einer begabten Künstlernatur, welche durch keine scheinbare Störung gehemmt wird, der vielmehr Alles zum Besten dient, die, indem sie abwirft was nur vorübergehenden Zwecken diente, um so kräftiger emporwächst – diesen Anblick gewährt uns der Entwickelungsgang Mozarts. Sicheren Schritts geht er vorwärts ohne je aus dem Gleichgewichte zu kommen; der Schnelligkeit, mit welcher er auffaßt was ihm zu seiner Förderung noch ist, entspricht die Sicherheit, mit welcher er es sich aneignet. So gelingt es ihm sich der äußeren Bedingungen der Kunstübung von allen Seiten her, in jeder Weise vollständig und sicher zu bemächtigen ohne seine schöpferische Kraft in ihrer eigensten Individualität zu beeinträchtigen, weil in keinem Augenblick die formale Bildung und die Ausübung der Production einander fremd oder gar feindselig geworden sind; die innere Kraft erlahmt daher nicht durch die stetige Anstrengung, sondern sie erstarkt. Mit dem Menschen wächst der Künstler; je lebendiger und je freier die Seele sich regt, um so bedeutender und großer werden die künstlerischen Formen; je tiefer die Empfindung, je mächtiger die Leidenschaft im Busen spricht, um so mehr erfüllen und beseelen sie auch das musikalische Kunstwerk.

Das ist der größte Erfolg einer künstlerischen Jugendbildung, daß sie die Mittel der Kunst in ihrem vollen Umfang dem Manne zu freier Herrschaft übergebe. Was durch Schule, durch Disciplin zu erlangen war das hatte Mozart in Salzburg errungen; er mußte heraus aus diesen engen Verhältnissen, mußte auf sich selbst stehen, und Freiheit und Selbständigkeit im Kampf bewähren: den Mann und den Künstler mußte das Leben bilden, und auf diesem Gange wollen wir jetzt unsern Meister begleiten.

Quelle:
Jahn, Otto: W.A. Mozart. Band 2, Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1856.
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