Johannes Brahms war ein echter Sohn seines Volkes, ein Nachkomme der Niedersachsen, jenes germanischen Stammes, der mit zähem Trotz an den Sitten und Gewohnheiten der Urväter hing und während der Umwälzungen des frühen Mittelalters am längsten seine Unabhängigkeit in Staats- und Glaubenssachen behauptete. Wenn die Geschlechtskunde der Familie Brahms so tief in die Vergangenheit zurückreichte wie die Wurzeln eines altadeligen Stammbaumes, so würden wir wahrscheinlich als ihren Ahnherrn einen an der Nordsee wohnenden Freibauern oder Fischer erkennen, der gewohnt war, Pflug, Netzstange und Ruder gegen Tartsche, Helm und Schwert auszutauschen, um Gut und Blut für den Glauben und die Freiheit seines Volkes einzusetzen. Auf dem welligen Sandboden der Düne mochte das Stammhaus derer von Brahms gelegen sein, beschattet von einem Paar vor die Tür gepflanzter Linden oder Eschen und umringt von einem Erdwall, auf dem der struppige, graugrüne, goldgelb blühende Ginster in Manneshöhe wucherte. Denn Bram (angelsächsisch brom. englisch droom) heißt in den Gegenden an der Weser- und Elbemündung, im Dithmarsischen und Holsteinischen noch heute der Besenginster, dieselbe planta genista, der das danach benannte Heldengeschlecht der Plantagenet seine Helmzier entlieh. Brahms oder auch Brahmst – die Lesart wechselt; Brahmst, wie der Name auf einem Konzertprogramm von 1849 geschrieben steht, kommt noch heute neben Brahms vor – bedeutet: Sohn des Bram, im weiteren Sinn: Heidekind. In der Familie lebte die Kunde von ihrer »vornehmen« Herkunft märchenhaft fort, und der Vater hatte in seinem Wohnzimmer unter Glas und Rahmen das »Geschlechtswappen« über dem Sofa hängen, wie es von einer hilfsbereiten genealogischen Anstalt für Geld und gute Worte hergestellt worden war. Anstatt [1] des Ginster erscheint über drei Brombeeren ein Rad im Schild und ein zweites zwischen den Flügeln des Helmes, wohl zur Erinnerung an den Urgroßvater Peter Brahms, der Tischler und Stellmacher in Brunsbüttel (Holstein) war. Der wilde Dornenstrauch, dessen Stacheln unter einem Regen goldener Blüten verschwinden, wäre ein sprechenderes Sinnbild für unseren Tondichter und sein Geschlecht gewesen.
Daß Johannes Brahms unter seinen Vorfahren nicht lauter kleine Leute, sondern auch Männer von Stand und Ansehen hatte, beweist ein 1754 zu Aurich in Ostfriesland erschienenes Buch, in welchem die »Anfangsgründe der Deich- und Wasserbaukunst« dargelegt werden. Sein Verfasser, Albert Brahms, betont in der Vorrede, er habe keineswegs die »elende« Absicht gehabt, eitlen Ruhm zu erwerben, denn dazu sei seine Feder viel zu stumpf und unzulänglich, sondern er wolle, wie dies auch der Titel bereits aussage, dem gemeinen Wesen einen Dienst leisten und zu weiterer Verbesserung »dieser so sehr nutzbaren Wissenschaft« das Seinige beitragen. Er kann sich auf ein sechsunddreißigjähriges Studium des Deichwesens berufen und auf Erfahrungen, die er bei mehr als einer unglücklichen Sturmflut erworben hat. Der in langen Perioden mit den Gelehrten seiner Zeit wetteifernde Wasserbaukenner steht zwar mit der deutschen Syntax auf gespanntem Fuße und verwechselt häufig die Kasusformen; da dies jedoch zu den sprachlichen Eigentümlichkeiten der Niederdeutschen gehört1, die für den Dativ und Akkusativ des Personalpronomens nur eine Endung haben, und Albert Brahms auf den zweihundertundachtzehn Seiten seines Quartanten sich sonst nicht übel ausdrückt, so ist eine gelehrte Linie der weitverzweigten Familie Brahms durch ihn hinlänglich erwiesen und angemessen vertreten. Der Verlagsort des Buches aber bezeichnet den Landstrich des »Hannöverschen« näher, aus welchem Peter Brahms um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nach Holstein ausgewandert ist. Der Sohn des Brunsbütteler Tischlers und Rademachers Johann (geb. 1769) zog über [2] Meldorf nach Wöhrden, übernahm dort eine mit einem Gemischtwarenladen verbundene Gastwirtschaft (»Zum neuen Krug«) und betrieb später in Heide ein ähnliches Geschäft. Sein ältester Sohn Peter Hinrich – als Erstgeborener und künftiges Oberhaupt der Familie führte er den Beinamen Höd, Hövd oder Höft, d.i. Haupt – folgte dem Vater im Gewerbe nach, das seinen Mann nährte, zumal Peter Höft Hinrich nicht bloß Bier und Branntwein ausschenkte, sondern auch auf Pfänder lieh. Als alter Mann saß er, wie Klaus Groth in seinen »Erinnerungen«2 erzählt, gelähmt hinter der Tür seines Trödelgeschäfts mitten zwischen Schränken, Stühlen, Töpfen, Kruken, Spießen, Säbeln, Flinten in einem großen Lehnstuhl und bezeichnete seinen Kunden mit einem langen Stabe die Altertümer und Pfandobjekte, von denen er sich manchmal nur schwer trennen konnte. In dem Handelsmanne hatte ein Liebhaber gesteckt.
Johann Jakob, der jüngere, dreizehn Jahre nach Peter Höft am 1. Juni 1806 in Heide zur Welt gekommene Sohn des Johann Brahms und nachmalige Vater unseres Johannes, schlug zum großen Verdrusse der Eltern gänzlich aus der Art. Er strich gern, ein Liedchen vor sich hinsummend, in der grünen Marschlandschaft umher, sah den fetten Kühen auf der Weide zu, den Bauersleuten, die ihre Raps- und Getreidefelder bebauten, blickte den weißen Wolken nach und den flinken Schwalben, die unter ihnen hinflogen, und bekümmerte sich weder um den Schenktisch noch um den Kram des Vaters, wo der Bruder bereits sich als vorausbestimmter Reichserbe zu fühlen und rühren begann. Die Natur hatte den vollen Mund des fröhlichen Tunichtguts zum Pfeifen gespitzt, und er bediente sich dieses natürlichen Musikinstrumentes mit Vorliebe; wenn er nicht sang, so pfiff er. Auch sonst hatte die gütige Allmutter nicht mit ihren Gaben an dem geborenen Musikanten gespart, sondern ihn mit einer ansehnlichen Gestalt und einem offenen, von braunen Haaren umgebenen Gesicht ausgestattet, aus dem ein dunkelgraues Augenpaar schelmisch und munter in die Welt schaute. Sein gesunder Humor, seine freundliche [3] Gelassenheit, sein gefälliges Benehmen, sein rechtlicher Sinn traten als die hauptsächlichsten Eigenschaften seines Charakters frühzeitig hervor und machten schon den Knaben überall beliebt. Auch die Eltern konnten ihm auf die Dauer nicht gram sein, so kräftig sie den »landstreicherischen« Neigungen des Sohnes entgegenzusteuern suchten. Hinter ihrem Rücken war er, mindestens einmal in jeder Woche, anstatt in die Schule, nach dem anderthalb Meilen entfernten Meldorf gegangen, wo noch ein ehrwürdiges Mitglied der einstigen Stadtpfeifergilde saß, und hatte sich heimlicherweise bei ihm auf verschiedenen Instrumenten unterrichten lassen. Allmählich lernte er Violine, Bratsche, Violoncell, Flöte und Horn wenigstens so weit spielen, daß er in einem bescheidenen Orchester eine begleitende Stimme auf jedem dieser Instrumente übernehmen konnte. Vater Johann Brahms war sehr überrascht, als er einmal, bei dem gelegentlichen Besuche eines Nachbardorfes, auf dem Tanzboden seinen Sohn die Bratsche streichen sah; er gab endlich dessen Bitten nach, entließ den wiederholt für längere Zeit von Hause Weggelaufenen und unterstützte ihn, bis er »ausgelernt« hatte. In Heide wurde der musikalische Unterricht fortgesetzt und in Wesselburen, dem Geburtsorte des Dichters Friedrich Hebbel, im Dezember 1825 vollendet. Der Lehrbrief des Vaters, den Johannes nach dessen Tode an sich nahm und als teures Andenken bewahrte, lautet wörtlich:
»Ich Theodor Müller privilegirter und bestallter Musicus zu Weslingburen in der Landschaft Norderdithmarschen attestire hiemit, daß Johann Brahmst aus Heide drei Jahre bey dem Stadt-Musicus in Heide und zwei Jahre bey mir in der Lehre gestanden, um die Instrumental-Music zu erlernen. Da sich nun erwähnter Johann Brahmst während der Lehrzeit treu, wißbegierig, fleißig und gehorsam gegen mich bezeuget hat, so erkläre ich hiemit seine Lehrjahre für überstanden und geendet, und spreche ihn deshalb frey und loß. Ich zweifle nicht, es werden nicht allein Kunstverwandte, wie auch alle andern, denen dieser offene Brief vorgezeigt wird, meinem auf Wahrheit gegründeten Zeugnisse völligen und guten Glauben beimessen, sondern auch benannten Johann Brahmst in der Hinsicht alle Unterstützung und ein geneigtes Wohlwollen zufließen lassen, es sey in oder außerhalb [4] Diensten, welches in ähnlichen Fällen zu erwiedern für schuldig erachte. Zur Urkunde dessen habe ich diesen Lehrbrief nebst erbetenen Zeugen unterschrieben und ausgehändigt. – So geschehen Weslingburen den 16. December 1826. Theodor Müller als Lehrherr.« Als Zeugen fungierten die mitunterzeichneten Pastor und Organist, Doktor und Apotheker, und die Richtigkeit der Unterschriften wurde vom Arzte des Kirchspiels bestätigt. Den Lehrbrief in der Tasche, wanderte der noch nicht Zwanzigjährige zu Anfang 1826 nach Hamburg. Trotz des ihm von Theodor Müller gespendeten Lobes mochte er Ursache haben, seinen Fertigkeiten nicht allzusehr zu vertrauen, und neben der Aussicht auf schnellen und leichten Erwerb war es wohl die Hoffnung, sich in seinem Handwerk zu vervollkommnen, was ihn in die Großstadt zog.
Als Handwerk betrachtete Johann Jakob Brahms einstweilen seine geliebte Musik, deren inneres Wesen und tiefere Bedeutung er erst später im Umgange mit Kunstwerken und Künstlern kennen lernen sollte. Da er von Hause nur mit einem kleinen Zehrpfennig und dem Nötigsten, was der augenblickliche Bedarf verlangte, ausgerüstet worden war, konnte er nicht daran denken, einen Meister zu bezahlen. Die Praxis wurde seine Lehrerin, und die Not entschied über die Wahl seines Hauptinstrumentes. Er hatte sich einige Gewandtheit auf dem Flügelhorn angeeignet, einer untergeordneten Gattung von Blasinstrumenten, die, nicht viel ausdrucksfähiger als das gewöhnliche Signalhorn der Soldaten, nur in der Harmoniemusik zur Verwendung kommt. Bei Tanzmusiken und den Ständchen, die von umherziehenden Musikanten auf der Straße und in den Höfen der Häuser zum allgemeinen Besten gegeben werden, ist das Flügelhorn seines, die Trompete überbietenden, schmetternden Klanges wegen beliebt. Am Tage waren die engen Gassen und finsteren Höfe des alten Hamburg, bei Nacht die Matrosenkneipen des Hamburgerberges, seit 1833 St. Pauli genannt, der Tummelplatz für die ersten öffentlichen Versuche des angehenden Virtuosen. Eines dieser Tanzlokale, in welchen Brahms sein Horn ertönen ließ, war das berüchtigte »Huddel di Nuddel« (vom Volksmund so aus »Hôtel de Nelson« umgebildet). Es wurde darin oben und unten, im Erdgeschoß und ersten Stock, gleichzeitig getanzt; beide Säle hatten ein so niedriges Gebälke, daß die Menschen [5] beinahe mit den Köpfen an die Decke stießen. Die Gäste waren Auflader und Matrosen, Zigarrenarbeiterinnen und Kaffeesortiererinnen. Dort in der Vorstadt hatte Brahms auch seine Schlafstelle, denn die Tore Hamburgs wurden (bis 1860) immer gleich nach Sonnenuntergang geschlossen, im Sommer nach 9, im Winter um 4 Uhr, und das Sperrgeld zu entrichten, wäre eine allzu kostspielige Ausgabe für den armen Musikanten gewesen, der seine wenigen, während der Nacht verdienten Schillinge lieber in der Nähe in Sicherheit brachte. Ein Glück für ihn war es, als er eine Stelle im Musikkorps der Bürgerwehr erhielt. Die Einrichtung einer geregelten Bürgerwehr im Gegensatz zu den früheren, zumeist aus fremden Truppen bestehenden unzuverlässigen Milizen rührte aus den letzten schrecklichen Zeiten der französischen Okkupation her und erfreute sich besonders deshalb der allgemeinen Wertschätzung, weil die Reorganisierung insgeheim gegen den Willen der feindlichen Machthaber durchgeführt worden war. Die Bürgerschützen bezogen ihre Hauptwache auf dem Gänsemarkt und nahmen zwölf Hornisten in Sold. Viel zu tun gab es dabei nicht; den Winter über wurde etwa ein halbes Dutzend »Wachen« angesagt, im Sommer fanden höchstens acht oder neun Exerzitien vor dem Tor unter freiem Himmel statt. Mit der Disziplin wurde es nicht sehr streng genommen, wie der folgende, von Augenzeugen verbürgte Vorfall beweist, der zugleich das ritterliche Gerechtigkeitsgefühl des wackeren Brahms illustriert. Er war zum Oberjäger seines Bataillons kommandiert, um Bericht zu erstatten, fand den Vorgesetzten aber gerade damit beschäftigt, sein Weib durchzuprügeln, und verabreichte ihm anstatt des pflichtschuldigen Rapports eine durchaus reglementwidrige schallende Ohrfeige3.
Für die Bläser fiel mancherlei Nebenverdienst ab von Bällen, Hochzeiten und Festtafeln der Honoratioren. Bei derartigen Gelegenheiten machte Johann Jakob Brahms Bekanntschaften, die ihm weiterhin von Nutzen sein sollten, und auch als Musiker stieg er eine Stufe höher empor. Dem Hornisten der Bürgerwehr geziemte [6] das Umherziehen in den Straßen nicht. Dagegen fühlte sich der vor der äußersten Not Geschützte ermuntert, ein zweites, wenn nicht vollkommneres, so doch sanfteres Instrument in Angriff zu nehmen. Hatte er doch manches Anerbieten, in Gesellschaften aufzuspielen, wo es weniger geräuschvoll herging als auf den Tanzböden der untersten Volksklasse, ablehnen müssen, weil die Applikatur seines Geigen- und Violoncellspieles zu wünschen übrig ließ. An zweiten Geigern und Bratschisten, die er zur Not hätte ersetzen können, war in Hamburg, wie allerwärts, kein Mangel. Kontrabassisten dagegen, zumal tüchtig ausgebildete, verläßliche, sind immer eine gesuchte Seltenheit. In kleinen, nur aus wenigen Solisten bestehenden Kapellen spielt der Kontrabaß eine noch wichtigere Rolle als im großen Orchester; er tritt mit seiner, den Takt und die Harmonie markierenden und stützenden Grundstimme kräftig hervor und muß, wo das Violoncell als entbehrlich beiseite gelassen wird, auch dieses im Streichquartett tunlichst ergänzen. Da der Kontrabassist im Orchester trotz des ersten Geigers sein nachdrückliches und entscheidendes Wort spricht, seltene Ausnahmen abgerechnet, aber niemals dazu kommt, die Melodie zu führen, so gehört von vornherein sehr viel Selbstbescheidung und Entsagung dazu, einen ebenso untergeordneten wie verantwortungsvollen Posten anzustreben. Deshalb wohl sind auch fast alle Kontrabassisten Originale, und nicht wenige unter ihnen laborieren an einem erheiternden, gelinden und harmlosen Größenwahn. Über das Mißverhältnis ihrer Stellung, das durch die Unbeholfenheit ihrer Riesengeige einen tragikomischen Anflug erhält, bringen sie sich meist mit gutem Humor hinweg. Nach allem, was uns von Vater Brahms überliefert worden ist, war er für den »Kunterbaß«, wie er sein Instrument auf gut Plattdütsch nannte, geradezu vorherbestimmt. Die in Hamburg stadtbekannten Aussprüche: »Herr Kapellmeister, dat is min Kunterbaß, da kann ick so laut up speelen as ick mag« und »Herr Kapellmeister, en reinen Ton up den Kunterbaß is en puren Taufall« mögen nun von ihm herrühren oder nicht, jedenfalls bezeichnen sie ihren Mann und seine drollige Art zu denken und zu reden. Ein Stümper aber auf dem Instrument, das ihn mit der Zeit zu verdienten Ehren bringen sollte, war er sicherlich nicht. Vielmehr zählte er schon in den Vierzigerjahren [7] zu den besten Kontrabassisten Hamburgs; aus dem Handwerker wurde allmählich ein Künstler. Mit der ihm eigenen gelassenen Geduld betrieb er unter der sachkundigen Anleitung eines Kollegen seine Studien so erfolgreich, daß er im »Englischen Tivoli« konzertieren und aushilfsweise in die Kapelle einspringen konnte, die jahraus, jahrein jeden Nachmittag von 51/2 bis 111/2 Uhr in einem der beiden Pavillons am Jungfernstieg musizierte.
Von 1810 an gab es neben dem 1799 in das Alsterbassin hineingebauten Kaffeehause noch einen Schweizerpavillon, der nach dem großen Brande von 1842 nicht wieder aufgerichtet wurde, und hier wie dort diente die Musik zur Steigerung des geselligen Vergnügens. Das ältere, vom Feuer unberührt gebliebene Gebäude, das erst vor wenigen Jahren einem anspruchsvolleren Prachtbau weichen mußte, wird jedem Besucher Hamburgs in angenehmer Erinnerung sein. Vor der letzten Erweiterung des Jungfernstiegs (wie der berühmteste städtische Spaziergang der Hamburger seinen Welt seit 1665 genannt wird) bildeten zwei Reihen schattiger Linden, die dicht am Wasser mit der Häuserfront der Straße parallel liefen, einen vielbegangenen Promenadenweg. Der am Landungsplatze der Schiffe gelegene Pavillon bot den bequemsten Beobachtungsposten für jedermann, der dem regen, unterhaltenden Verkehr auf und an der Alster seine Aufmerksamkeit zuwendete. Dort trank der nach englischer Sitte um 4 Uhr zu Mittag speisende Hamburger Kaufmann seinen Kaffee und nach dem Abendessen seinen Grog, dort lagen die Zeitungen von aller Herren Länder auf, dort gab sich die galante und elegante Jugend ihre Rendezvous, und dort war der Versammlungsort aller Fremden, die in den nahen ersten Gasthöfen der Stadt wohnten. Zu der gemütlichen, blanken Glasbude, ihren hölzernen Galerien und buntgestreiften leinenen Vordächern paßte die Kapelle, welche dort aufspielte, sehr wohl. Die Musik, die sie machte, entsprach den verschiedensten Gewohnheiten und Anforderungen der Gäste. Ließ sich ein spendabler Musikliebhaber blicken, der wohl gar ein Dacapo oder eine Extraeinlage mit einer Mark Kurant belohnte, so verdoppelten die Spieler ihren Eifer, und bei der Teilung trug schließlich jeder seine drei bis fünf Mark davon. Freilich gab es auch magere Tage, an denen nicht mehr als acht Schillinge pro[8] Mann abfielen, und sie waren zwischen Michaelis und Ostern in der Mehrheit.
Übrigens fehlte es auch sonst nicht an Umständen, die geeignet waren, den künstlerischen Ehrgeiz der Kapelle wach zu halten. Sobald sie ein neues Opern- Potpourri, einen neuen, aus Wien verschriebenen Walzer oder ein Lieblingsstück vortrugen, das gerade in der Mode war, legten die Leser ihre Zeitungsblätter weg, die Damen hörten auf mit den Kaffeetassen zu klappern, die Gespräche verstummten oder wurden im Flüstertone weitergeführt, und der enge Zuhörerkreis, der die Musikanten immer umringte, dehnte sich weiter und weiter aus. Sie waren ihrer sechs: zwei Geiger, ein Violaspieler, ein Flöten-, ein Klarinettenbläser und ein Kontrabassist, und sie wuchsen so fest zusammen, daß nur ein ganz besonders wichtiges Ereigniß, Krankheit oder Tod, sie dauernd trennen konnte. Der Abgeschiedene wurde nur von einem Musiker ersetzt, der schon zuvor als Substitut sich über seine Fähigkeiten hinlänglich ausgewiesen hatte. Denn das Sextett hielt auf den guten Ruf, den es seit Jahrzehnten genoß; es zählte ausgezeichnete Kräfte zu seinen Mitgliedern, wie v. Bernstorf (1. Violine) und Otterer (Bratsche), die später am Stadttheater als Konzertmeister und Solospieler engagiert wurden. Otterer wirkte auch in den Philharmonischen Konzerten und in Kammermusiksoireen mit, die er in Gemeinschaft mit dem »langen Meyer«, dem zweiten Geiger des Sextetts, und anderen veranstaltete. Die Arrangements von Opernmelodien, Liedern, Märschen und Tänzen, welche das Sextett brauchte, wurden von einem gewissen Mewis, der außerhalb Hamburgs wohnte, besorgt und waren durchaus nicht leicht, sondern gaben den geübten Spielern tüchtig zu tun. Da diese es sich in keiner Weise bequem machten und brauchbaren Novitäten gegenüber immer auf dem qui vive standen, so hatte sich langsam ein ansehnlicher Notenschatz für ihr Repertorium angesammelt, der zur Zeit, als Johann Jakob Brahms in die Kapelle eintrat, zweiundvierzig dicke Bände umfaßte. Seit 1831 etwa spielte er in Stellvertretung des zweiten Geigers und des Kontrabassisten Reinrad zuweilen mit, und erst 1840, als Reinrad mit Tode abging, nahm er definitiv von dem Pulte des Kontrabassisten Besitz.
[9] Seine Erfolge, so bescheiden, und seine Aussichten, so unsicher sie 1830 noch waren, verleiteten den vierundzwanzigjährigen Hornisten der Bürgerwehr zu einer Torheit, die sich in der Folge als Geniestreich erweisen sollte: er heiratete. In seinem dunkelgrünen Jägerrocke, den ein lichtgrüner, mit silbernem Eichenlaub gestickter Kragen zierte, und der Uniformmütze mit aufgesteckter grüner Feder hatte er die Aufmerksamkeit eines Mädchens erregt, das auch ihm gefiel. Öfter als nötig sprach er in dem kleinen Laden vor, den Johanna Henrika Christiane Nissen, die Tochter Peter Radeloff Nissens, mit ihrer Schwester Christina Friederika, der Frau des Abladers Diederich Philipp Detmering, in der Ulrikusstraße, unweit des Dammtorwalles, eröffnet hatte. Die Schwestern führten ein sogenanntes holländisches Warengeschäft, sie verkauften Knöpfe, Zwirn und Weißzeug, und ihre Kundschaft bestand aus Frauenzimmern, die in der Ulrikusstraße selbst wie in den benachbarten Gassen der Drehbahn und längs des Walles die Parterrewohnungen der Häuser inne hatten.
Frau Detmering, die um zwei Jahre jünger war als ihre 1789 zu Hamburg geborene Schwester, bekümmerte sich mehr um das Geschäft, während Christiane mehr für die Wirtschaft sorgte. Sie hatte die Zimmer eines oberen Stockwerkes in Ordnung zu halten, welche von den Geschwistern an einzelne Herren vermietet wurden, und sowohl für die Schwester, deren Mann und sich wie für ihre Kostgänger zu kochen. Erst nachdem ihre Hausarbeit getan war, erschien auch sie hinter dem Ladentische. Johann Jakob Brahms, den sein neuer Beruf zur Stadt und in die Nähe der Hauptwache zog, fand es sehr bequem, um billiges Geld nicht allzuweit vom Gänsemarkt und Jungfernstieg zu logieren. Er paßte den ersten Wohnungswechsel in der Ulrikusstraße 37 ab, und da er schon bei Christiane in Gunst stand, so fühlte er sich nach dem langen armseligen Umherliegen in schmutzigen Schlafstellen unter der Pflege seiner Jungfer Wirtin im eigenen sauberen Stübchen wie im Himmel. Je länger er mit den Schwestern verkehrte, desto höher stieg die Achtung, die ihm die häuslichen Tugenden Christianens einflößten. Christiane Nissen zeichnete sich nicht durch körperliche Schönheit aus. Von Kindheit an kränklich und durch ein Fußleiden zum Humpeln verurteilt, hat sie nie einen [10] festen, fröhlichen Schritt ins Leben tun können. Trotz seiner Unansehnlichkeit und scheinbaren Gebrechlichkeit aber besaß ihr Körper eine durch einen festen Charakter gestählte Widerstandskraft, die selbst durch die schwersten Magddienste in Haus und Hof nicht gebrochen werden konnte. Ihr reich bewegtes Seelenleben, das in den ihr zugänglichen Werken der Poesie schon früh willkommene Nahrung fand, spiegelte sich in ihren schönen blauen Augen wider, die einen milden Glanz unendlicher Güte über ihr ganzes Antlitz verbreiteten. Sie verfügte über ein außerordentliches Gedächtnis und eine ebenso vortreffliche schnelle und sichere Auffassung, so daß sie noch im Alter den ganzen Schiller auswendig lernte. Mit ihren harten, abgearbeiteten Händen brachte sie die feinste, zierlichste und geschmackvollste Seidenstickerei zustande und versuchte sich nicht ohne Glück in der Erfindung von Mustern für weibliche Handarbeit. Dies alles weist darauf hin, daß sie ihrem Auserwählten nicht nur an Jahren bei weitem überlegen war. Die ungehobenen und kaum beachteten Schätze ihres Gemütes sollten das reichste und köstlichste Erbteil werden, mit dem sie ihren Johannes bei seiner Geburt ausstattete.
Am 9. Juni 1830 führte Johann Jakob Brahms, nachdem er am 21. Mai das Hamburger Bürgerrecht erworben hatte, seine um siebzehn Jahre ältere Braut heim oder ließ sich vielmehr von ihr heimführen; denn das neue Paar zog von der Ulrikusstraße erst in den Bäckerbreitergang, als die Geburt einer Tochter (Elisabeth Wilhelmine Louise) den Umzug erforderte. Der junge Vater mochte die Bedürfnisse und Kosten eines eigenen Haushaltes doch unterschätzt haben; denn er zog bald wieder aus in ein noch geringeres Quartier. Die Ausgaben vermehrten sich, ohne daß die Einnahmen größer geworden wären. Auf dem Hamburgerberge hatte er mehr verdient als beim Schützenkorps und in den Lokalen des soliden, filzigen Spießbürgertums; die Gelegenheiten aber, an der Alster zu spielen, kamen wider Erwarten selten. Die Wahl der neuen Wohnung spricht nur allzu nachdrücklich für die Verschlechterung seiner Finanzen. Sie lag in einer der krümmsten, engsten und dunkelsten Gassen des anrüchigen Gängeviertels, das Gesindel aller Art in seinen lichtscheuen Spelunken beherbergte. Die »Gänge« waren ursprünglich kleine Wege, welche die Gärten [11] der alten Stadt durchschnitten, und wurden zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, da es in der Festung an Platz fehlte, mit Wohnhäusern bebaut. Daraus entstand ein labyrinthisches Gewirr und Gewinkel von schmalen Gassen und dicht aneinander gereihten, hochgiebeligen Häusern, die alle nach einem und demselben Plane, wie gesät, aus der Erde aufstiegen und zahllose winzige Läden, Kammern, Keller und Böden enthielten. Zu Schlüters Hof führte damals und führt noch heute ein Gang, noch enger als der eigentliche, etwa mannsbreite frühere »Specksgang«, hinter dessen Front, eben in jenem Hofe, das Haus steht, in welchem die Familie Brahms Küche, Stube und Alkoven bewohnte. Der windschiefe Holzriegelbau mit seinen drei »Sählen« im Unterbau und ebensovielen Stockwerken im Giebel ist typisch für die Bauart und Einrichtung dieser Massenquartiere des Elends, das immer noch einige Grade über der tiefsten Linie menschlicher Erbärmlichkeit steht, wenn es seine Gucklöcher mit weißen Gardinen und buntbemalten Porzellantöpfen schmückt und sich vor seinesgleichen den Schein zufriedener Wohlhabenheit gibt. Umsonst werden die nur durch einen Stützbalken von einander getrennten, wackeligen Fensterchen geöffnet, um Luft und Licht hereinzulassen. Gerade gegenüber reckt sich eine ebensolche Riesenarche zum dunstigen Himmel empor und raubt mit ihrem verräucherten Giebel dem Schwesterhause das bißchen Sonne, das durch den Nebel etwa zu ihm dringen könnte; vom feuchten Hofe aber breitet sich ein Schwaden widerlicher Gerüche aus, den kein reinigender Zugwind aus den geschützten Ecken fegt. Verschließbare Haustore sind nicht vorhanden. Wer sollte auch dort etwas stehlen? Zwischen zwei, bei Tage immer geöffneten Türen, die unmittelbar in das Innere der Erdgeschosse rechts und links gehen, stolpert man durch den Eingang über die ausgetretenen Stufen einer steilen, kaum einen Schritt breiten hühnersteigartigen Holztreppe zum ersten »Sahl« hinauf und tritt durch eine niedrige Tür zur Linken in die Brahmssche Wohnung ein4. Zuerst [12] in die einfenstrige Küche, die sich als solche dadurch ausweist, daß eine mit dem Schornstein durch ein Blechrohr verbundene Mauernische den Ort anzeigt, wo ein eiserner Ofen, nicht viel größer als ein Puppenherd, aufgestellt werden kann. Von dort gelangt man in das zweifenstrige Wohnzimmer, das von der holperigen Diele bis zur rissigen Decke keine sieben Schuh mißt. Daran stößt der Alkoven, die Schlafstube, welche sich den Anschein gibt, ein Fenster auf einen zweiten Hof zu besitzen. Hier in dem winzigen, dumpfen und atembeklemmenden Kämmerchen mußten, falls der Vater nicht vorzog, im Wohnzimmer zu schlafen, seit dem 7. Mai 1833 vier arme Menschenkinder ihre Nächte zubringen. An diesem Tage, einem Dienstag, hatte Frau Christiane ihren Gatten mit einem Sohne beschenkt, der am 26. Mai von Sr. Wohlehrwürden Herrn Pastor von Ahsen in der Kirche St. Michaelis getauft wurde und unter dem Beistande seines Großvaters Johann, seines Onkels Philipp Detmering und einer Katharina Margareta Stäcker den (einzigen) Namen Johannes erhielt. Die Freude des Vaters war so groß, daß er, gegen die damals herrschende Sitte, eine Geburtsanzeige in den »Wöchentlichen Nachrichten« vom 8. Mai erscheinen ließ.
Anfangs schien es nicht, als ob die Eltern Grund haben sollten, sich ihrer Kinder besonders zu freuen, und der kleine »Jehann« oder »Hannes« wie er zu Hause gerufen wurde, machte Miene, den »gesunden Knaben« der Zeitungsannonce zu verleugnen. Gleich seiner Schwester, die das Übel ihr ganzes Leben hindurch behielt, litt er bis zum Eintritt der Mannbarkeit an nervösen Kopfschmerzen, die ihn stunden- und tagelang quälten. Dafür blieb Johannes vor allen Kinderkrankheiten bewahrt. Wie er sich rühmte, ist er sein Leben lang niemals krank gewesen. Einer großen Lebensgefahr aber entrann er mit knapper Not. Auf dem Schulwege wurde der zehnjährige Knabe von einer Droschke zu Boden gestoßen und ein Rad des Wagens ging über seine Brust. Sechs Wochen dauerte es, ehe er sich von diesem Unfall wieder erholte. Johannes war ein blasses und zartes, verträumtes und verspieltes Kind, das sich im Gefühl seiner Reizbarkeit und körperlichen Schwäche scheu von dem Getümmel der Gassenbuben entfernt hielt und nur selten sein helles Sopranstimmchen in die Gesänge mischte,[13] mit denen die Kinder über den Hof und durch die Gänge des Viertels zogen. Zugeschaut und zugehört hat er ihnen desto lieber, je mehr sein Verlangen, selbst mitzutun, von dem Gefallen an den Liedern überwogen wurde, welche die Kleinen sangen. Noch heute gibt es in Hamburg kaum ein Kinderspiel ohne Gesang. »Katze und Maus,« alle Arten von Ringelreihen, ja selbst das Auszählen beim Versteckspiel werden mit Gesang begleitet, und zur Zeit der Abenddämmerung erschallen die Gassen von ein- und mehrstimmigen, rein gesungenen Kinderliedern. Dahin gehören auch alte Einrichtungen und Gebräuche, wie das Umherziehen der Kurrendeschüler und die Prozessionen, welche die Kinder mit bunten Laternen in den abnehmenden Tagen nach der Sommersonnenwende veranstalten. Die Lust und Liebe zur Musik steckt im Hamburger Volke und ergänzt sehr glücklich die Liebhaberei der bevorzugten Stände, welche die Musik als eine die Geselligkeit erhöhende und veredelnde Kunst früh schätzen lernten. Dem Vater Brahms entging es nicht, das der kleine Jehann seine bunten Bohnen und Bleisoldaten, mit denen er am liebsten spielte, im Stich ließ, sobald er den Vater üben hörte, und es erfüllte ihn mit Genugtuung, wenn das Söhnlein im Kopfe behielt und richtig wiedersang, was ihm in und außer dem Hause von Melodien zuflog. Denn daß Jehann Musiker werden sollte, war eine ausgemachte Sache. Nicht etwa wegen seiner schon in den ersten Kinderjahren bezeigten Begabung und Vorliebe für die Kunst der Töne, sondern weil es sich von selbst verstand, daß er das Geschäft des Vaters lernte. Ehrgeizige Pläne hatte der Alte weder für sich noch für den Jungen. Er wäre zufrieden gewesen, wenn Johannes einmal ein zweiter Orchestergeiger, Flötist oder Hornist geworden wäre, der sich so gut auf sein Instrument verstand wie er, und es ging ihm eigentlich gegen den Strich, als der Sohn das »unnütze« vornehme Klavier den professionellen Instrumenten, die er selbst spielte, vorzuziehen begann. Johann Jakob Brahms wäre der erste und letzte Lehrmeister seines Hannes geblieben, wenn dieser nicht einen unwiderstehlichen Hang zu dem verwünschten Klapperkasten gehabt hätte. Für ein solches kostspieliges Luxusmöbel war im Hause Brahms kein Platz. Als der Vater dem Sohne wohl oder übel bei einem Kollegen, der ein Klavier besaß, die Namen der [14] Tasten beibringen wollte, Johannes aber, zum Fenster hinausguckend, ohne auf das Klavier zu sehen, stets die richtigen Töne nannte, rief der Vater ärgerlich aus: »Junge, du rätst mich woll? Warte, ich will's dich lehren!« Der Kleine kannte die Skala längst. Er würde sie sich konstruiert haben, wenn er die Noten nicht gewußt hätte. Erfand er doch ein Notensystem, bevor er noch eine Ahnung davon hatte, daß es ein solches längst gab!
In seinem sechsten Jahre wurde Johannes in die Schule geschickt, zuerst zu einem Herrn Heinrich Friedrich Voß, dessen Anstalt am Dammtorwalle in der Nähe der Brahmsschen Wohnung lag, da die 1835 um einen zweiten Sohn (Fritz Friederich, geb. 26. März) vermehrte Familie wieder bei Detmerings in der Ulrikusstraße ihr Quartier aufgeschlagen hatte. Das Hamburger Unterrichtswesen lag noch sehr im argen. Städtische Schulen gab es vor 1870 überhaupt nicht, wohl aber Privat-Volks- und mittlere Bürgerschulen im Jahre 1838 über hundertfünfzig. Wer nicht in der Lage war, seine Kinder in eine der drei Abteilungen der teueren, auf den Gelehrtenberuf vorbereitenden Johannisschule zu schicken, hatte mit der Wahl zwischen den in marktschreierischen Anpreisungen einander überbietenden Privatschulen die Qual der Ungewißheit, ob er nicht sein Liebstes der Willkür irgend eines Schwindlers überantwortet habe. Das Schulhalten war in Hamburg oft die letzte Zuflucht für eine zweifelhafte oder verkrachte Existenz. Zwar hatten die Pastoren die Konzessionen zu verleihen und sollten auch die Oberaufsicht über das gesamte Schulwesen führen; da ihnen aber keinerlei Gesetz und Regulativ die Richtschnur für ihre Entscheidung gab, und diese selbst unkontrolierbar blieb, so konnte es vorkommen, daß Personen, die weder Kenntnisse noch Beruf zum Lehren besaßen, eine Schule gründeten, oder daß abschlägig Beschiedene dennoch ihre Tafeln aushingen, weil sie wußten, daß sie sich nötigenfalls durch Mittelspersonen noch immer konnten legalisieren lassen. Den Unterricht besorgten gelernte Eleven, die bei dem Schulhalter in die Lehre traten und von diesem ganz zunftgemäß traktiert, d.h. zu allen möglichen Boten- und Handlangerdiensten mißbraucht wurden. Der junge Lehrer lebte vom Buch in den Mund, gab heute weiter, was er gestern gelernt hatte, und war manchmal nicht älter als der Schüler.
[15] Wenn der mit Brahms befreundete Theodor Ave Lallement (in einem Brief an Hofkapellmeister Hermann Levi vom 11. Oktober 1873) aussagt, Johannes habe bis zu seinem elften Lebensjahr eine »gute Bürgerschule« und nachher, bis 1848, »eine bessere, die damals wohl beste Bürgerschule des Herrn Hoffmann« besucht, so beruht diese Mitteilung nur insofern auf Richtigkeit, als Johannes den Übergang von der einen Schulbank zur anderen allerdings als eine Wohltat empfand. Wahrscheinlich verwechselte Levis Gewährsmann den Joh. Friedrich mit dem berühmten Pädagogen Theodor Hoffmann, der allerdings die renommierteste Knabenschule bei den Kohlhöfen unterhielt und einer der Vorkämpfer der Hamburger Schulreform war, während Joh. Friedrich in der ABC- Straße – nomen et omen! – einer gewöhnlichen Elementar- und Realschulanstalt vorstand. Weder seine noch die Voßische Mittelschule wird von Rüdiger5 unter den besseren Privatschulen jener Zeit genannt. In welchem Geiste Voß seine Anstalt leitete, verrät sein Benehmen gerade dem achtjährigen Johannes gegenüber. Der Vater hatte mit dem Lehrer Rücksprache genommen und ihn gebeten, er möge nicht allzu streng mit dem zarten Kinde verfahren, das außer den Schularbeiten noch seine Musikstudien zu absolvieren habe. Der grausame Schultyrann oder einer seiner Helfershelfer aber erfüllte nicht nur die Bitte des Vaters nicht, sondern weidete sich noch an der Angst und Verlegenheit des schüchternen Knaben, den er als »das unbrauchbare Musikinstrument, aus dem nichts herauszubringen sei«, dem Gespött der Mitschüler preisgab. Mehr als einmal kam der fleißige und achtsame Johannes, dem all sein eifriges Bemühen so übel gelohnt wurde, weinend nach Hause. Jener »wüschteste Tag seines Lebens«, an dem er, wie er später einmal erwähnt, die Schule schwänzte und dafür Haue kriegte, fällt wohl in jene Zeit und mag den Wechsel der Unterrichtsanstalt veranlaßt haben. Die Kinder lernten in jenen Instituten, wo gewöhnlich alle Klassen [16] in einem Zimmer gleichzeitig abgehalten wurden, wenig und das Wenige sehr langsam. Wenn sie nur ordentlich lesen, schreiben und rechnen konnten, zur Not in der Geographie und Geschichte ihres Landes Bescheid wußten, den Lutherschen Katechismus und die gebräuchlichsten Kirchenlieder inne hatten, so schienen sie hinlänglich für das praktische Leben ausgerüstet. Nicht übel war es, daß der Religionsunterricht möglichst konfessionslos gegeben wurde, so daß auch die Juden gern daran teilnahmen und die Choräle mitsangen. Der Grund zu seiner humanen Toleranz ist bei Brahms in der Schule gelegt worden. Ebenda mag ihm aber auch seine unüberwindliche Abneigung gegen alles Ausländische, namentlich gegen das Französische, beigebracht worden sein, wenn er sie nicht an der Brust der Mutter einsog, welche die Greuel der französischen Okkupation schaudernd mit erlebt hatte. Das Andenken an die grausamsten Bußen, die schmachvollsten Demütigungen, mit welchen die fremden Gewalthaber das stolze Hamburg gestraft hatten, lebte in Wort und Bild lange fort und grub sich tief in die Seele des Knaben ein6.
Von dem französischen Sprachunterricht, den Johannes im zwölften oder dreizehnten Jahre erhielt, gibt ein Glückwunsch »dédié à mes chers parens Noël 1846 par leur fils Johannes Brahms« sicheres Zeugnis. Herr Fritz Schnack, der Stiefbruder unseres Johannes, hat den sauberen, mit eingepreßten Goldarabesken verzierten Bogen aufbewahrt. Der in Briefform abgefaßte »Wunsch« aber klingt zu deutlich an die Vorlagen einer Mustersammlung an, um über Befähigung oder Kenntnisse des Schreibers ein Urteil zuzulassen. Brahms war auch im spätern Leben keiner fremden Sprache vollkommen mächtig. Und darin liegt zum Teil seine Scheu vor dem Auslande begründet, die ihn, trotz glänzender Anerbietungen, abhielt, nach Paris, London oder Petersburg zu gehen. Zu Anfang der Achtzigerjahre übte er sich mit Ignaz Brüll in französischer Konversation. Aber diese auf gemeinsamen Ischler Spaziergängen vorgenommene Übung kam [17] über die Anfänge nicht weit hinaus, sondern bestärkte Brahms noch in seiner Abneigung vor dem nichtsnutzigen Parlieren.
Acht Jahre beschäftigte sich Johannes mit Schulgegenständen, zuletzt privatim, und beschloß seine wissenschaftliche Lehrzeit mit dem Konfirmationsunterricht. Zuvor aber war ihm ein furchtbares Erlebnis beschieden, das einen noch stärkeren Eindruck in ihm zurückließ, als was Eltern und Lehrer von den französischen Schreckenszeiten erzählten: der Hamburger Brand von 1842. Zwar freute es ihn im Augenblick, daß er an seinem Geburtstage gerade keine Schule hatte, und er sich ungestört mit seinen Geschenken, meistens Büchern, unterhalten konnte. Als aber die Polizei kam und es hieß: Schnell einpacken und ausziehen! das Haus werde nebst der ganzen Reihe am Dammtorwall eingeschossen werden, stieg so etwas wie Groll gegen eine höhere Macht im Herzen des Knaben empor. Nun änderte wohl der Wind seine Richtung, das Haus blieb stehen, und das Feuer, das schon seit zwei Tagen gewütet hatte, erlosch am 8. Mai auf dem Alsterdamm. Merkwürdigerweise jedoch widerstrebte es dem trotzigen Gerechtigkeitsgefühl des Knaben, ein Dankgebet dafür gen Himmel zu schicken oder den allgemeinen Buß- und Bettag mit zu feiern, den der Senat anordnete. Es wollte seinem geraden Sinn nicht eingehen, daß zelotische Pfaffen, die, gewohnt, aus jeder Katastrophe Kapital für ihr Geschäft zu schlagen, sich erdreisteten, das große Unglück der Vaterstadt in eine von oben her für die Sünden der Einwohner über ein neues Sodom und Gomorrha verhängte Strafe umzulügen, und er wunderte sich, daß der Allmächtige und Allgütige nicht einmal die eigenen, seinem Dienste geweihten ehrwürdigen Häuser verschont, sondern im blinden Feuereifer auch die schönen Kirchen St. Nikolai und St. Petri mit ihren stolzen, in die Wolken ragenden Türmen vernichtet haben sollte, deren Glockenspiele zu allen Stunden das Lob des Höchsten sangen. In seinen Zweifeln suchte er Trost und Belehrung in der Bibel. Fand er dort auch nicht, was er suchte, und stieß er in der Heiligen Schrift auch nur auf neue Rätsel, Widersprüche und Wirrnisse, so gewann er das herrliche Buch der Bücher doch so lieb, daß er sich nicht mehr von ihm trennen mochte, es Tag und Nacht mit herumschleppte und selbst bei Tische neben sich liegen hatte. So [18] ging er, fünfzehn Jahre alt, wohlvorbereitet und ausgerüstet, wenn auch nicht mit dem von seinem Seelsorger gewünschten unbedingten Vertrauen, zu Pfarrer Geffcken in die Christenlehre und kam insofern bei ihm an den rechten Mann, als der Katechet ein Priester von liberaler Gesinnung und reicher, historischer und hymnologischer Bildung war. Johannes Geffcken dozierte als Kandidat an verschiedenen Lehranstalten, machte Reisen durch Deutschland, die Schweiz, Italien und Sizilien, erlangte den Doktorgrad von der Universität Halle honoris causa, war Mitarbeiter an dem 1843 eingeführten neuen hamburgischen Gesangbuch und seit ebendemselben Jahre dritter Diakonus an der St. Michaeliskirche, in der Johannes Brahms getauft worden war. Dauernden Einfluß auf den Konfirmanden gewann weniger der dogmatische Teil der christlichen Heilslehre als deren künstlerische Seite. Die begründete Vorliebe, die Geffcken für die Originaltexte der durch weichliche und nüchterne Modernisierung vielfach bis zur Unkenntlichkeit entstellten guten alten, protestantischen Kirchenlieder betätigte, übertrug sich schnell auf seinen gelehrigen Schüler, dem es kein geringes Vergnügen gewährte, den schönen Choralmelodien die passenden Textworte unterlegt zu sehen.
Der wissenschaftliche, von den Hamburger Mittelschulen, eher unterdrückte als geförderte Trieb des Knaben wurde vollends zurückgehalten von seinen musikalischen Studien. Wir haben uns den musikalischen Entwicklungs- und Bildungsgang dieses Genius keineswegs als einen planmäßig angelegten, von einer höheren Einsicht geleiteten zu denken. Johann Jakob Brahms war kein Leopold Mozart; er wollte in seinem Sohne sich vor allem einen Gefährten und Nachfolger erziehen, der ihm Geld verdienen und die Nahrungssorgen erleichtern half. Darum beschäftigte er ihn auch sehr früh in den Kapellen, in welchen er selbst spielte, meist am zweiten Geigerpulte oder ausnahmsweise wohl auch ein- und das anderemal als Violoncellisten. Als Johannes dann, und zwar in unglaublich kurzer Zeit, ein firmer und fixer Klavierspieler wurde, fand weder er noch der Vater ein Arg darin, daß er seine Kunst ausmünzte, wo nur immer etwas Erkleckliches zu holen war. Das Bild, den unverdorbenen blondhaarigen, blauäugigen Jungen und Jüngling der denkbar schlechtesten Gesellschaft [19] aufspielen zu sehen, hat etwas tief Ergreifendes. Er saß vor seinem Pianino, das er zeitlebens als Übungsinstrument dem Flügel vorzog, streifte seine Umgebung kaum mit einem gleichgiltigen Blick und verlor sich, während die wohlgeübten Finger mechanisch ihre Bewegungen machten, in die blühenden Träume der romantischen Poesie, die er zufällig vor der klassischen kennen lernte. Auf dem Notenpult vor ihm lag anstatt der Tänze und Märsche, die er längst im Schlafe spielen konnte, ein Band Tieck, Hoffmann, Eichendorff, Arnim oder Brentano. Was an Taschengeld, das er sich von 1847 an auch durch Lektionen verdiente, für ihn abfiel, wanderte in die Bernhardtsche Leihbibliothek, die außer dem gewöhnlichen Lesefutter auch Gedichte und Schauspiele auf Lager hielt. Sonst floß sein Verdienst in die Kasse der Eltern. Brahms besaß neben seinem Genie das seltene Talent, seinen Tag bis auf die letzte Minute auszunützen, und hatte infolge dessen immer Zeit übrig. Was ihm der Zufall in die Hand spielte, nahm er dankbar hin, und war gewöhnlich bald darüber im klaren, ob es ihm taugte oder nicht. Wie das Glück dem Starken hilft, so beschenkt der Zufall den Fleißigen. Brahms hatte Ursache, diesem Laufburschen des Schicksals dankbar zu sein. Denn er führte ihm den Lehrer zu, der wie kaum ein anderer geeignet und würdig war, die musikalische Ausbildung des jungen Genies zu übernehmen.
Otto Friedrich Wilibald Cossel gehörte zu jenen Tantalusenkeln und Stiefkindern des Glückes, vor denen die launische Göttin ihre reichsten Gaben in schimmernder Helle ausbreitet, um sie, sobald sie zögernd danach langen, in Finsternis wieder entschwinden zu lassen. Der rasche und entschiedene Griff der echten Glückskinder ist ihnen versagt, und während diese nicht wissen und kaum darauf achten, was sie gewinnen, beklagen jene um so schmerzlicher den sicheren Verlust, je höher sie dessen Wert zu schätzen verstehen. Cossel war zum Musiker, zum Virtuosen geboren. Doch nur hinter dem Rücken einer egoistischen, musikfeindlichen Mutter durfte er in der Jugend seiner Leidenschaft frönen. Er hatte anfangs Violinspieler werden wollen, weil er das Instrument besonders liebte und die besten Finger dazu besaß, zudem die Geige leicht vor den Augen seiner Aufpasserin verbergen konnte. Ein Brustübel zwang ihn, die Violine wegzulegen. Nun [20] ließ er heimlich ein Klavier auf den Boden des elterlichen Hauses schaffen und fühlte sich dort nur sicher, wenn er die Mutter, welche für Schauspiel und Schauspieler schwärmte, zum Theater begleitet hatte. Erst mit zwanzig Jahren wurde er Schüler von Eduard Marxsen, der lange Zeit in allen die Theorie der Musik betreffenden Dingen eine allgemein anerkannte erste Autorität Hamburgs war. Geradezu ein Wunder soll die Schnelligkeit gewesen sein, mit der Cossel sich eine Technik aneignete, die jedem Virtuosen zur Zierde gereicht hätte. Aber der Konzertsaal verschloß sich dem in sich Zurückgedränkten, Scheuen und Über, bescheidenen, und er tauschte für den duftigen Lorbeerkranz des Künstlers die Dornenkrone des Lehrers ein. Wohl schwang er sich als solcher zu einer hochgeachteten Stellung auf; da er sich aber nicht auf das Geschäft und seinen Vorteil verstand, so mußte er sich mit der Anerkennung der besseren Fachgenossen begnügen und den materiellen Gewinn andern überlassen. Er säete, ohne zu ernten. Sein Acker trug anstatt der goldenen Ähren Disteln und Nesseln; streute der böse Feind nicht Unkraut unter den Weizen, so tat er es selbst. Bezeichnend für ihn ist, daß er grundsätzlich nicht mehr als einen Taler für die Stunde nahm, auch von den Reichsten nicht, die ihm gern das Dreifache gegeben hätten. Ihm war der eine Taler schon zu viel, und das Bewußtsein, mehr für seine Leistungen bezahlt zu bekommen, als diese, seiner Meinung nach, wert waren, quälte ihn. Von Mittellosen nahm er gar nichts und hatte infolge dessen eine Klientel wie ein Armenarzt.
Solche Grundsätze charakterisieren den reinen Idealisten, der kein Menschenkenner ist. Seine Warmherzigkeit trug ihm allerdings den höchsten Lohn ein, den er sich wünschen mochte: er bekam den siebenjährigen Johannes Brahms in die Lehre. Aber auch von diesem schnell erkannten, ängstlich gehegten und liebevoll gepflegten Schatz mußte sich der unglückliche, edle Mensch losreißen. Vater Brahms sagte, als er ihm den Sohn übergab: »Min Jehann soll mich so viel lehren als Sie, Herr Cossel, dann weiß hei genug. Hei will ja so gern Klavierspeeler werden.« Cossel, der sich bald von den ungewöhnlichen Anlagen des Kleinen überzeugte, zog ihn fast ganz zu sich ins Haus, nur daß Johannes daheim die Abendmahlzeiten einnahm und schlief, und es entspann sich ein [21] Verhältnis zwischen beiden wie zwischen Lehrherrn und Lehrling. In den ersten Jahren des Unterrichts wohnte Cossel ziemlich weit von der Ulrikusstraße entfernt, auf dem Steindamm in der Vorstadt St. Georg. Das von dem menschenfreundlichen Klaviermeister getroffene Abkommen empfahl sich also besonders der Zeitersparnis wegen, da Johannes nicht bloß die Schule besuchen, sondern auch auswärts üben mußte. Der Lehrer gewann seinen Schüler täglich lieber und freute sich, wenn er das Stakkato seiner dicken Holzpantinen die Treppe herauf klappen hörte. Ging Johannes als Kind auch barfuß, so sorgten doch Mutter und Schwester dafür, daß er, was die Ordentlichkeit und Sauberkeit seines Leibes und seiner Wäsche betraf, dem Elternhause keine Schande machte. Er soll von seinem achten Jahre an ein blitzblankes, flinkes Kerlchen gewesen sein, das sich körperlich und geistig aus den schwachen Anfängen der ersten Kindheit immer tüchtiger herausmachte. Die Jugend hatte sich endlich bei der in langem Dunkel schmachtenden Hinterstubenpflanze gemeldet und unter den vollen Strahlen ihrer belebenden Sonne hob sich das welke Köpfchen frisch empor. Der Gefahr, vor den Jahren zu altern, war der arme Bube glücklich entronnen. Brahms hat im Jünglingsalter seine verlorene Knabenzeit nachgeholt und auch in den Mannesjahren noch immer einen unverbrauchten Vorrat von fröhlichem Kindersinn übrig gehabt. Das Stillsitzen und die Übungen mit fünf Fingern zu acht Takten mögen dem ermunterten Jungen manchmal zuwider gewesen sein. Aber seine Lernbegierde siegte über seine Ungeduld, und der Lehrer suchte ihm den Unterricht so unterhaltend wie möglich zu machen.
Cossel zeichnete sich dadurch vor vielen seinesgleichen aus, daß er zwischen Methode und Schablone sehr wohl zu unterscheiden verstand und jeden Schüler, bis ins Detail der Technik hinein, nach seiner besonderen Anlage behandelte. Sein erstes Augenmerk war auf eine natürliche und ungezwungene Haltung gerichtet. Wie der Schüler vor dem Instrument saß, wie weit von ihm entfernt, wie hoch mit dem Oberkörper über der Klaviatur, wie er die Füße hielt, die Arme streckte und endlich die Hände gebrauchte, das wurde genau abgemessen und festgestellt, ehe es noch zur Berührung einer Taste kam. Was Cossel zu erreichen [22] sich bemühte und bei halbwegs brauchbaren und anstelligen Schülern auch immer erreichte, war die Überwindung körperlicher Hemmnisse, die einer freien Entfaltung höherer technischer Geschicklichkeiten im Wege stehen. Der Pianist sollte, wie er zu sagen pflegte, »mit den Fingern ausdrücken können, was man mit dem Herzen empfindet.« Er sollte nur das Gewöhnliche, ihm vollkommen Entsprechende zu tun scheinen, wenn er das Außerordentliche tat, durch nichts die Anstrengung verraten, die ihn seine Aufgabe etwa kostete, ja, es überhaupt dahin bringen, daß sie ihn nicht mehr anstrengte. Cossel war so wenig wie sein Meister Marxsen ein Freund jener marktschreierischen Charlatanerie der Virtuosen, die dem Publikum ihre innere Bewegung durch anderes verraten als durch den Ausdruck ihres Spieles, womit sie meist nur ihre Teilnahme- und Verständnislosigkeit zu bemänteln trachten. Leichtbewegliche Hand- und lockere Fingergelenke, von denen allein ein weicher und voller, sein abgetönter Anschlag abhängt, galten ihm mehr als die zu betäubenden Kraftäußerungen herausfordernde derbe Faust. Studienmaterial und Lehrgang entsprachen den Grundsätzen des einsichtsvollen Mannes. Die Anfangsgründe schrieb Cossel seinen Schülern selbst vor: zu weiteren Übungen wurden Czerny, Kalkbrenner, Clementi, Cramer und Hummel benutzt; den Abschluß machten die Klassiker in ihren leichteren Sonaten und Bach. Seine Lektionen begann er regelmäßig mit Fingerübungen und Etuden – Skalen wurden erst nach ziemlich weiten Fortschritten vorgenommen –, am Ende der Stunde gab es zur Ermunterung ein kleines Stück. Bald nachdem Johannes zu Cossel »in die Lehre« gekommen war, wurde sein Vater Mitglied des obenerwähnten Sextetts, und seine traurigen Verhältnisse besserten sich mit der Zeit ein wenig. Die Eltern singen an, ihren geliebten Jungen zu entbehren; der gute Cossel fand sich bereit, bei einem neuerlichen Wohnungswechsel der Familie Brahms deren altes Quartier in der Ulrikusstraße zu übernehmen, so daß Johannes zu den Seinigen, die jetzt in nächster Nähe am Dammtorwall wohnten, zurückkehren konnte.
Aus dieser Zeit datiert das erste schriftliche Denkmal, das wir von Johannes Brahms besitzen. Es ist ein auf einen Quartbogen geschriebener Neujahrsbrief an seinen »geliebten Lehrer« und [23] lautet: »Abermal ist ein Jahr dahin und ich erinnere mich daran, daß Sie mich auch in dem verflossenen Jahre soweit in der Musik gebracht haben. Wie vielen Dank bin ich Ihnen dafür schuldig! Zwar muß ich auch daran denken, daß ich wohl zuweilen Ihren Wünschen nicht folgte, indem ich nicht so übte, wie ich sollte. Ich verspreche Ihnen aber, in diesem Jahre durch Fleiß und Aufmerksamkeit Ihren Wünschen nachzukommen. Indem ich Ihnen auch recht viel Glück zum neuen Jahre wünsche, verbleibe ich Ihr gehorsamer Schüler J. Brahms. Hamburg, den 1. Jan. 42.«7 Der Brief zeigt eine ungeübte, aber kräftige Knabenhand in der spitzen Hamburger Schulschrift, wie sie seit dem Beginn des Jahrhunderts eingeführt worden war, und verrät in keinem Zuge den ausgebildeten Charakter der eigentümlichen Brahmsschen Schrift, die ihren Mann bis zum letzten flüchtigen Komma und Punkt kenntlich macht. In der Gesinnung gegen seinen geliebten Lehrer (Cossel starb 1866) ist sich Brahms sein Leben lang treu geblieben. Er empfahl später schriftlich einer angesehenen Dame Herrn Cossel als »ganz vorzüglichen« Lehrer, mit dem Bemerken, daß er den Eltern Glück wünsche, die einen ebenso guten wie gewissenhaften Lehrer für ihre Kinder bekämen, und kurz vor seinem Tode noch wiederholte er (in einem an Frau Dr. Marie Janssen, Cossels älteste Tochter, gerichteten Briefe), daß das Andenken an den »teuren Unvergeßlichen« ihm eins der »wertesten und heiligsten« seines Lebens sei.
Es konnte nicht fehlen, daß das frühreife, fertige Klavierspiel des Knaben überall Aufsehen erregte, wo der Vater ihn bei Verwandten und Kollegen hören ließ, und der im Bekanntenkreise der Familie geflissentlich genährte Wunsch, Johannes möge sich öffentlich produzieren, wurde schließlich so ungestüm, daß ihm Cossel wider seinen Willen nachgeben mußte. Da das materielle Interesse hierbei nicht zuletzt in Frage kam, wurde (1843) mit Ausschluß des großen Publikums eine Art von Subskriptionskonzert veranstaltet, bei welchem Johannes eine Etude von Herz als Bravourstück und im Ensemble mit dem Vater und dessen Kollegen zwei Kammermusikwerke, darunter das Bläserquintett von Beethoven op. 16, zum allgemeinen Entzücken vortrug. Das Ereignis [24] hätte für die Zukunft des zehnjährigen Brahms die übelsten Folgen gehabt, wären diese nicht von Cossel mit Selbstaufopferung verhütet worden. Ein geschäftslüsterner Unternehmer, der dem Konzert beiwohnte, überraschte Tags darauf die Eltern des glücklichen Debutanten mit dem Antrage, sie sollten ihm den Jungen abtreten für eine Tournee nach Amerika. Er stellte ihnen goldene Berge in Aussicht und versprach ihnen, da sie sich bedachten, ihren Johannes so weit und so lange übers Meer in die Ferne zu schicken, die ganze Familie nachkommen zu lassen. Darüber gerieten die guten Leute natürlicherweise ganz außer sich; es war ihnen zumute, als ob sie in der Lotterie das große Los gewonnen hätten, und alle vernünftigen Gegenvorstellungen, Ermahnungen und Warnungen Cossels fruchteten nichts. Mutter Brahms kam zu Frau Cossel und sagte: »Sehen Sie mal, Madame Cossel, wenn wir nu dahin gehen nach Amerika, und Johannes spielt nu da, dann wohnen wir im Hotelle, und ich brauche nich mehr zu kehren« (segen). Cossel bestand auf seiner Weigerung. Der Gedanke, sein köstliches Juwel in den Staub getreten, die reine Seele des ihm anvertrauten Kindes dem Verderben preisgegeben, das künstlerische Ingenium, auf welches die Welt ein begründetes Anrecht hatte, in der Knospe vernichtet zu sehen, wurde zum drohenden Gespenst, das ihn Tag und Nacht verfolgte. Zu seinem Schmerz mußte der Redliche erfahren, daß er von anderen um den Schüler beneidet wurde, daß die Neider allerlei Vorwürfe und Anschuldigungen gegen ihn erhoben, und daß die leichtgläubigen Eltern den feindlichen Einflüsterungen um so bereitwilliger Gehör schenkten, als sie die gerechten Bedenken des Lehrers für die Schrullen eines verknöcherten Pedanten hielten, der ihren Johannes anstatt zum glänzenden Virtuosen zu einem bescheidenen Musiker heranbildete, wie er selber einer war. In seiner Bedrängnis faßte Cossel den schweren, ihm tief ins Herz schneidenden Entschluß, auf seinen Schüler zu verzichten. Um jeden Preis wollte er ihn retten, und wäre es um den seines eigenen pädagogischen Rufes! Er tat so, als wäre er davon überzeugt, daß Johannes von ihm nichts mehr lernen könne, und brachte die Eltern mit vieler Mühe zuletzt dahin, daß sie sich dem Schiedsspruche einer höheren musikalischen Instanz unterwarfen. Ganz in [25] der Stille räumte er alle Hindernisse beiseite, die der Ausführung seines Planes entgegenstanden. Er bestürmte Marxsen, Johannes zum Schüler anzunehmen, und spielte auch ihm gegenüber die Rolle des unzureichenden Lehrers. »Cossel, warum wollen Sie den Jungen nicht behalten?« fragte ihn der verdutzte Marxsen. »Ich kann ihn nicht weiter bringen,« war die doppelsinnige Antwort des geängstigten, treuen Mannes. »Sie sind verrückt, Cossel!« Damit wurde Cossel abgewiesen. Aber er ließ nicht nach. Tag für Tag stand er vor Marxsens Hause, paßte seinen Ausgang ab und lag ihm in den Ohren, bis Marxsen endlich mürbe wurde und mit einem »Denn man tau!« seine Zustimmung erteilte, ehe noch die von dem Amerikaner bewilligte Bedenkzeit abgelaufen war.
So wurde Johannes Brahms der Schüler des berühmten Marxsen, erhielt aber im stillen daneben auch noch weiter bei Cossel Unterricht und durfte dessen Klavier nach wie vor zum Üben benutzen. Ob Brahms jemals etwas von dem Opfer Cossels erfahren hat? Bei der Verschlossenheit und Schamhaftigkeit seines ersten Lehrers, die viel Ähnliches mit der dem Schüler eigenen Zurückhaltung hatte, sicherlich nicht. Geahnt mag er es haben, wenn er an die verhängnisvolle Wendung seines Lebens dachte und dabei dem Bilde Cossels in die tiefliegenden dunkeln Augen, auf die fest zusammengepreßten Lippen sah, die so viel zu verschweigen hatten – vielleicht zu spät, um den Gramgebeugten mit einer ähnlichen Auszeichnung aufzurichten, wie er sie dem alten Marxsen mit der Widmung seines B-dur-Konzertes (»Seinem teuren Freunde und Lehrer«) erwies.
Eduard Marxsen, in demselben Jahre wie Johann Jakob Brahms als Sohn eines Organisten zu Nienstädten bei Altona geboren (1806 am 23. Juli), hat in seiner Jugend ähnliche Proben leidenschaftlicher Musikliebe abgelegt wie dieser und fast die gleichen Schwierigkeiten zu überwinden gehabt wie sein Schüler Cossel. Auch er war für einen anderen Beruf bestimmt – er sollte Theologie studieren – und durfte erst im neunzehnten Lebensjahre seiner Lieblingsneigung folgen, und auch er betrachtete den zwei Meilen weiten Weg, der ihn von Nienstädten nach Hamburg zu dem Komponisten und Musiklehrer Johann Heinrich Clasing und wieder nach Hause führte, als einen den Musen geweihten Spaziergang. [26] Er soll, da er seinen kränklichen Vater an der Orgel vertreten muße, in drei Jahren nicht mehr als siebzig Unterrichtsstunden genossen haben. An diese Beispiele dachte wohl Brahms, als er sich zu J.V. Widmann gegen eine Stiftung zu Gunsten armer junger Musikstudierender aussprach, indem er sagte, mit Stipendien und ähnlichen Unterstützungen ziehe man meistens eine gewisse schwächliche Mittelmäßigkeit groß, wogegen das wahre Talent sich allem Widerstand zum Trotze durchsetze. Nach des Vaters Tode ging Marxsen 1830 nach Wien, studierte bei Seyfried Theorie, absolvierte mehrere Kurse in Bocklets Pianoforteschule, kam nach anderthalb Jahren nach Hamburg zurück und ließ sich hier als Musiklehrer nieder. Zur Erhöhung seines Ansehens, das ihm sein vorzügliches Klavierspiel verschaffte, trugen seine Kompositionen das ihrige bei. Marxsen hat über hundert Werke komponiert und von diesen siebzig veröffentlicht, größtenteils in den Hamburger Musikalienhandlungen von Joh. Aug. Böhme, Meeder und Müller, Aug. Cranz. Es gibt kaum ein Gebiet der Musik, auf welchem er sich nicht versucht hätte. Auch eine Operette, mehr Singspiel als komische Oper, »Das Forsthaus,« hat er geschrieben. War es doch eine in Hamburg gehörte Oper gewesen, die über seinen Beruf entschieden hatte! Außerdem komponierte er Symphonien, Ouverturen, Männerchöre, eine große Menge von Klavierstücken mit und ohne Begleitung, für den großen Konzertsaal wie für die Kammer, und unzählige Lieder. Seine Chöre, meist patriotischen Inhalts, waren in norddeutschen Männergesangvereinen beliebt – er selbst hat in Altona eine Liedertafel gegründet – seine Klavierstücke wurden nicht bloß von seinen Schülern gespielt, seine Lieder gern in allen Zirkeln gesungen, und seine Ouverturen und Symphonien kamen in größeren Orchesterkonzerten zur Aufführung. Ein Komponistenkonzert vom 5. Februar 1845 brachte die fünfte (neueste) Symphonie von Marxsen zu Gehör. Das Konzert ist deshalb besonders bemerkenswert, weil es einige der ersten damaligen Hamburger musikalischen Größen miteinander vereinigte. Außer Marxsen, der als Hauptmatador die Reihe abschließt, waren dies: F.W. Grund, Direktor der Singakademie, Mitbegründer und langjähriger Dirigent der Philharmonischen Konzerte, C. Krebs, Kapellmeister des Stadttheaters, [27] J.F. Schwenke, Organist zu St. Nikolai, A. Herzog, Mitglied des hanseatischen Musikkorps, G.A. Groß, Direktor des Hamburger Volksgesangvereines, und Jakob Schmitt, der talentvolle jüngere Brüder und Schüler Alois Schmitts. Sie alle waren Lokalberühmtheiten, und über eine solche hat es auch Marxsen trotz seiner entschiedenen Begabung und seines großen Fleißes nicht hinausgebracht.
Nur mit einem Werke sollte er auch außerhalb Hamburgs Aufsehen machen, und gerade dieses eine trägt nicht dazu bei, die gute Meinung, die zu seinen Gunsten erregt wurde, zu kräftigen. Marxsen hat die große Violinsonate von Beethoven in A, die sogenannte Kreutzer-Sonate, in eine Orchestersymphonie umgewandelt, wobei er das im Original fehlende Scherzo durch das aus der Sonate für Hammerklavierop. 106 ersetzte. Schumann fand den Einfall »in so hohem Grade unglücklich, ja auch die Instrumentation dieses Satzes im Vergleich zu den anderen so ungeschickt und wie von einer anderen Hand herrührend, daß ein ordentlicher Beethovener darüber eher wüten als in die Heiterkeit des Leipziger Publikums einstimmen müßte«8. Seine vielen »Phantasien« für Pianoforte durfte Marxsen unbedenklich »Fantasie alla moda« nennen. Der Kuriosität halber sei die Phantasie alla moda über den Kaffee besonders hervorgehoben. Marxsen schrieb sie in demselben Jahre (1831), in welchem der junge Schumann seine Abegg-Variationen als op. 1 herausgab. Das aus den Noten CAFFEE gebildete Thema tritt schon in der Introduktion auf und regiert auch das Finale. Wertvoller als diese, dem Geschmack der Zeit leichten Tribut entrichtenden Kompositionen sind seine in neun Sammlungen erschienenen Lieder, sowie jene wenigen Stücke, in denen er den gediegenen Theoretiker hervorkehrt. Marxsens Lyrik schlägt alle Töne des Gefühls an, ohne einen tieferen Nachhall der Empfindung zu erwecken. Bei einer mittleren Temperatur fühlte seine Muse sich offenbar am wohlsten; sie hat keine kranken Kinder [28] in die Welt gesetzt, aber auch keinen Heros. In den Liedern überrascht mancher seine Zug, manche glückliche harmonische Wendung, manche gut vorbereitete Pointe, und eine wohltuende natürliche Einfachheit in der Melodiegebung nimmt für ihren Komponisten ein. Mit Herzblut aber ist keines getränkt. Auch sind die Gesänge so trocken begleitet, als hätte der Komponist das Arrangement von der Guitarre, für die es ursprünglich gesetzt scheint, auf das Klavier erst übertragen.
Von den Dichtern, die er komponierte, sind viele unbekannt, die bekannten aber gleichen in seiner Musik ihren eigenen Großvätern. Eine epochemachende Erscheinung wie Franz Schubert ging fast spurlos an ihm vorüber. Zum Beweise dafür, wie wenige sich, auch in Wien, nach dem Tode des großen Lyrikers um Schubert bekümmerten, diene die Tatsache, daß Marxsen, der doch zu Anfang der Dreißigerjahre in Wien Musik studiert hatte, weder Schuberts tragischen Liederzyklus noch dessen »Schwanengesang« zu Gesicht bekam, so daß er mit ahnungsloser Seelenruhe ebenfalls Gedichte aus Wilhelm Müllers »Winterreise« und Heinrich Heines »Lieder der Heimkehr« in Musik setzen konnte. Sehr zu ihrem Vorteil unterscheiden sich die »charakteristischen Variationen« über den Kochersberger Bauerntanz und das finnische Volkslied »Die Kantele Spielerin« von anderen Variationenwerken des Hamburger Meisters. Hier tummelt der firme Schulreiter sein Rößlein in den schwierigen Gangarten des doppelten Kontrapunkts. Bleibt auch das Ganze ein Exerzitium, ein Probe- und Musterstück des gelehrten Musikers, der das vorzüglichste Mittel seiner Kunst zum Zweck erhebt, so ist doch hier und hier allein der einflußreiche Lehrer eines Brahms zu erkennen.
Für einen solchen Schüler und die ungehinderte Entfaltung seiner Individualität war gewiß kein besserer Lehrer zu wünschen. Denn eben der Mangel an ursprünglicher Schöpferkraft, durch den der gründliche Kenner der Theorie zum Formalisten gestempelt wurde, machte ihn objektiv, und er behütete das junge bieg- und schmiegsame Ingenium davor, ein Nachahmer zu werden. Fast alle Talente der damals herrschenden Schumannschen Schule sind in dem Zauberkreise ihres Meisters festgebannt geblieben. Dadurch, daß sie die Feinheiten seines eigentümlichen Stiles zur [29] Manier vergröberten oder auch ins Spitzfindige emportrieben, wähnten sie ihr Vorbild zu erreichen oder zu überbieten, und während sie im Taumeltanze ihrer berauschenden Einbildung umherwirbelten, kamen sie nicht vom Fleck. Was der Schüler dem Meister ablernen soll, sind außer den allgemeinen Handwerksgriffen die Vorbedingungen seines Schaffens, d.h. die Kenntnisse, die er sich erworben, der Fleiß, den er auf seine Arbeiten verwendet, die Ausdauer, mit der er seinen Idealen nachstrebt, und vor allem der fromme Glaube an den endlichen Sieg der guten Sache, ohne den kein Künstler bestehen kann. Nicht das Werk, sondern der Mann sei das nachahmenswerte Beispiel! Um zu einer solchen Einsicht zu kommen, bedarf es einer Besonnenheit und Erfahrung, die von dem Jüngling schlechterdings nicht zu erwarten ist. Marxsen war deshalb ein so vorzüglicher Lehrmeister, weil er nicht allein ausgebreitete Kenntnisse besaß, sondern, möglicherweise unwillkürlich, nach jener wertvolleren Erkenntnis handelte; er wußte oder schien zu wissen, was seinem Lehrbefohlenen nützen oder schaden konnte. Geflissentlich hielt er die Erzeugnisse moderner Musiker von ihm fern, die so verführerisch und verhängnisvoll auf die unreife Jugend wirkten. Bei Marxsen hat Brahms weder von Schumann noch von Chopin etwas gesehen oder gehört, geschweige denn von Neueren, ein paar Lisztsche Transkriptionen etwa abgerechnet. Seine musikalische Unschuld ist ihm bewahrt geblieben, bis er in sich selbst gefestigt und sicher genug war, um allen möglichen Anfechtungen siegreich widerstehen zu können. Den jungen Brahms zur Schule Schumanns zählen konnten nur diejenigen, die sich vom Schein betrügen ließen oder als voreilige Systematiker das neue Talent gleich in ein bestimmtes Fach stecken mußten. Gerade weil er innerlich mit den Schumannianern wenig oder nichts gemein hatte, wurde Brahms von dem Oberhaupte der Schule mit offenen Armen empfangen. Schumann war daran gewöhnt worden, entweder ihm durchaus unsympathischen Erscheinungen zu begegnen oder solchen, die ihn an seine eigenen Unvollkommenheiten und Schwächen erinnerten, indem sie sie kopierten. Hier aber war einer wie vom Himmel herabgefallen und gab ihm den Glauben an die Zukunft der deutschen Musik wieder.
[30] Marxsen übernahm seinen Schüler nicht, um ihn zur Komposition anzuleiten, sondern um ihn zum Virtuosen auszubilden. Erst im Laufe des Unterrichts entdeckte er die schöpferischen Fähigkeiten des Knaben, die sich vorläufig nur in der Liebhaberei für selbstgeschriebene Noten und in anderen Kritzeleien ankündigten, halb tändelnden Schreibübungen, halb schwachen Bemühungen, etwas Eigenes hervorzubringen. Aus den Stimmen, die er sich vom Vater und dessen Kollegen dazu ausbat, setzte Johannes die ersten Partituren zusammen und erwarb sich mit der genaueren Kenntnis der Schlüssel die manuelle Fertigkeit, einen ordentlichen Satz zu schreiben. Das Handwerk ist und bleibt der goldene Boden der Kunst; die Hand lockt den Geist herbei, um ihm dann desto williger zu folgen. Diese kindisch und spielerisch geübte Beschäftigung des Knaben mag das Märchen in die Welt gesetzt haben, Brahms jun. habe für die Kapelle des Vaters Opern- und Tanzmusik arrangiert und sogar ein eigenes Sextett für die Abendunterhaltungen im Alsterpavillon verfaßt. Daß Cossel im Unmut einmal die Äußerung tat, es sei schade um Johannes: er könnte ein so guter Klavierspieler sein, aber er wolle das ewige »Komponieren« nicht lassen, ist möglich; aber der von Mißgünstigen in Umlauf gesetzte Ausspruch verliert seine Lächerlichkeit, wenn man an jene Kindereien denkt, derentwegen der Knabe manchmal das für ihn damals Wichtigste, sein Klavierspiel, vernachlässigte.
Über den Unterricht bei Marxsen liegen authentische Berichte des Lehrers vor. La Mara teilt einen von ihnen in ihrem zuerst 1874 in Westermanns »Illustrierten Deutschen Monatsheften« veröffentlichten Essay über Johannes Brahms mit. »Das Studium im praktischen Spiel,« schreibt Marxsen, »ging vortrefflich, und es trat immer mehr Talent zutage. Wie ich aber später auch mit dem Kompositionsunterricht einen Anfang machte, zeigte sich eine seltene Schärfe des Denkens, die mich fesselte, und so unbedeutend auch die ersten Versuche im eigenen Schaffen ausfielen, so mußte ich darin doch einen Geist erkennen, der mir die Überzeugung gab, hier schlummere ein ungewöhnliches, großes, eigenartig-tiefes Talent. Ich ließ mir deshalb keine Mühe und Arbeit verdrießen, dasselbe zu wecken und zu bilden, um dereinst für die Kunst einen Priester heranzuziehen, der in neuer Weise das Hohe, Wahre, ewig [31] Unvergängliche in der Kunst predige, und zwar durch die Tat selbst.« Zur Ergänzung dieses Berichtes diene eine noch ausführlichere Auskunft desselben Gewährsmannes, die Marxsen ein Jahr vorher (am 9. Oktober 1873) an Hermann Levi in München gelangen ließ. »Johannes,« heißt es hier, »empfing den ersten Klavierunterricht von meinem Schüler Cossel, der für die Bildung der Technik sehr befähigt war. Etwa im zehnten Jahre führte derselbe mir den Knaben zu mit der Bitte, mich seiner anzunehmen, wenn ich überhaupt das Talent der Beachtung wert halten sollte«. Der bescheidene Junge gefiel mir sehr wohl, und versprach ich, vorderhand wöchentlich ihm eine Stunde zu erteilen, mit der Bedingung, den Unterricht bei Cossel in gewohnter Weise fortzusetzen. Im Verlauf eines Jahres waren die Fortschritte aber so bedeutend, daß Cossel mir erklärte, er könne nicht mehr unterrichten, denn »der Junge kömmt mir ja schon vorbei«. (Marxsen, der von Cossels Kniff nichts merken durfte, erzählt hier nicht ganz genau.) »Somit übernahm ich die gänzliche Ausbildung. Rastloser Eifer und Fleiß weckten immer mehr mein Interesse, und die ersichtlich großen Fortschritte bestärkten meine Ansicht, daß hier ein außergewöhnliches Talent zum Heil und Segen der Kunst zu bilden sei. Gar gern widmete ich ihm daher auch ohne alle pekuniäre Entschädigung alle erforderliche Zeit. Beim Beginn des Studiums der Theorie zeigte sich ein scharf und tief denkender Geist, und dennoch wurde späterhin das eigentliche Schaffen ihm schwer und erforderte recht viele Ermutigung von meiner Seite. Auch die Formlehre machte viel zu schaffen. Nichtsdestoweniger entwickelte sich das Talent nach meiner Ansicht immer schöner und bedeutender, wenngleich vorderhand noch nichts abgeschlossenes Größere zutage gefördert ward. Bei der Nachricht von Mendelssohns Tode (1847) machte ich unter trauten Freunden schon die Äußerung nach innigster Überzeugung: ›Ein Meister der Kunst ist heimgegangen, ein größerer erblüht in Brahms.‹ – In der Folge ging's mit dem Komponieren aber auch rascher, und vieles Vortreffliche in Gesang- und Instrumentalmusik wurde geschaffen, das später im Stich erschienen ist. Im 19. Jahre ging Brahms, wie man zu sagen pflegte, in die Welt, ausgerüstet mit umfassenden, gediegenen Kenntnissen und befähigt, [32] als Pianist den höchsten Anforderungen der Virtuosität zu genügen. Das Glück stand ihm dabei zur Seite, bedeutende Künstler förderten und ebneten seinen Lebensweg, und Schumann erachtete es für geboten, seine Stimme für ihn zu erheben (Neue Zeitschrift Nr. 18, 1853). Ich muß gestehen, daß letzteres für mich eine große Freude war. Wurden damit doch meine Ansichten über dieses Talent glänzend bestätigt, mir genugtuender Lohn für die Richtung, die ich zur Weckung und Ausbildung desselben glaubte einhalten zu müssen. Brahms' Eintritt in die große Welt erregte somit allgemeine Aufmerksamkeit, und überall tauchten zahlreiche Freunde und Neider auf. Wie herrlich hat er sich nunmehr den ersteren gegenüber gerechtfertigt, und wie jämmerlichstehen letztere da!«
Dieser inhaltreiche Brief, der übersichtlichen Aufschluß über den Entwicklungsgang des Künstlers gibt, stellt Lehrer und Schüler zugleich das ehrenvollste Zeugnis aus. Was für Prachtmenschen, diese Marxsen und Cossel! Und wie bescheiden und zurückhaltend deutet der bewährte Meister der musikalischen Setzkunst auf die großen, unvergänglichen Verdienste hin, die er sich um die rechtzeitige Erkenntnis und die allein zweckmäßige Ausbildung eines der reichsten musikalischen Talente erworben hat! Seinem schlichten Sinn rief die in jedem Menschen von Gewissen lebende untrügliche innere Stimme zu, sich nicht zu überheben: er hat seine Schuldigkeit getan, nichts weiter; das seinem genialen Zögling günstige Glück und dieser selbst taten das übrige. Doch darf man bei einer gerechten Abschätzung dessen, was Marxsen geleistet hat, nicht vergessen, daß gerade die erfolgreichsten seiner pädagogischen Einwirkungen negativer Natur waren. Brahms selbst schwankte in der Beurteilung seines Lehrers, und wie er gelegentlich Marxsen als Meister pries, konnte es ihm auch widerfahren, ihn allzutief herabzusetzen. So sagte er einmal zu Gustav Wendt, der zu den wenigen gehörte, denen er sein Inneres aufschloß, als das Gespräch auf Mendelssohn kam: »Einen großen Vorzug hatte Mendelssohn vor uns voraus: die vortreffliche Schule. Was hat es mich für unendliche Mühe gekostet, das als Mann nachzuholen! Denn der Kompositionslehrer, zu dem mich mein Vater brachte, hatte zwar den besten Willen, und ich vergesse es ihm nie, daß er den schweren Geldbeutel, den der Vater zusammengespart [33] hatte, um mir Unterricht zu schaffen, zurückwies: das könne er nicht nehmen, aber ich könne viermal wöchentlich zu ihm kommen, und es werde ihm eine Freude sein, mich zu unterweisen. Ich bin auch getreulich hingegangen; gelernt aber habe ich gar nichts. Ebensowenig aus den dicken Büchern von Marx.« Durch die früher erwähnte Huldigung hat Brahms glücklicher- und gerechterweise seiner besseren Überzeugung vor der Öffentlichkeit Ausdruck gegeben. Außerdem ließ er, als Marxsen 1883 sein goldenes Jubiläum feierte, hinter seinem Rücken Marxsens »100 Variationen für Klavier über ein Volkslied« bei Simrock drucken.
Der überglückliche Komponist schrieb darüber an Emil Krause in Hamburg:
»Vor etwa zwanzig Jahren verfaßte ich das Werk als kurzen Beitrag zu der Unerschöpflichkeit der thematischen Arbeit. – Eines Tages sah mein Brahms es zufällig bei mir ein und hegte den Wunsch nach einer Abschrift, wozu ich mich aber nicht verstehen wollte, späterhin aber auf wiederholtes Drängen sandte ich ihm mein eigenhändiges Manuskript mit dem Bemerken, es außer einigen vertrauten Freunden keinem zu zeigen, aber nach meinem Tode dürfe er es als sein Eigentum betrachten und könne dann es nach Gefallen verwenden. Nun voriges Jahr an meinem Jubiläumstage ward ich überrascht mit gedruckter Korrektur und einem Schreiben von Brahms, bittend, dem Verleger Herrn Simrock den entsprechenden Titel zu senden und ihm nicht zu zürnen, daß er mein Werk schon jetzt weiteren Kreisen zugänglich gemacht habe. Diese herzerquickende Freude, die in kindlicher Liebe, Dankbarkeit und Anhänglichkeit bereitet wurde, war ein Glanzmoment an jenem Tage. Altona, Oktbr. 30. 1884.« – Noch als er auf dem Gipfel seiner Meisterschaft stand, hat Brahms das Urteil und den Rat des alten Lehrers, der ihm ein werter Freund geworden war, eingeholt, wie andererseits wieder das ehemalige Verhältnis sich umkehrte, wenn Marxsen bei seinem früheren Schüler in die Lehre ging und sich Bemängelungen und Verbesserungen von ihm gar wohl gefallen ließ. Das Manuskript eines Marxsenschen Liedes existiert noch, in welchem Bleistiftkorrekturen von Brahms nachzuweisen sind, wie auch der Inhalt [34] des Briefes9 in Abschrift aufbewahrt ist, in welchem Brahms (1867) an Marxsen schreibt: »Ich schicke Dir einige Novitäten und bitte, hast Du Zeit dazu, um ein Wort oder recht viele dafür. Weiter aber lege ich etwas aus meinem Requiem bei; hierfür bitte ich nun recht sehr um einiges Geschreibsel. Es sieht stellenweise etwas kurios aus, und vielleicht nimmst Du, um mein Manuskript zu schonen, einen Notenbogen und zeichnest mir einige nützliche Bemerkungen auf. Das wäre mir gar lieb. Das ewige D in Nr. 3! Wenn ich einmal keine Orgel mehr gebrauche oder habe, da klingt's doch nicht. Ich möchte manches fragen. Hoffentlich hast Du Zeit und einige Lust, dann siehst Du schon, was zu fragen und zu sagen.« (Zuerst mitgeteilt von J. Sittard im Hamb. Korrespondenten.)
Als Schüler war er stolz auf seinen Lehrer. Louise Langhans-Japha, die renommierte Pianistin und Komponistin, eine geborene Hamburgerin, schreibt über ihre erste Bekanntschaft mit dem um sieben Jahre jüngeren Johannes:
»Brahms' Bekanntschaft machte ich zuerst in Hamburg, als er etwa elf oder zwölf Jahre alt war. Ich traf ihn beim Pianofortefabrikanten Schröder in der Katharinenstraße und forderte den Kleinen auf, mir etwas vorzuspielen. Er tat es artig und sagte mir, es sei eine Sonate eigener Komposition; soviel ich mich erinnere, war sie in g-moll und für das kindliche Alter sehr gut. Danach sah ich ihn mehrere Jahre gar nicht, bis wir uns eines Tages wieder zufällig in einer Pianofortefabrik zusammenfanden. Ich hatte wegen Krankheitsfällen im elterlichen Hause so viel Störung beim Üben, daß ich öfter zu diesem Hilfsmittel greifen mußte, zu Baumgarten und Heins zu gehen. Brahms hatte ähnliche Gründe; seine Schwester war sehr kränklich, auch mochte der Raum bei seiner Familie zu beschränkt, das Klavier zu schlecht sein. So kam es, daß wir uns befreundeten; er zeigte und spielte mir vor, was er gearbeitet hatte, und außerdem nahmen wir alles, was nur irgend für zwei Klaviere vorhanden [35] war, miteinander durch. Brahms sprach sich sehr begeistert für seinen Lehrer Eduard Marxsen aus, bei dem er die gründlichsten kontrapunktischen Studien machte. Einmal zeigte er mir eine vortreffliche Arbeit in diesem Stile und meinte dabei, es sei ihm wohl gut gelungen, denn er habe so arge Kopfschmerzen während der Arbeit gehabt, ›und dann gelingt es mir immer am besten.‹ Oft klagte er über seine faulen und dummen Schüler, wo er natürlich um so weniger Anerkennung fand, je geringer das Honorar war, das man ihm zahlte. Doch hat er mir nie erzählt, daß er zum Tanz aufspielen mußte, wie er überhaupt von den pekuniären Verhältnissen der Eltern nicht sprach. Sehr herbe im Wesen war er; trotzdem wir uns recht gut miteinander verstanden, habe ich ihn oft über sein abweisendes Benehmen andern gegenüber ausgescholten. Er hatte damals keinen großen Kreis musikalischer Freunde, war meist auf seinen Lehrer angewiesen und wollte mir nicht glauben, wenn ich ihm versicherte, er gehe einer großen Zukunft entgegen. Marxsen hat auch wohl auf Brahms damaligen streng klassischen Geschmack eingewirkt. Bach und Beethoven waren seine obersten Götter – meine Schumann-Schwärmerei konnte er nicht teilen. Als ich ihm eines Tages entzückt ›Paradies und Peri‹ und den schönen Anfang des ersten Peri-Gesanges ›Wie glücklich sie wandeln, die seligen Geister‹ zeigte, wies er das kurz ab mit der Bemerkung, es sei unrichtig, mit dem Septimenakkord anzufangen.«
Auch von der umfangreichen musikalischen Bibliothek, die Marxsen besaß, zog sein Schüler Gewinn. Partituren, die ihn besonders entzückten, wie z.B. die der »Eroika« und der c-moll-Symphonie, schrieb er sich eigenhändig ab, um auf solche Art zu besitzen, was er sich nicht kaufen konnte. Seine Liebhaberei für wertvolle alte musikwissenschaftliche Bücher und seltene Musikalien, zu der sich in späterer Zeit noch die Leidenschaft für Originalausgaben deutscher Dichter, für Holzschnitt- und Kupferdrucke, sowie die beutegierige Lust an Handschriften gesellte, stammt aus Marxsens Sindierzimmer her, wenn dieser antiquarische Zug nicht etwa ein Erbteil vom Onkel in Heide war. Mancher sauer verdiente Groschen wanderte zu den kleinen Buchhändlern, die ihre vergilbte und verstaubte Ware auf den Brücken der Kanäle feilhielten,[36] und die Freude, in dem moderigen Kram herumzustöbern und irgendeine eingebildete oder wirkliche Rarität als unverhofften Glücksfund hervorzuziehen und für ein paar Schillinge zu erstehen, bot ihm Ersatz für andere Freuden der Jugend, die er nur vom Hörensagen kannte.
In freien Stunden lief der Erholungsbedürftige gern zum Hafen hinunter und schaute dort dem ewig wechselnden Bilde des großartigen Verkehres zu, der von Hamburg aus nach fernen Erdteilen hinüberspielt und der Fürstin des Hansabundes ihren, sie vor allen anderen Kapitalen Deutschlands auszeichnenden, weltstädtischen Charakter verleiht. Die Sehnsucht nach fremden Zonen und den bunten Wundern ihrer Herrlichkeiten, welche jedes Knabengemüt durchschauert, war bei Brahms nie so heftig, daß er den abenteuerlichen Wunsch gehabt hätte, über den Ozean zu segeln Das überließ er seinem Bruder Fritz, der 1868 auf drei Jahre nach Carcas in Venezuela ging. Sein wißbegieriges Verlangen wurde durch die Reisebeschreibungen gestillt, die er las. Campes »Robinson der Jüngere« war ihm neben der Bibel das liebste Buch, und er zeigte den Freunden noch in den letzten Jahren seines Lebens mit Rührung das zerlesene Taschenexemplar aus der Jugendzeit. Er hatte eben so vieles zu lernen und kennen zu lernen, was ihm näher lag als die transatlantischen Reiche, daß er die Auswanderer nicht beneidete, welche die stolzen Dreimaster bestiegen, um zu verlassen, was ihm das Teuerste war: die Heimat! An seltsamen Figuren und originellen Trachten mangelte es nicht in dem damaligen Hamburg. Da gab es die Elmshorner Torfschiffer mit ihren langschößigen Röcken, knopfreichen Westenlätzen und schwarzen Schwammhüten, die pluderhosigen, in geteerten Jacken steckenden Helgoländer, die buntgeschmückten, mit Zuckerkringeln handelnden Störörterinnen, die kurzröckigen drallen Mädchen aus den Vierlanden, welche ihre schwerbeladenen Obst- und Gemüsekörbe mit der Trage auf den Schultern balanzierten und in dem phantastischen Kopfputz wagenradförmiger Hüte und windmühlenflügelähnlicher Haarschleifen einen noch groteskeren Eindruck machten als die Altenländerinnen in ihren Reifröcken und Bischofsmützen. Zwischen diesem und anderem Volk sich hindurchzudrücken, seine Gewohnheiten und Sitten zu studieren, seine [37] Freuden und Leiden verständnisvoll nachzuempfinden und sich selbst im Zusammenhange mit ihm zu wissen und zu betrachten, gefiel dem zum Jüngling heranreifenden Knaben besser als der Verkehr mit der vornehmen, eleganten Welt, die vor und nach den Essenszeiten über den alten und neuen Wall durch die Alsterarkaden und auf dem Jungfernstieg promenierte. Er gewöhnte sich daran, die Menschen weder nach ihren Titeln noch nach ihren Glücksgütern, sondern allein nach ihrem inneren Wert zu schätzen.
Einen nicht minder großen Genuß gewährte es ihm, sobald er mit seinem »Dienst« in den Tanzlokalen fertig war, bei nächtlicher Weile durch die einsamen Gassen der Stadt zu schlendern. Er war einer von denen, welche die unter ihren Tritten erklingenden Steine zum Reden bringen. Auch nach dem Brande, der den ältesten Teil der Stadt zerstört hatte, gab es noch genug winklige Wege am Wasser und anderweitig, wo verräucherte, aus Holzwerk und Mörtel gefügte Häuser ihre finsteren Giebel zum Himmel streckten. Im Mondschein belebten sie sich mit Leuten aus vergangenen Jahrhunderten in wunderbaren, feierlichen Gewändern, und die unheimlichen Geister- und Gespenstergeschichten, die der Knabe in den Traktätlein der Marktbuden oder in den schmutzigen Leinenbänden der Leihbibliothek gelesen hatte, ereigneten sich noch einmal schöner vor seinen träumenden Augen. Wie seltsam das alles war, und wie beseligend es in ihm widerklang! Denn was ihm immer durch Auge und Ohr zur Empfindung kam, rief ein tönendes Abbild in seiner Phantasie hervor. Bald kannte Johannes seine Vaterstadt so genau wie eine Mozartsche oder Beethovensche Partitur. Es lag in seinem leidenschaftlichen Wesen, sich alles gründlich anzueignen, was ihn interessierte, und er fühlte früh die nur dem Dichter und Idealisten vertraute Seligkeit, der wahre und eigentliche Besitzer und Genießer von Dingen zu sein, die ihm niemals gehörten. Daß kein Markt und namentlich kein Weihnachtsmarkt versäumt wurde, versteht sich von selbst. Die Hamburger Christmesse fand im alten Dom statt, d.h. auf dem Platze, wo einmal der alte Dom stand, heute das Johanneum steht, und es gab dabei wie bei der Leipziger und Frankfurter Messe allerlei Sehenswürdigkeiten und Volksbelustigungen. Der etwa siebzehnjährige Brahms besuchte den Markt mit seinem Schüler und Freunde [38] Alwin Cranz, und sie verliefen sich in eine Bude, wo ein Anhänger der Gallschen Schädellehre seine Weisheit verkaufte. Als dieser den Schädel des jungen Brahms abtastete, rief er emphatisch aus: »Sie haben einen merkwürdigen Kopf, in Ihnen steckt etwas Besonderes, Sie können ein großer Reformator werden!« Wie die Stadt, so eroberte sich Brahms auch die reizende Umgebung Hamburgs. Es gab keinen dankbareren, unermüdlicheren und unersättlicheren Naturfreund als ihn, und zugleich keinen harmloseren. Von ihrer wissenschaftlichen Seite hat ihn die Natur niemals angezogen. Deshalb bemühte er sich auch später, wo er so vieles nachholte, was bei seiner Erziehung vernachlässigt worden war, nicht weiter, hinter ihre Geheimnisse zu kommen. Er kannte kaum den Baum, in dessen Schatten er sich lagerte, und wußte die Blumen nicht zu nennen, die er vom Felde pflückte. Aber er liebte Blumen und Bäume wie seine Geschwister; die Wiese war ihm ein Tummelplatz heiterer Gedanken, der Wald ein Ort stiller Einkehr, ernster Sammlung, tiefer Erbauung, frommer Andacht, seine Kirche. Hier redete er unbewunden mit dem Gott, der in seinem Innern wohnte, hier schloß er alle Heimlichkeiten seines Herzens auf, hier gab er seinen kühnsten Gedanken freien Lauf, hier jauchzte, stöhnte und brummte er vor sich hin, mit den geflügelten Scharen um die Wette, die sich von Ast zu Ast, von Blüte zu Blüte über seinem Haupt und unter seinen Füßen dahin schwangen. Und hier war er sicher, immer seiner unsterblichen Geliebten zu begegnen, der einzigen, die ihn dauernd fesseln, beglücken und befriedigen konnte: der Muse.
»O Bild, das jetzt mit den Fittigen der Morgenröte schwebt,
Jetzt, gehüllt in Wolken, mit des Meeres hoher Woge steigt,
Jetzt den sanften Liedestanz
Tanzet in dem Schimmer der Sommermondnacht!«
Die Geister Klopstocks, Hagedorns und Brockes', Matthesons und Telemanns, Keisers und Ph.E. Bachs, die vor ihm hier gesungen hatten, umschwärmten den Schwärmenden und hießen den Bruder willkommen. Sie führten ihn durch die von Wipfelriesen bewachten und beschatteten herrlichen Gärten der reichen Villenbesitzer in Harvestehude, Ottensen, Nienstädten und Blankenese und dann wieder nach Hamm und Wandsbeck hinüber in die lieblichen [39] Gefilde, wo Matthias Claudius seine schlichten Weisen hatte ertönen lassen.
Aber bald genügten dem romantischen Naturfreunde die sorgsam gepflegten Gärten und eingedeichten Stromauen nicht mehr, es trieb ihn aus den künstlichen Kulturen hinaus in das hügelige Waldland, den »Wohnplatz dunkler Lieblichkeiten« (Brockes), von Harburg und Hausbruch. Von der mit Hölzern aller Art bestandenen Bodenwelle, die sich bis zur Elbniederung hinzieht, sieht man weit über die fruchtbare Ebene hin. Wie ein geisterhaftes Nebelbild taucht die Stadt am Horizonte auf; der vom Wasser des breiten Stromes herüberwehende Wind vermischt sich erquickend mit dem Geruch der Acker und dem Dufte der meilenlangen Buchenwälder, in denen Meisen und Finken den ganzen Sommer hindurch schlagen und zwitschern. Da ließ es sich gut träumen und weiterträumen ins Hochland fort, wo statt der sanften Hügelkette dieses Diminutiv- und Miniaturgebirges die Alpen ihre wilden, zackigen Felsenhäupter erheben. »Mein Herz ist im Hochland« sang der den Wald durchstürmende Jüngling; seine fis-moll- undC-dur-Sonate und seine ersten Lieder mögen hier entstanden sein. Was der Brahmsschen Musik ihre herbe Frische, ihre bald sanft überredende, bald trotzig niederzwingende Gewalt, ihre strahlende Heiterkeit und ihre sehnsüchtige Schwermut, kurz, ihre intensive Lebenskraft verlieh, ist ihr inniges Verhältnis zur Natur. Man spürt es ihr an, daß sie nicht hinterm Ofen oder am Schreibtisch und zu allerletzt am Klavier erfunden worden ist. Es ist keine Stubenmusik, sondern Freilicht- und Freilustmusik. Die landschaftlichen Umgebungen beeinflußten die Konzeption seiner Werke. Brahms »ging« immer, wie er zu sagen pflegte, mit seinen musikalischen Ideen »spazieren« und ruhte nicht eher, als wenn er sie, bis in das geringste Detail der Ausführung, im Kopfe fertig verarbeitet hatte. Was er zu Hause aufzeichnete, war bloße Schreibarbeit. – Seine Liebe zur Natur, in der er sich, wie auch sonst in vielen Eigenheiten, mit Beethoven berührte, war also mehr als das Wohlgefallen des gewöhnlichen Naturfreundes, sie war geradezu eine der Grundbedingungen seiner künstlerischen Existenz, ja, man kann sagen, sie identifizierte sich mit seiner Liebe zur Kunst. Ihr hätte er unbedenklich jedes Opfer [40] gebracht. Sie kostete ihm auch seine Stimme. Während der helle Sopran des Knaben in den Tenor mutierte, zog er sich auf einem seiner nächtlichen Ausflüge, bei dem er – was er bis in sein Mannesalter hinein öfters tat – unter freiem Himmel im Walde schlief, einen heftigen Kehlkopfkatarrh zu, der die Entwicklung seiner Stimme hemmte und vereitelte. Erst durch langwierige Übungen und heroische Kasteiungen, die an die Zungengymnastik des Demosthenes erinnern, befestigte er sein Organ, das immer in den Diskant überschlug, und gab ihm den männlichen Charakter, der es tiefer erscheinen ließ als es war. In Augenblicken des Affekts verriet sich der schnarrende, quäkende Baß als ein künstlich hinabgedrückter hoher Tenor. Was lag daran? Wenn nur die tönenden Stimmen seines zartbesaiteten Innern keinen Schaden nahmen! Bald sollte die Welt von ihnen hören.
[41] 1 Noch 1859 gab J.C. Heinsen bei Gebrüder Berendsohn in Hamburg ein Buch heraus mit dem Titel: »Dativ oder Akkusativ? Mir oder Mich, Sie oder Ihnen? Anweisung, sich des Mir, Dir, Sie, Mich und Ihnen am rechten Orte zu bedienen.«
2 In Theophil. Zollings Wochenschrift: »Die Gegenwart« 1897. Nr. 45–47.
3 Vater Brahms behielt seine Charge, auch nachdem er Kontrabassist im Stadttheater und in den Philharmonischen Konzerten geworden war, bis zur Auflösung des Hamburger Bürgermilitärs im Jahre 1867.
4 Es steht nicht ganz fest, ob die Familie auf dieser Seite und in dieser Etage wohnte. Ein von den Hausgenossen überliefertes, von Johannes Brahms selbst beglaubigtes Gerlicht will es so. Da das Haus aber in allen Stockwerken gleich eingeteilt ist, so paßt die nach dem Augenschein gegebene Schilderung auch auf die übrigen Wohnungen.
5 »Geschichte des Hamburger Schulwesens.« VonDr. Otto Rüdiger. Hamburg 1896. – Wie dem Verfasser von glaubwürdiger Seite versichert wird, gehörte die Lehranstalt Joh. Friedr. Hoffmann's zurzeit, als Brahms sie besuchte, zu den besseren ihrer Art und sank erst später auf ein tieferes Niveau hinab. –
6 In Ottensen steht ein Denkmal zum Andenken an die 1138 in der Weihnachtsnacht von 1813 von Davoust ausgetriebenen und dort zugrunde gegangenen Hamburger Bürger.
7 Siehe das Faksimile in der Beilage!
8 Siehe Robert Schumanns »Gesammelte Schriften« in der Ausgabe von F. Gustav Jansen, Bd. II, S. 17.
9 Nach Marxsens Tode hat Brahms dessen Nachlaß gesichtet und alles an sich genommen, was ihn und seinen Lehrer persönlich betraf, um es zu vernichten. Nur weniges ist durch einen Zufall gerettet worden.
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Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.
70 Seiten, 5.80 Euro
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro