II.

[42] Wann das erste öffentliche Auftreten des jungen Brahms stattgefunden hat, läßt sich mit Sicherheit kaum bestimmen. Gewiß nur ist, daß es keineswegs mit jenem Hamburger Konzert vom 21. September 1848 zusammenfiel, in welchem, nach Reimann1 und anderen, Brahms zuerst vor dem Publikum erschienen sein soll. Auch daß der Vierzehnjährige mit eigenen Variationen über ein Volkslied debutiert habe, wie La Mara2 und nach ihr Deiters3 und Heuberger4 schreiben, gehört nicht zu den urkundlich überlieferten Tatsachen. Wir erinnern daran, daß Johannes schon als Wunderkind einmal in einem Privatkonzerte Aufsehen erregt halte, daß aber auf Anstiften Cossels die materielle Ausnützung des noch nicht völlig entwickelten Talentes unterblieben war. Marxsen, der den Klaviereleven 1847, den Kompositionsschüler erst 1848 lossprach, hätte das vorzeitige Heraustreten seines Zöglings kaum gebilligt und ganz gewiß zu verhindern gewußt.

Am 20. November 1847 gab C. Birgfeld, der verwachsene Violinist der Theaterkapelle, eine damals stadtbekannte Hamburger Persönlichkeit, im Apollosaal auf der Drehbahn ein Konzert. Programm und Auswahl der Mitwirkenden lassen erkennen, daß es sich hier weniger darum handelte, den künstlerischen Ehrgeiz als dringendere materielle Wünsche des Konzertgebers zu befriedigen. Es war ein Benefizkonzert. Birgfeld selbst blieb bescheiden im Hintergrund; er beteiligte sich nur an einem »Fragment aus dem Septett von Konradin Kreutzer«. Zwei Nummern wurden von Orchesterkollegen [42] Birgfelds bestritten, die eine Introduktion und ein Adagio für Blechinstrumente bliesen. In die andern teilten sich mehrere Sänger vom Theater mit Liedervorträgen. Als Hauptanziehungskraft figurierte die Tochter eines Bankiers, eine verschämte Gesangsliebhaberin, die, obwohl sie es, Gott sei Dank, nicht nötig hatte, zwei Lieder von Kücken, und mit Frl. Michalesi, der nachmaligen Gattin des Theaterkapellmeisters Krebs, ein italienisches Duett sang. In diesem nichts weniger als klassischen Konzert wirkte auch Johannes Brahms mit, und die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß dies sein erstes öffentliches Auftreten war. Er spielte an sechster Stelle des elfgliedrigen Programmes Thalbergs Norma-Phantasie, und der »Freischütz«, ein vielgelesenes Lokalblatt, raffte sich eine Woche später, am 27. November, zu dem vom Hörensagen übermittelten Referat auf: »Ganz besonders wird der Vortrag einer Phantasie fürs Piano von Thalberg durch einen kleinen Virtuosen, namens J. Brahms, gerühmt, der nicht allein schöne Fertigkeit, Präzision, Reinheit, Kraft und Sicherheit gezeigt, sondern auch, was das Geistige, die Auffassung, anbelangt, allgemein überrascht und ungeteilten Beifall sich erworben hat.« An demselben Tage, an dem der »Freischütz« den Ruhm des Virtuosen verkündigte, erntete dieser neue Lorbeeren ein, und zwar in einer von Therese Meyer, geb. David, im kleinen Saale der Tonhalle veranstaltetenSoirée musicale. Er spielte wiederum Thalberg: ein Duo für zwei Pianos, mit der Konzertgeberin, und der »Freischütz« berichtet: »Dieses Duo, von der Konzertgeberin und dem erst neulich mit so entschiedenem Glücke öffentlich aufgetretenen jungen Pianisten Bruns (sic!) ausgeführt, effektuierte (!) erwünscht und wurde mit rühmenswerter Übereinstimmung und Fertigkeit ausgeführt.« Die »Hamburger Nachrichten«, die auch von dem Konzert Kenntnis nehmen, nennen den jungen Pianisten Broms. Wie aus diesen Schreib-und Druckfehlern hervorgeht, war der Name Brahms damals noch so gut wie unbekannt. Vater Brahms aber mochte glauben, daß sein Sohn nun hinreichend eingeführt sei, um zu Beginn der nächsten Saison (1848) ein eigenes Konzert wagen zu dürfen. Nach herkömmlicher Sitte erschien am Tage vor der Aufführung in den »Nachrichten« das genaue Programm. Es lautet wörtlich, wie folgt:


[43] »Programm von dem Concerte am Donnerstage, den 21sten Sept. (Abends 7 Uhr) im Saale des Hrn. Honnef (alter Rabe) vor dem Dammthore gegeben von J. Brahms.


Erster Theil.


1. Adagio und Rondo aus dem A-dur-Concerte für Piano, von Rosenhain, vorgetragen vom Konzertgeber.

2. Duett aus Mozarts ›Figaro‹, gesungen von Mad. und Fräul. Cornet.

3. Variationen für die Violine, von Artôt, vorgetragen von Hrn. Risch.

4. ›Das Schwabenmädchen,‹ Lied, gesungen von Mad. Cornet.

5. Phantasie über Motive aus Rossinis ›Tell‹, für Piano, von Döhler, vorgetragen vom Concertgeber.


Zweiter Theil.


6. Introduktion und Variationen f.d. Clarinette, von Herzog, vorgetr. von Hrn. Glade.

7. Arie aus Mozarts ›Figaro‹, gesungen von Frl. Cornet.

8. Phantasie für Violoncello, compon. und vorgetragen vom Hrn. d'Arien.

9. a) ›Der Tanz,‹ Lieder, gesungen von Mad. Cornet.

b) ›Der Fischer auf dem Meer,‹ Lieder, gesungen von Mad. Cornet.

10. a) Fuge von Sebastian Bach,

b) Serenade, f.d. linke Hand allein, von E. Marxsen,

c) Etude von Herz, vorgetr. vom Concertgeber.

Eintrittskarten à 1 Mk. sind bei Hrn. Honnef zu haben.«5


Dieses Programm kennzeichnet in mehr als einer Hinsicht den jungen Brahms und seine damaligen Verhältnisse. Offenbar hat es der fünfzehnjährige Konzertgeber selbst für den Druck aufgesetzt. Sebastian Bach, der einzige voll ausgeschriebene Komponistenname, ist ein Programm im Programm, ein »in hoc signo« auf der Fahne des begeisterten Jüngers. Ein Bachsches [44] Klavierwerk auf dem Konzertzettel eines Virtuosen war damals ein seltener Vogel. Johannes aber hatte sich den Meister aller Meister bereits zum Vorbild erwählt und sah es für eine Ehrensache an, zu bekennen, daß er seinen heiligen Sebastian als Schutzpatron in Virtuosennöten anzurufen pflege. Zuvörderst freilich kam es darauf an zu zeigen, was er bei seinen Hamburger Lehrern gelernt hatte Darum spielte er das Neueste, Schwerste und Eleganteste vom Tage: zwei Sätze aus einem glatten Rosenhainschen Klavierkonzert, die rauschende Döhlersche »Tell«-Phantasie, das unvermeidliche Bravourstück für die linke Hand von der Komposition Marxsens und die schon in seinem Privatkonzert von 1843 erprobte, mit Schwierigkeiten gepfefferte Etude von Herz. Zur Mitwirkung waren von Marxsen und Vater Brahms geeignete Hilfskräfte herangezogen worden. Die mit Marxsen liierte Frau Franziska Cornet (1802 in Kiel geboren) nahm in Hamburg als vortreffliche Sängerin und gesuchte Gesanglehrerin eine geachtete Stellung ein. Durch ihre zahlreichen Schüler und Schülerinnen, deren sie mehrere für die Oper vorbereitete, hing sie mit den verschiedensten Gesellschaftskreisen zusammen; ihre Zusage war so gut wie bares Geld, denn ihre Bekannten, die im Konzert zu erscheinen sich verpflichtet sahen, füllten den halben Saal. Da sie ihre Eleven auch Chor singen ließ und namentlich auf die vollkommene Ausbildung eines mehrfach besetzten Quartetts von Frauenstimmen große Sorgfalt verwendete, so liegt der Schluß nahe, daß es ihr Cötus war, der in Brahms den Sinn für den eigentümlichen Reiz eines wohlklingenden Frauenchors weckte. Zehn Jahre später sollte er in seiner Vaterstadt Gelegenheit finden, selbst für einen solchen Chor zu sorgen und zu schaffen. Zu den von Frau Cornet geübten Quartetten von Schäffer und Kücken brachten Frauenchöre, die Marxsen und Litolff für die Cornetschen Damen komponierten, willkommene Abwechslung. Daß Frau Cornet außer den Marxschen Liedern »Der Tanz« und »Der Fischer auf dem Meere« zwei Nummern aus »Figaros Hochzeit« in das Programm rückte, geschah wohl auf besonderes Bitten des Konzertgebers. Mozarts Musik, die er schon von der Bühne, noch besser aber aus der von Marxsen entliehenen Partitur kannte, hatte einen so tiefen und begeisternden Eindruck auf den Knaben gemacht, daß sie zeitweilig sogar seiner [45] Bach-Schwärmerei Abbruch tat.6 Sie übertrug sich von Johannes auf dessen Vater, der fortan mit seinen Kollegen vom Alsterpavillon regelmäßig Mozartsche Kammermusik »zum Privatvergnügen« studierte.

So wurde Johannes, wie er später der Lehrer seines Lehrers wurde, auch der Erzieher seines Vaters. Risch, Glade und d'Arien, die bei dem Konzert mithalfen, waren musikalische Freunde des Hauses Brahms, Glade ein tüchtiger Klarinettist, Risch ein ebensolcher Geiger, d'Arien ein in den renommierten Schulen von Kummer in Dresden und Prell in Hamburg unterrichteter Violoncellspieler, der seit 1843 mit Otto von Königslöw in das Hafnersche Quartett eingetreten war. d'Arien gehörte zu den allgemein beliebten Künstlern, die alljährlich auf ihr einträgliches Benefiz rechnen durften.

Unter so günstigen künstlerischen Aspekten aber auch das Konzert des jungen Brahms vor sich ging – es blieb doch ein Streich ins Wasser. Die Welt hatte anderes zu tun, als sich mit einem neuen Klavierspieler zu beschäftigen. Der Waffenstillstand von Malmöe zwischen Dänemark und den deutschen Bundestruppen war gerade abgeschlossen worden. In Kiel tagte die Schleswig-Holsteinsche konstituierende Landesversammlung, während von Stunde zu Stunde beunruhigendere Nachrichten aus Frankfurt einliefen von Stürmen, die das Parlament durchtobten und den Aufruhr in die Stadt weiter trugen. Gerade am Konzerttage wurden Straßenkämpfe von dort gemeldet. Das Parlament hatte den Antrag, den Waffenstillstand zu annullieren und die Feindseligkeiten gegen Dänemark wieder zu eröffnen, mit einer sehr geringen Majorität abgelehnt, und die Preußen rückten in der von revolutionären Elementen gärenden freien Reichsstadt ein. Dazu war in Hamburg [46] die Cholera ausgebrochen. Irgendwelche entscheidende Folgen ließen sich also von der erneuerten Berührung des jungen Klaviervirtuosen mit der Öffentlichkeit nicht erwarten. Nicht einmal die Presse, die, was das Musikreferat anbetrifft, wenig zu sagen hatte, und auch selten etwas sagte, nahm Notiz von dem Konzert. Eltern, Lehrer und Schüler mußten sich mit dem moralischen Erfolge zufrieden geben, den Johannes vor einem verhältnismäßig kleinen und unbedeutenden Zuhörerkreise davongetragen hatte, und mit den paar Mark, die nach Abzug der Kosten der Familie Brahms zufielen.

Es änderte sich nichts in dem ärmlichen Zuschnitt des Hausstandes. Mit den erhöhten Einnahmen, die Vater Brahms als Mitglied des Sextetts seit 1840 erzielte, waren auch die Ausgaben gewachsen. Fritz, der jetzt schon dreizehn Jahre alt war, machte Miene, in die Fußstapfen seines älteren Bruders zu treten, löste Johannes im Unterricht bei Marxsen ab und zeigte soviel Begabung für das Klavierspiel, daß es schien, als würde er den Bruder einholen, wenn nicht überflügeln. Er blieb dann aber auf einer mittleren Stufe der Entwicklung sitzen und war trotz aller liebevollen und ernsten Ermahnungen des Bruders nicht weiter vorwärts zu bringen. Mutter Brahms stand nach wie vor am Waschschaffe und Küchenherd und hantierte mit Hader und Besen, Elise saß mit verbundenem Kopfe über ihre Näharbeit gebeugt – sie nähte in und außer dem Hause – Johannes studierte emsig fort, dirigierte im Sommer auch einmal zur Erholung in der kleinen hannöverschen Stadt Winsen an der Luhe einen aus Dorfschullehrern der Umgegend gebildeten Männergesangverein, für den er Volkslieder arrangierte, ließ sich beim Stiefelwichsen die schönsten Melodien einfallen, die er dann auf dem Wall oder in den Vororten spazieren führte, las, im Grase auf dem Bauche liegend, den Kopf mit den Händen gestützt, seine Schmöker und griff nach jeder Gelegenheit, zum Tanze aufzuspielen, mit allen zehn Fingern. Wenn er nur seinen Kaffee zu trinken bekam, den die Mutter Tag und Nacht für ihn am Herde bereit stehen hatte, so war er zufrieden; er kehrte von seinem Geschäft gewöhnlich erst zwischen zwei und drei Uhr morgens heim und schlief keine fünf Stunden.

[47] Seit der Eröffnung der Hamburg-Bergedorfer Eisenbahn (1842), mit welcher der Anfang zu der erst vier Jahre darauf dem Verkehr übergebenen Strecke von Hamburg nach Berlin gemacht wurde, war die alte Hauptstadt der fruchtbaren Landherrenschaft Bergedorf ein vielbesuchtes Ziel der Hamburger Feiertags-Ausflügler. Dort im Gasthof »Zur schönen Aussicht«, der dem Senator Selbusch gehörte, unterhielt Johannes die zugereisten Gäste an schönen Sonntagen mit seiner Kunst. Er spielte nachmittags und abends für freie Zeche und drei Mark Kurant. Und er tat es mit solcher Lust und genialen Keckheit, daß der um wenige Jahre ältere Hamburger Musiker Christian Miller, der ihm einmal zuhörte, um Erlaubnis bat, mitspielen zu dürfen. Sie konzertierten öfters zusammen und regalierten das Publikum nicht nur mit Tanzmusik, sondern auch mit vierhändigen Schubertschen Märschen und Mozartschen Sonaten. Brahms, der sich gerade in seinen Flegeljahren befand, war nach solchen goldenen Sonntagen immer besonders gut zu allerlei losen Streichen aufgelegt. Einer seiner Hauptspäße bestand darin, daß er mit seinem Freunde in den Häusern anläutete und nach längst verstorbenen Größen der Kunst und Literatur fragte. Sie taten dann sehr erstaunt, wenn sie auf wiederholtes dringendes Anfragen bedeutet wurden, daß Herr Georg Friedrich Händel oder Herr Johann Hinrich Voß ganz gewiß nicht mehr im Hause wohne, und hielten sich auf der Straße die Seite vor Lachen. Ihre Scherze wären ihnen beinahe übel bekommen. Denn als sie sich einmal bei einem ehrsamen Professionisten nach Herrn Klopstock erkundigten und dabei das Lachen nicht verbeißen konnten, langte der biedere Handwerksmann, der alles eher als ein Literaturkenner war, nach seinem spanischen Rohr und jagte die erschreckten Spaßmacher mit der Drohung in die Flucht: »Na wartet, ihr entsamten Spitzbuben, ich will euch man beklopstocken!« Welch ein munterer Spielkamerad Johannes auch als Jüngling noch sein konnte, berichtet Hermann Grädener, in dessen Vaterhause Brahms um die Mitte der Fünfzigerjahre häufig verkehrte. Grädener durfte mit seinen Brüdern und andern Jungen den um elf Jahre ältern Freund des Hauses manchmal auf den »Wall«, die Hamburger Promenade, begleiten, wo sie miteinander allerlei [48] Unfug trieben. Johannes trug damals auf den langen blonden Haaren eine breitschirmige Mütze, unter der die großen blauen Augen trotzig und übermütig hervorblitzten, und wenn seine Bande beim Schneeballwerfen oder Fangespiel in Konflikt mit der lustwandelnden Bürgerschaft geriet, so wendeten sich die gekränkten Philister an ihn als den Ältesten, ohne zu merken, daß sie es mit keinem Knaben mehr zu tun hatten. An harmlosen Mystifikationen hat Brahms sein Leben lang Gefallen gefunden, wie er z.B. die Kölner Bürger damit aufzuziehen pflegte, daß er sie auf dem Domplatz anhielt und höflich um Auskunft bat, sie möchten ihm doch sagen, wo denn eigentlich ihr berühmter Dom sei. Er stellte sich dann ungläubig, wenn ihm immer ärgerlicher versichert wurde, dies da wäre der Dom, und ergötzte sich an ihrer Wut, wenn er endlich im Tone mitleidiger Enttäuschung erwiderte: »So? Wirklich? Das ist der berühmte Kölner Dom? Den habe ich mir aber viel größer gedacht.«

Wie nach Bergedorf, unternahm der junge Brahms auch Ausflüge nach anderen näher oder ferner gelegenen Orten, um bei außerordentlichen Gelegenheiten als Klavierspieler Geld zu verdienen. – So ging er zu Anfang der Fünfzigerjahre mit der Konzertgesellschaft Molinario für die »Domzeit« – so wird die 14 Tage währende Zeit des Weihnachtsmarktes genannt – nach Lübeck. Die Gesellschaft bestand aus zwei Sängerinnen und einem Violinspieler und konzertierte jeden Abend in Rigels Weinrestaurant am Klingenberge. Brahms begleitete die Vorträge der andern, streute auch manchmal einige Solostücke ein. Der Pianist und Komponist A. Schultz in Lübeck, dem wir diese Mitteilung verdanken, fügt noch hinzu, daß Brahms eine kleine Komposition, die er ihm gab, bereitwillig in sein Programm aufgenommen habe. –

Ein Jahr nach dem ersten Konzert wurde am 14. April 1849 ein neuer Versuch mit einer »Soirée musicale« im Salon des Jenischen Hauses (Katharinenstraße 17) gemacht. Zuvor wirkte Johannes als Solist bei dem Debut Theodor Wachtels mit. Der ehemalige Droschkenkutscher war ein besserer Praktikus als der Sohn des Musikanten; er wußte, daß Klappern zum Handwerk gehört, und ließ die Reklame-Peitsche vorher in den [49] Zeitungen knallen. Auf dem Konzertzettel steht als zweite Nummer hinter der von Wachtel gesungenen Bildnis-Arie aus der »Zauberflöte«: »Phantasie über Motive aus ›Don Juan‹ von Thalberg, für Pianoforte, vorgetragen von J. Brahmst.« Das Konzert fand am 1. März im Apollosaale statt; aber erst zwölf Tage später wurde in den »Nachrichten« Kenntnis davon genommen. Wahrscheinlich hatte das ebenfalls geschäftskundige Frl. Grandjean, die Gesanglehrerin Wachtels, mittlerweile dafür gesorgt, daß eine »Kritik« des Konzertes erschien. Wenigstens gipfelt das Lob des Referenten in der Anerkennung ihres »schon so oft erprobten Unterrichtes«, dank dessen binnen kurzer Zeit aus dem vom Pferde auf den Pegasus gestiegenen Dilettanten ein bewunderungswürdiger Sänger gemacht worden sei. Von Brahms schweigt des Referenten Redlichkeit.

Auf den Umgang mit einer gewissen Sorte von Zeitungsschreibern verstand sich der sechzigjährige Brahms noch ebenso schlecht wie der sechzehnjährige. Niemals hat er einen Finger gerührt, um irgend einen Menschen für sich und seine Kunst zu gewinnen, niemals dem Bureau irgend eines Journals seinen Autorenbesuch abgestattet, niemals um die Gunst irgend eines einflußreichen Federhelden geworben. Wenn er gleichwohl zu einigen Musikschriftstellern, wie zu Eduard Hanslick, Selmar Bagge und Louis Ehlert, in nähere freundschaftliche Beziehungen trat, so geschah dies nicht wegen, sondern trotz ihrer journalistischen Tätigkeit. Er schätzte im Berufsmanne den ihm sympathischen Menschen und freute sich, wenn neben seiner Person auch seine Kunst von urteilsfähigen Freunden geliebt wurde. Aber er würde sich eher die Zunge abgebissen haben, ehe er jene um den kleinsten Liebesdienst ersucht hätte. Im Gegenteil war es ihm geradezu verhaßt, wenn Personalnachrichten über ihn in den Zeitungen erschienen, und als Privatangelegenheit betrachtete er auch seine künstlerischen Entwürfe und Arbeiten, so lange er selbst nicht sie der Öffentlichkeit übergeben hatte. Gewerbsmäßige Wichtigtuer und zudringliche Leute, die von der Eitelkeit und dem Reklamebedürfnis anderer leben, waren ihm so zuwider, daß er, ohne an seinen Vorteil zu denken, ihnen die Tür vor der Nase zuschlug oder sie seine Geringschätzung in sonst einer unzweideutigen Weise fühlen ließ. Infolge [50] dessen hatte Brahms nur wenige Freunde, aber eine Legion von Feinden unter den Journalisten.

Johannes glaubte genug getan zu haben, wenn er im Inseratenteile der »Hamburger Nachrichten« seine Soiree dreimal anzeigte. Er läßt am 28. März einrücken: »Unterzeichneter wird die Ehre haben, Sonnabend den 14. April eine musikalische Soiree zu geben, wozu er hiemit seine ergebenste Einladung zu machen sich erlaubt. Das ausführliche Programm, wobei ihm die Mitwirkung mehrerer der hiesigen ersten Künstler zugesagt ist, wird durch diese Blätter bekannt gemacht werden.« Am 7. April wiederholt er die Annonce und fügt am 10. die Namen der Mitwirkenden hinzu. Diesmal sind die Preise verdoppelt, das Entree kostet zwei Mark. Wachtel revanchierte sich für die ihm von Brahms erwiesene Gefälligkeit und sang in dessen Soiree die Romanze aus Donizettis »Liebestrank«, obwohl er an demselben Abende im Thaliatheater auftrat, noch immer nicht in einer dramatischen Rolle, sondern nur als kostümierter Konzertsänger – sein Almaviva verschwand nach einer einzigen Szene wieder, um Himmels »Fanchon« Platz zu machen. Außer den Damen Cornet beteiligten sich an der musikalischen Abendunterhaltung noch der Violinist Mollenhauer, der Hornist Böers und der Flötist Kappelhofer. Die letzten beiden waren Freunde des Vaters, und Otto Böers hatte erst am 23. März zusammen mit Brahms senior in dem Konzert eines gewissen Wilhelm Hollmann gespielt, so daß Vater und Sohn so ziemlich zu derselben Zeit öffentlich in Konzerten auftraten. Diesmal brachte der junge Konzertgeber Beethoven seine Huldigung dar mit der Waldstein-Sonate op. 53, wiederholte die Thalbergsche Don Juan-Phantasie und trug außer einem »Air italien« von Karl Mayer, mit dem er sich von den Elegants unter seinen Zuhörern verabschiedete, noch eine »Phantasie über einen beliebten Walzer« eigener Komposition vor.

Der »Freischütz« war das einzige Blatt, welches das Konzert beachtete. In der Nummer 31 vom 17. April 1849 lesen wir: »Im Konzert von J. Brahms gab der jugendliche Virtuose die schönsten Beweise vom Fortschreiten auf der Kunstbahn. Der Vortrag der Beethovenschen Sonate bewies, daß er schon mit Glück sich an das Studium der Klassiker wagen darf und gereicht [51] ihm in jeder Beziehung zur Ehre. Auch die Probe von der eigenen Komposition (Phantasie für Piano) verrät ungewöhnliches Talent.« Ohne Zweifel ist diese »Phantasie über einen beliebten Walzer« die erste Probe, welche Johannes Brahms in der Öffentlichkeit von seinem schöpferischen Genius ablegte, und da die Phantasie im Geiste des herrschenden Geschmackes und nach Marxsens Vorbilde hauptsächlich aus nichts anderem als Variationen bestehen konnte, so wird sie mit jenen »Variationen über ein Volkslied« zu identifizieren sein, von welchen in biographischen Skizzen die Rede ist, und auch jene aus einem »höchst gelungen ausgeführten Kanon« bestehende Variation, von welcher La Mara zu berichten weiß, mag dahin gehören. Veranlassung zu dieser irrtümlichen Verwechselung hat Brahms selbst gegeben. Denn mehr als einmal sagte er, die Anfänge seiner Komposition seien auf das Volkslied zurückzuführen. Als er 1894 die sieben Hefte seiner Volksliedersammlung erscheinen ließ und den Ring seiner Werke damit zu schließen meinte, konnte man öfters von ihm hören, es sei hübsch, daß das Ende bei ihm in den Anfang zurücklaufe. Dabei aber hatte er nur das letzte Lied der Sammlung im Sinn: »Verstohlen geht der Mond auf« und die Rolle, die es im Adagio seiner alsop. 1 herausgegebenen C-dur-Sonate spielt.

Die Lust, eigene Konzerte zu veranstalten, scheint dem jungen Virtuosen schnell vergangen zu sein. Denn als Konzertgeber für sich allein ist er in seiner Vaterstadt seit dem 14. April 1849 nicht wieder aufgetreten, und man könnte ohne allzu starke Übertreibung sagen: seine Virtuosen-Laufbahn hat Johannes Brahms mit sechszehn Jahren definitiv abgeschlossen. Vom 5. Dezember 1849 an, wo er im Konzert des Sängers Rudolf Lohfeldt, eines Schülers der Grandjean, Thalbergs Lucia-Variationen vortrug und seine Walzer-Phantasie wiederholte, blieb er entweder in der zweiten Reihe der »gefällig Mitwirkenden« oder trat in der ersten nur in Kompagnie mit befreundeten künstlerischen Gesinnungsgenossen hervor, und wenn er auch die meisten Konzertgeber durch seine Mitwirkung in Schatten stellte, so merkten doch die wenigsten etwas von seiner überragenden Bravour, weil er so gar nichts aus ihr machte. Eine kurze Weile gingen ihm die Spuren seines kindlichen Virtuosentums nach, so [52] lange er den Finger-Seiltanz Thalbergscher Phantasien oder Mayerscher Etuden und die Springfertigkeit Marxsenscher Capriccios für die linke Hand exerzieren mußte. Bald jedoch schüttelte er die letzten Flitter musikalischer Marktschreierei von sich ab und besann sich eines Besseren: neben den Werken der Klassiker studierte er ausschließlich solche, die er sich selbst in die Finger schrieb, und wartete, bis er von seiner ihm eigenen Kunst Gebrauch machen konnte. Lieber wollte er in gewohnter Weise für sich und die Seinigen weiter tagelöhnern, als daß er sich zum Gaukler und Liebediener des gebildeten Pöbels erniedrigt hätte. Äußere Umstände mögen den von ihm gefaßten Entschluß gezeitigt haben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der in den Extremen von Bach, Beethoven und Mayer, Herz sich bewegende junge Pianist den Hamburgern wenig gefiel. Er würde ihnen besser gefallen haben, wenn er bloßer Virtuose geblieben wäre. So aber beschönigte oder entschuldigte man seine geheime Abneigung vor dem scheuen und linkischen, durchaus nicht salonfähigen »Sohne des Bierfiedlers vom Dammtor« mit der ebenso unzutreffenden wie einleuchtenden Ausrede, er wäre für ein Wunderkind schon zu alt, für einen Mann noch zu jung; oder auch, er gäbe sich zu ernst, um für einen Virtuosen, und zu wenig ernst, um für einen Künstler genommen werden zu können. Der Bedarf an mehr oder weniger gediegener Klaviermusik schien ohnehin reichlich gedeckt. Da war vor allem der wirklich vortreffliche junge Otto Goldschmidt, der künftige Gatte der angebeteten Jenny Lind (1852), der den Konzertsaal vollkommen beherrschte. Er konnte sich darauf berufen, ein Schüler von Mendelssohn und Chopin zu sein, veranstaltete alljährlich Triosoireen und wirkte in den meisten Konzerten hervorragender Künstler mit. Da war ferner der großherzoglich Oldenburgische Hofpianist, der Komponist vieler »brillanter« Klaviersachen, Ignaz Tedesco, der »Okta ven-Hannibal« genannt, und da waren überdies noch die Pianistinnen Pauline Brauns, Louise Japha und Nannette Falk, die ebenfalls ihr festgesetztes Jahreskonzert hatten. Auch in seinem Freunde Christian Miller erwuchs Brahms' ein rasch beliebt gewordener Konkurrent. Was dem Hamburger Publikum an Interesse für Virtuosen sonst noch übrig blieb, wurde von zugereisten Größen konsumiert.

[53] Unter den musikalischen Zelebritäten, die zu jener Zeit in Hamburg Aufsehen machten, den Henry Litolff, Ferdinand David, Romberg, Ole Bull, Ferdinand Hiller, Johanna Wagner, Jenny Lind, Henriette Sontag u.a.m., sind Josef Joachim und das Ehepaar Robert und Klara Schumann besonders hervorzuheben. Joachim erschien in Hamburg zum erstenmal in einem Philharmonischen Konzert am 11. März 1848 mit dem Beethovenschen Violinkonzert, dem später vielbewunderten und von keinem wieder erreichten Hauptstück seiner klassischen Vortragskunst. Der Eindruck, den Werk und Spieler auf den unter den Zuhörern anwesenden Johannes hervorbrachten, war ein ungeheurer und sollte wesentlich mit dazu beitragen, in dem jungen Klaviervirtuosen einen anderen Begriff von dem Berufe des Künstlers auszubilden. Allerdings meldete sich, was der fünfzehnjährige Knabe dem um zwei Jahre älteren Geiger gegenüber dunkel empfand, nur als eine Ahnung höherer und wahrer musikalischer Herrlichkeit, bis ihm das immer eifriger betriebene Studium Beethovens und Bachs die Gewißheit brachte, daß seine bisherigen Konzertparaden nur den Wert von Fingerexerzitien gehabt hatten. In einem Briefe, den Brahms 1855 an Joachim richtete, deutet er die Umwälzung an, die damals in seinem Innern vorging. Er schickte ihm die entliehene Partitur des Beethovenschen Konzerts von Düsseldorf mit den Worten: »Könnt' ich es hören! Immer und immer erinnert mich das Konzert an unsere erste Bekanntschaft, von der Du freilich nichts weißt. Du spieltest es in Hamburg, es muß viele Jahre her sein, und ich war gewiß Dein begeistertster Zuhörer. Es war eine Zeit, in der ich noch recht chaotisch schwärmte, und es mir gar nicht darauf ankam, Dich für Beethoven zu halten. Das Konzert hielt ich so immer für Dein Eignes. Du erinnerst Dich gewiß, wie ich auch, gern der einzelnen gewaltigsten Eindrücke, so der c-moll-Symphonie, dieses Konzerts und des ›Don Juan‹?« – Wer dem entzückten Zuhörer gesagt hätte, daß ihn in nicht zu ferner Zeit die innigste Freundschaft mit dem großen Geiger verbinden würde!

Noch unwahrscheinlicher aber wäre dem chaotisch Schwärmenden der Gedanke vorgekommen, zu dem gefeierten Künstlerpaar Robert und Klara Schumann in die vertrautesten Beziehungen zu treten. Schumanns zierten das 78. Philharmonische Konzert durch ihre [54] Anwesenheit. Robert dirigierte dort am 16. März 1850 seine Genoveva-Ouverture, und Klara spielte neben Mendelssohns »Variations sérieuses« das a-moll, Konzert ihres Gatten. Zwei Tage darauf gab Frau Schumann »geb. Wieck«, wie sie sich noch immer auf dem Zettel nannte, mit dem Quartett Hafner eine Soiree und trug mit diesem das Klavierquintett und mit Otto Goldschmidt die Variationen für zwei Klaviere von Robert Schumann vor. Der Kuriosität halber sei erwähnt, daß in den Zeitungen »Herr Rob. Schumann« von vielen Musikfreunden gebeten wurde, sein auf den 19. März festgesetztes Konzert, »der Konfirmationen wegen,« einige Tage aufzuschieben. So gemütlich ging es damals noch in dem großen Hamburg zu. Am 21. und 23. März konzertierte Klara mit Jenny Lind. Es ist nicht bekannt, wieviel Brahms von dieser Schumann-Woche zu sehen und zu hören bekam. Vielleicht nur das Philharmonische Konzert, zu welchem er freien Eintritt hatte. In seinen Jugendjahren war er weder ein eifriger Konzert- noch Theaterbesucher. Um sich diese kostspieligen Genüsse zu erkaufen, besaß er nicht Geld genug; Beziehungen aber zu pflegen, die sie ihm gratis hätten verschaffen können, fehlte es ihm an Zeit und Lust. Von dem Prinzip, unter keinen Umständen ein Freibillet zu erbitten, ist er niemals abgewichen. Dieses Moment verdient besondere Beachtung. Denn es trug dazu bei, ihn in seiner stolzen Unabhängigkeit von fremden Werken und Menschen zu bestärken, wie es andererseits den Jüngling für die wenigen künstlerischen Eindrücke, die er von außen her erhielt, um so empfänglicher machte, nicht immer zu seinem augenblicklichen Vorteil. Wer möchte glauben, daß Brahms Beethovens Neunte Symphonie vor seinem einundzwanzigsten Jahre nicht gehört hat? Und doch ist dem so. Daran brauchte allerdings nicht gerade seine Konzertschen schuld gewesen zu sein. Denn die Symphonie wurde von 1837 bis 1854 überhaupt nur einmal im Hamburger Stadttheater aufgeführt. Im April 1854 fuhr Brahms mit Otto Julius Grimm von Düsseldorf nach Köln zu einer Aufführung des Werkes hinüber, das er bis dahin nur aus der Partitur kannte.

Eine Annäherung an Schumann fand in Hamburg nicht statt, obwohl sie von Brahms angebahnt worden war. Auf den Rat seiner Angehörigen und Freunde hatte er ihm einige Kompositionen [55] gesendet, mit der Bitte, sie durchzusehen und ihm sein Urteil darüber zu sagen. Schumann aber war in jenen Märztagen von so vielen Seiten in Anspruch genommen, daß er den Wunsch des ihm unbekannten jungen Mannes nicht erfüllen konnte, und das Manuskript ging ungelesen an den Absender zurück. Wenn wir Wasielewski7 glauben dürfen, war das Fehlschlagen dieses Versuches eine der Ursachen, daß Brahms sich im Herbste 1853 so ungern und zögernd dazu verstand, den Meister in Düsseldorf aufzusuchen.

Häufiger als der Konzertsaal sah das Theater den Jüngling bei sich zu Gaste. Als zwölfjähriger Knabe hatte er schon einmal auf einem alten Klavier die Zwischenaktsmusik besorgt – den Abend für einen Thaler – und zwar im »théâtre pittoresque« eines ehrbaren Hamburger Klempnermeisters, der zur Weihnachtszeit seine Drahtpuppen in der Deichstraße tanzen ließ. Von dieser Marionettenbühne mag die zeitweise ganz unbändige Theaterlust herstammen, die Brahms niemals völlig einschlummern ließ. Zum lebendigen Theater aber kam er dadurch in ein näheres Verhältnis, daß er von der Direktion des 1850 mit dem Thaliatheater vereinigten Stadttheaters für das Klavier- und Harmoniumspiel hinter der Szene (im Schauspiel) und hie und da auch zur Begleitung der auf der Bühne gastierenden Virtuosen (im Konzert) herangezogen wurde. Die Konzertmusik auf der Bühne war ein von Schröders Zeiten her ererbtes Übel. So lange es der Stadt an einem großen Musiksaale gebrach, traten die namhaftesten Künstler fast ohne Ausnahme im Theater auf, und die Unsitte wurde zum geheiligten Brauch. Schon von dem Debut Wachtels her, der, unbeschadet der Hauptoper des Abends, eine Szene aus dem »Barbier« als Einlage sang, läßt sich auf die wunderliche Verfassung derartiger gemischter Abende schließen. In der Tat kamen oft höchst sonderbare Ragouts von allen möglichen musikalischen und dramatischen Brocken dabei zustande. Ein Konzert der Lind fing mit einem Lustspiel von Putlitz an und schloß mit einer Szene aus Bellinis »Nachtwandlerin«. Dazwischen wurde der dritte Teil der Haydnschen »Schöpfung« aufgeführt; Frl. [56] Rosalie Spohr, die Nichte Ludwigs, schlug die Harfe, der Konzertmeister des Orchesters spielte die Piraten-Phantasie von Ernst, und die »schwedische Nachtigall«, der zu Ehren das Haus festlich beleuchtet ward, sang noch die Arie der Königin der Nacht italienisch! Fett werden die Renten, welche das Schauspiel dem bescheidenen Aushilfsmusiker abwarf, nicht gewesen sein.

Reichlicher floß eine andere Einnahmsquelle, die sich dem Komponisten der »Phantasie über einen beliebten Walzer« auftat. Ein findiger Geschäftsmann dachte sich: wer so hübsch und gefällig über einen beliebten Walzer phantasieren kann, wird auch fähig sein, nicht weniger beliebte Opernmelodien für den Kleinverschleiß schmackhaft herzurichten. Dieser Findige war der Musikverleger August Cranz, der Vater des Brahms-Schülers und -Freundes Alwin. Er brauchte zwei- und vierhändige leicht spielbare Potpourris und »Phantasien« für sein Geschäft. Das musikalische Material für den Bearbeiter war in Favoritstücken der Tagesmode gegeben; es mußten nicht gerade Opern sein, sondern die Abnehmer der leichten Ware waren auch mit Kriegsmärschen, nationalen und anderen Gesängen zufrieden, die in irgend einer Weise mit den Zeitereignissen zusammenhingen. Solcher musikalischen fliegenden Blätter hat der junge Brahms eine große Menge komponiert. In der Form haben sie eine verhängnisvolle Ähnlichkeit mit den alamodischen Phantasien seines Lehrers Marxsen; zuweilen verarbeiten sie ihren Stoff noch freier, in der Manier eines geschickten Improvisators, der jeden Augenblick bereit ist, über ein beliebiges, ihm aufgegebenes Thema zu »phantasieren«. Ihren Urheber, der sich hinter mehreren Pseudonymen und sehr hohen Opuszahlen versteckt, verraten sie nicht in einer einzigen, von dem Gewöhnlichen abweichenden Wendung. So kommt es, daß Brahms von seinem op. 1 schon ein op. 151 herausgegeben hat: es trägt den Namen G.W. Marks und nennt sich »Souvenir de la Russie«, »Transcriptions en forme de Fantaisie sur des Airs russes et bohémiens, composées pour le piano à quatre mains.« Neben den Potpourris nach Themen aus »Tannhäuser«, »Robert der Teufel«, »Rigoletto«, »Troubadour«, »Norma«, »Dinorah« u.a.m. verdient es einer bestimmten Ursache wegen hervorgehoben zu werden. Die Transkriptionen zeigen nämlich, [57] daß Brahms schon vor seiner Verbindung mit Remenyi Zigeunermusik studierte. Er konnte dies an der Quelle tun, da verschiedene »ungarische Nationalkapellen« während der Revolutionsjahre und später in Hamburg konzertierten. Von daher mag die Begriffsverwirrung datieren, die zigeunerisch und ungarisch ohne weiteres zusammenwirft. Alles, was aus Ungarn kam, wurde in der freien Stadt, die sich im Unterschied zu andern Hauptstädten als Republik fühlte, mit offenen Armen empfangen. Der Schrei der Empörung, der 1849 durch Europa hallte, als Österreich mit Hilfe Rußlands die ruhmvoll um ihre Freiheit kämpfenden Magyaren niederwarf, erweckte in Hamburg ein um so lebhafteres Echo, als die aus ihrer Heimat Vertriebenen oder Geflohenen sich hieher gewendet hatten, um die alte schlechte Welt mit der neuen besseren zu vertauschen. Die Wogen der Erregung gingen hoch; man begeisterte sich für die dunkeläugigen und schwarzhaarigen Flüchtlinge, und besonders schwärmten die Frauen für die von Lenau besungenen »Pußtasöhne«. Brahms machte seinem Groll gegen Rußland und seiner Sympathie für die Rebellen in eigener Art Luft. Sein »Souvenir de la Russie« ist nicht sowohl eine Erinnerung an, als ein Denkzettel für Rußland. Von dem entrüsteten Komponisten wird der Rákóczi-Marsch gegen die Lwoffsche Nationalhymne ins Treffen geschickt. In der ersten seiner Phantasien nimmt er den Kampf zwischen Absolutismus und Revolution wieder auf; Kaiserhymne und Rebellenmarsch geraten in einer kontrapunktischen Durchführung hart an- und durcheinander. Das Stück schließt nicht, wie es als Souvenir de la Russie sollte, triumphierend mit der Hymne ab, sondern korrigiert die Brutalität der geschichtlichen Ereignisse, indem es dem daktylischen Motive des Rákóczi Marsches das Feld überläßt. Auch Alabieffs melodische »Rossignol«, die bei den Zigeunern nistete, mußte es sich gefallen lassen, von der Trommel »Rákóczis des Rebellen« begleitet zu werden, die Brahms kräftig rührt. Nachtigallen- und Trommelschlag – der blutige Frühling von 1849! –

Wie es bei derartigen, aus der edelsten Aufwallung der Gemüter hervorquellenden Zeitströmungen zu geschehen pflegt, so mischten sich auch hier bald unlautere Elemente in die Flut und trübten die Reinheit der Gesinnung. Das nationale Unglück der [58] Ungarn wurde nicht allein von geschäftsklugen Unternehmern finanziert, sondern auch von den Unglücklichen selbst ausgebeutet. Ein Musikdirektor Canthal, viele Jahre hindurch der Veranstalter von Promenaden- und Konversationskonzerten in Hamburg, bestritt die Unkosten seiner musikalischen Unterhaltung mit zwei Märschen, dem »Klapka«- und dem »Hyänen«-Marsch, und setzte das dem Helden Ungarns gewidmete Musikstück immer gleich zweimal aufs Programm. Der Hyänen-Marsch führte den Untertitel: »Oder Begnadigung durch Pulver und Blei« und schloß mit einer realen Gewehrsalve ab. Damit nicht genug, gebrauchte Canthal die Auswanderer auch als Lockvögel für eine Soirée musicale in der »Walhalla«, und sie ließen sich gebrauchen. In der Ankündigung heißt es: »Unsere hier befindlichen ungarischen Gäste werden auf meine Einladung die Soiree besuchen.«

Den ungarischen Gästen wieder kam es nicht darauf an, die günstige Gelegenheit zur Förderung eines ihrer Landsleute weidlich zu benützen. Sie hatten sich zu einer »Gesellschaft der ungarischen Auswanderer« konstituiert und erließen als solche am 7. November 1849 folgende köstliche Anzeige: »Die hier weilenden ungarischen Offiziere, tief gerührt von der herzlichen Teilnahme und großmütigen Unterstützung, welche ihnen die freundlichen Bewohner Hamburgs in so hohem Maße angedeihen ließen, können es nicht unterlassen, vor dem Scheiden ihren innigsten Dank auszusprechen. Die dankbare Erinnerung an die edelmütigen Hamburger wird selbst in den Gefilden Amerikas im Herzen der Ungarn fortleben. Damit aber auch unser Hiersein nicht spurlos vergehe, wird unser Kamerad, Herr Eduard Reményi, einige Abschiedslieder auf der Violine im hiesigen Stadttheater vorzutragen die Ehre haben. Die Direktion der vereinigten Theater hat dies unser Anerbieten freundlich aufgenommen und wird den Tag, an welchem der Vortrag stattfinden soll, gefälligst anzeigen.« Der Tag war der 10. November 1849, und der Vortrag des ungarischen Violinisten fand im Thaliatheater statt Zwischen vier einaktigen Genrebildern spielte Reményi die Elegie von Ernst, Moliques Souvenir de la Hongrie und »Ungarische Nationalmelodien«. Diese letzten erschienen auf dem Programm mit dem Vermerk: »zusammengesetzt [59] von Reményi.« Ein neckischer Zufall hat es also gefügt, daß Reményi hier sich desselben Ausdruckes bediente, den Brahms bei der Veröffentlichung der vielberufenen »Ungarischen Tänze« 1869 für sein ähnliches Verfahren gebrauchte. Denn der von Brahms eigenhändig geschriebene, von seinem Verleger Simrock pflichtgemäß reproduzierte Titel der Originalausgabe lautet: »Ungarische Tänze – für das Pianoforte zu 4 Händen – gesetzt – von – Johannes Brahms.« Noch merkwürdiger und spaßhafter aber ist die Tatsache, daß Reményi acht Tage später sich eines Vergehens schuldig machte, das er zehn Jahre nach dem Erscheinen der »Ungarischen Tänze« fälschlicherweise Brahms in die Schuhe schob.

Ermuntert durch den Beifall des Theaterpublikums, gab der Vollblut-Magyar, der, nebenbei bemerkt, ein deutsch-ungarischer Jude war und Hoffmann hieß, am 19. November im großen Saale der Tonhalle ein eigenes Konzert mit demselben Programm, nur daß er an Stelle der Elegie von Ernst, Adagio und Rondo aus dem ersten Vieuxtempsschen Violinkonzert vortrug. Diesmal aber hatte er das bescheidene deutsche Wort »Zusammengesetzt« bereits in einprunkenderes Latein übertragen und schrieb: »Ungarische Nationalmelodien, komponiert und vorgetragen von E.R.« Reményi mag ein geübter Lateiner gewesen sein, ein ehrlicher Musikant war er gewiß nicht. Von jenem Tage an betrachtete er das musikalische Allgemeingut der ungarischen Nation für sein Privateigentum und nannte Dieb und Plagiator, wer damit als Künstler schaltete. Zur näheren Charakteristik des neunzehnjährigen Virtuosen, der fast zur selben Zeit wie Joachim am Wiener Konservatorium seine Studien gemacht, wenn auch nicht vollendet hatte, mögen die Räubergeschichten dienen, welche er in den Hamburger Zeitungen über sich verbreiten ließ. In einer von Lob stinkenden Reklame der »Nachrichten« wird Reményi über Ernst und Ole Bull gestellt und von ihm gesagt, er habe nur einen Rivalen, den (glücklicherweise) verstorbenen Paganini. Aber nicht nur als Künstler, sondern auch als Held gehöre Reményi unter die seltensten Erscheinungen. Im ungarischen Freiheitskampfe habe er die Feuerprobe so ehrenvoll bestanden, daß sein damaliger Gönner und Freund, der General Görgey, ihn mehreremale mit einer Husareneskorte [60] aus dem heftigsten Feuer habe zurückholen müssen, weil der menschenfreundliche Heerführer ein so vielversprechendes Talent nicht zu früh wollte untergehen lassen. In einer Hamburger Privat-Soiree soll Reményi auf einer Cremoneser Geige im Werte von fünfhundert Louisdors gespielt haben, dem Geschenke eines »ganz unbekannten hiesigen Kunstkenners und Instrumentenhändlers«, der ihm die kostbare Violine als schuldiges Dankopfer für seine außerordentliche Kunstfertigkeit verehrte. Vor seiner »nahe bevorstehenden Abreise nach Amerika« trat Reményi noch einmal am 25. November im Stadttheater auf. Doch scheinen sich der Amerikafahrt unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg gelegt zu haben. Wochen und Monate vergehen, die ungarischen Offiziere sind längst, von den besten Wünschen der Hamburger begleitet, über den Ozean davongeschwommen, nur ihr Kamerad sorgt immer noch dafür, daß ihr »Dasein nicht spurlos vergehe«; nach wie vor geigt er seine Abschiedslieder. Andreas Bartay, der nachmalige Direktor des ungarischen Nationaltheaters, kommt ihm zu Hilfe und ermutigt ihn auszuharren. Beide kündigen ein Konzert für den 15. Dezember an, das indessen erst am 27. Januar 1851 zustande kommt, und Reményi läßt diesem am 11. Februar noch ein Privatkonzert folgen. Bald darauf konzertiert die Lóczer ungarische Kapelle im Stadttheater, ohne Reményi. Er ist nun wahrscheinlich endlich doch nach Amerika abgefahren, tut dort ein übriges, indem er sich, wie das Riemannsche Musik-Lexikon meldet, drüben zu einem exzellenten Violinisten ausbildete, taucht aber im März 1852 schon wieder in Paris auf, der Heimat so vieler Refugiés und unsicheren Existenzen. Auch dort wußte sich Reményi interessant zu machen als ehemaliger Freund und steter Begleiter Görgeys, der, wie es in einer Pariser Korrespondenz heißt, »durch seine Töne die Wolken von der Stirn des Feldherrn verscheuchte.« Im Dezember 1852 ist er wieder in Hamburg, um von neuem Konzerte zu geben. Diesmal aber tritt er wenig hervor. Die Begeisterung für Ungarn und den nationalen Heldengeiger war abgekühlt, und es half Reményi nichts, daß er sich jetzt, anstatt auf den Zigeuner, auf den Klassiker der Violine hinausspielte. Er wollte zeigen, daß, was Joachim könne, auch ihm geläufig sei, und versuchte, mit Spohrs »Gesangsszene« und einzelnen Sätzen aus [61] Seb. Bachs Sonaten für Violine allein zu glänzen. Auch französierte er seinen Vornamen und nannte sich jetzt, da er aus Paris kam, »Edouard«.

Tatsache ist, daß Edouard die Hamburger nicht mehr so sehr entzückte wie Eduard. Sein Gedanke, mit zweiundzwanzig Jahren noch einmal die Schulbank zu drücken und seinem unfertigen, auf seinen bunten Kriegsfahrten verwilderten Violinspiel eine festere Grundlage zu geben, war gewiß löblich, kam aber zu spät. Er blieb der Zigeuner, zu dem er sich früh bekannt hatte. Selbst Liszt, der dem Kompatrioten ein Blatt in seinem Buche über die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn widmete, meint, »eine zigeunerische Eitelkeit« scheine ihn zu seinen klassischen Studien zu treiben. Reményi lasse sich in der Chaconne und in den Fugen von Bach, den Konzerten von Mendelssohn und Spohr nur deshalb bewundern, um dann mit doppeltem Feuer seine Lassans und Frischkas wieder aufzunehmen, als wollte er spielend seinem Auditorium einreden: Seht, wie viel schöner als das alles ist doch unsere Musik. Das heißt die Schwächen eines Freundes verbindlich bemänteln und entschuldigen. Liszt, dessen sachliches Urteil häufig von persönlichen Beziehungen getrübt wurde, ist zwar kein zuverlässiger Zeuge. Doch verdient er Glauben, wenn er von Reményi behauptet, daß dieser, ohne »Rommy« zu sein, sich nichtsdestoweniger in Zigeunergefühl und Zigeunerkunst eingelebt habe, und ihm nachrühmt, unter den lebenden Violinvirtuosen besitze er allein die authentische Tradition der wahrhaften Form wie des esoterischen Sinnes dieser Kunst8. Mit seinen Zigeunerweisen und der besonderen Art [62] ihres Vortrages nahm Reményi auch Herz und Sinn des jungen Brahms gefangen, und es bedurfte keiner großen Überredungskunst, ihn zu einer Konzertreise auf gemeinschaftliche Unkosten zu verleiten. Brahms hatte sich in die Dämonie dieser, gleich einer unbezähmbaren Naturgewalt hervorbrechenden, vom tiefsten Schmerz der Melancholie jäh zur wilden Ausgelassenheit übermütiger Lust hinaufschnellenden Musik verliebt. Ihre nach der geheimnisvollen Wiege der Menschheit zurückreichenden, jeder Regel spottenden Harmonien mit den übermäßigen Intervallenschritten und unberechenbaren Akkordsprüngen übten einen mystischen Reiz auf sein betroffen lauschendes Ohr aus, und der grenzenlose Reichtum ihrer mit blitzartiger Schnelligkeit der leisesten Bewegung des Gemütes folgenden, mannigfaltigen und eigentümlichen Rhythmen versprach ihm ungeahnte Schätze. Wirklich sollte ihn der Bund mit dem Zigeuner, wenn auch auf weitem Umwege, ins Goldland führen. Weder seine seelenvollen Lieder, noch seine tiefsinnige, mit süßer Melodie gesättigte Kammermusik, noch endlich sein erhabenes menschlich-schönes Requiem, sondern seine Bearbeitung der »Ungarischen Tänze« hat Brahms zuerst wirklich populär gemacht. Wer den Namen Brahms nicht kannte – und wie verhältnismäßig wenige kannten ihn 1869! – lernte ihn durch ihre Vermittlung kennen. Kein Wunder, daß jeder Primarius einer Zigeunerkapelle hinterdrein der in seinen Rechten verkürzte Erfinder der »Ungarischen Tänze« gewesen sein wollte. Schon bei Lebzeiten des Komponisten versuchte man, ihn einer Ehre zu berauben, die er sich niemals anmaßte, und er hatte kaum seine Augen für immer geschlossen, als die gemeine Verleumdung wiederum gegen ihn loszischte und sein reines, ruhmvolles Andenken begeiferte. Um die leidige Angelegenheit ein- für allemal abzutun, sei hier der geschichtlichen Darstellung vorausgegriffen und folgendes festgestellt:

Im Jahre 1874 ließ zuerst der ehemalige österreichische Regimentskapellmeister Albert Keller (magyarisiert in Kéler Béla) von deutschen und englischen Zeitungen das Märchen aussprengen, Brahms habe sich die Urheberschaft von Melodien angeeignet, die nicht sein geistiges Eigentum seien. Kéler Béla und andere nach ihm begründeten ihre Anschuldigung mit dem an sich ziemlich [63] gleichgiltigen Umstande, daß der Simrocksche Verlag die verschiedenen Arrangements eben jener Zigeunerweisen im Unterschied zu der vierhändigen Originalausgabe schlechtweg »Ungarische Tänze von Johannes Brahms« zu betiteln pflegte. Die »Allgemeine Musikalische Zeitung« brachte dann noch in demselben Jahre einen sogenannten Quellen-Nachweis und setzte auf Grund von Erhebungen, die ihr Referent im ungarischen Musikalienhandel angestellt hatte, zu jedem der zehn von Brahms bearbeiteten Tänze – mehr waren damals noch nicht erschienen – eine schon durch die vielen Akzente als echt beglaubigte »Original-Überschrift« nebst dem ebenfalls über jeden Zweifel erhabenen Namen des wahren Autors hinzu. Der überzeugende Nachweis, daß die Pecsenyanski, Rizner, Mérty, Sárközy, Nittinger u.s.w. wirklich die Erfinder der Tonstücke seien, die sie sich selbst zuschrieben, konnte nicht erbracht werden und ist überhaupt nicht zu erbringen. Gewiß dürften die Vorgeiger und Mitglieder vieler ungarischer Zigeunerkapellen, welche jene in der Luft schwebenden entzückenden Melodien festgehalten, ausgebildet und umgestaltet haben, sich mit demselben Rechte deren Eigentümer nennen, mit welchem die Redaktoren deutscher Volkslieder für deren Dichter gelten. Der Finder ist hier von dem Erfinder schwer zu trennen, und jeder, der einem solchen aus dem Volke emporgewachsenen schönen Wildling auf dem langen Wege vom Natur-zum Kunstgesange eine Wohltat aus eigenem Vermögen erweist, möge getrost zu den Sängern und Dichtern gezählt werden, auch wenn kein Buch seiner Erwähnung tut. Die »Ungarischen Tänze« sind bis auf wenige, die direkt von Brahms herrühren, allgemeines Eigentum, und gehören dem Glücklichen, der den Schatz vom Wege aufliest und seinen Gehalt zu würdigen und zu benützen versteht. Erst durch den Schliff erhält der Edelstein seinen vollen Wert, und erst die Fassung gibt ihm Ansehen und Bedeutung. Die ungarischen Amethysten und Topase wären bunte Kiesel geblieben, wenn Brahms sie nicht geschliffen und gefaßt hätte.

Einige Jahre nach dem ersten Zeitungsgeplänkel nahm Kéler Béla den fünften der von Brahms bearbeiteten Tänze für sich in Anspruch mit der öffentlichen Erklärung, er habe ihn 1858 zum [64] erstenmale im Debrecziner Sommertheater vorgetragen und als »Bártfai-emlék« (Erinnerung an Bartfeld) bei Rozsavölgyi in Budapest unter seinem Namen drucken lassen. Wie viele mögen ebenfalls sich an Bartfeld, den Geburtsort Kéler Bélas, und die dort vom Volke gesungenen Lieder erinnert haben, ohne sich einzubilden, sie hätten sie komponiert! Vielleicht sogar Reményi, der den Tanz schon 1852 spielte. Doch mußte es den Geiger schwer verdrießen, daß er bei der Verteilung der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« zu kurz gekommen war. Durch seines Kollegen geharnischtes Vorgehen ermutigt, teilte er 1879 einem Reporter des »New-York Herald« mit, daß zwar nicht alle, aber doch drei von den zehn »Ungarischen Tänzen« von ihm herstammten, als deren Urheber leider bereits andere genannt worden waren. Befragt, warum er sie nicht selbst spiele, soll, wie der »Herald« berichtet, Reményi »mit umwölkter Stirn und schmerzlichem Ausdruck« geantwortet haben: »Sie werden sich erinnern, daß wir, Brahms und ich, von Dorf zu Dorf reisten (Anfang der fünfziger Jahre), um einige Dollars zu gewinnen. In den Herbergen hatte ich die Gewohnheit, ungarische Melodien zu komponieren. Brahms sah einige davon, und, um eine kleine unschuldige Täuschung hervorzubringen, gab ich mehreren die Namen von nationalen Weisen, ohne zu verraten, von wem dieselben herrührten.« Nachdem Reményi noch beschrieben, mit welchen Gefühlen er in einer Wiener Musikalienhandlung die Kinder, Verwandten und Freunde seines Geistes wiedersah in der kleidsamen, aber fremden Tracht, die Brahms ihnen angezogen hatte, versicherte er, daß er nie wieder einen der Tänze spielen werde; das Publikum möchte sonst glauben, er spiele sie falsch, da es sich nun einmal daran gewöhnt habe, sie ganz anders zu hören, obwohl er doch eigentlich am besten wissen müßte, wie die Sachen vorzutragen wären.

Was beweisen alle diese Redereien? Nichts, als daß Brahms Gescheiteres mit den ungarischen Volksweisen anzufangen wußte, als deren angebliche Komponisten. Man braucht nur die älteren und neueren Konkurrenzausgaben der »Ungarischen Tänze« mit diesen zu vergleichen, um zu sehen, daß Brahms nicht als bloßer Arrangeur, sondern als nach- und neuschaffender Künstler am [65] Werke war.9 Er adoptierte die Kinder des fremden Volksstammes, liebte sie so zärtlich, erzog sie so gewissenhaft und stattete sie so reichlich aus, als ob sie seine eigenen gewesen wären. Darum fanden sie auch ihr gutes Fortkommen in der Welt und wurden überall mit offenen Armen empfangen. Die lächerlichen und dreisten Angriffe seiner Gegner aber beantwortete er mit zwei neuen Heften »Ungarischer Tänze«.

Joachim schrieb dem Verfasser auf eine diesbezügliche Anfrage am 15. Mai 1897: »Die Anfeindungen wegen der ›Ungarischen Tänze‹ sind geradezu kindisch und lächerlich. Erstens hat Brahms ausdrücklich ›gesetzt‹ auf den Titel geschrieben, und dann sind sie ja überhaupt zum großen Teile allgemein bekannt gewesen also Gemeingut. Von Reményi hat Brahms gewiß manche erhalten; sie schwärmten gemeinsam für ungarische Musik (wie für alle Volkslieder), als ich sie 1853 bei mir sah. Aber Brahms war überhaupt ein so fleißiger Sammler und so umfassend Kenner, daß er gewiß nicht den ungenauen Magyaren brauchte. Im dritten und vierten Heft sind einige Brahms' eigene Erfindung, und zwar fügte er diese auf Wunsch des Verlegers ein, um besser gegen Nachdruck seiner Bearbeitung zu schützen, Nr. 11, 14, 16 halte ich für ureigenste Brahmse.« Letzte Vermutung wird von Ignaz Brüll bestätigt, dem es Brahms direkt gesagt hat, daß er stellenweise eigene Melodien eingefügt, andere aber, wie er sich ausdrückte, »mit dem romantischen Blick angesehen habe,« als er sie bearbeitete.

Ein von Böswilligen erfundenes und verbreitetes noch schlimmeres, verleumderisches Gerücht lautet, Brahms habe die »Ungarischen Tänze« nicht einmal »gesetzt« und für Pianoforte bearbeitet, sondern einfach aus älteren, zwischen 1840 und 1859 in Pest erschienenen Originalien Note für Note abgeschrieben. Es würde sich geziemen, [66] darüber mit Stillschweigen hinwegzugehen, wenn der alte Kohl nicht immer wieder aufgewärmt und Leichtgläubigen oder Skandalsüchtigen als willkommener Leckerbissen vorgesetzt würde. Max Goldstein, der ehemalige Herausgeber der »New-Yorker Musikzeitung«, hat die verdächtige Speise seinen Lesern mit ernster Miene serviert (1879), und viele deutsche Tagesblätter ließen sich den Schmaus wohl behagen. Anstatt auf den versuchten und schon als solchen mißglückten Wahrheitsbeweis Goldsteins näher einzugehen, dem Verschiedenheiten in Tonart und Harmonisierung, das Weglassen melodischer Wendungen, die Vereinfachung oder Verzierung musikalischer Phrasen gleichgültige Nebensachen sind, die nicht in Betracht kommen, sei auf eines der wenigen Skizzenblätter verwiesen, die aus Brahms' Nachlaß in den Besitz der »Gesellschaft der Musikfreunde in Wien« übergingen. Dort findet sich unter anderen von dem jungen Brahms in den Jahren 1852–1854 gesammelten Melodien von Volksliedern nicht nur das Thema zu den Variationen über ein ungarisches Lied (op. 21, Nr. 2), sondern dort stehen auch die Themen zweier ungarischer Tänze: Heft I Nr. 3 und Heft II Nr. 7. Brahms hat sie in den Tonarten notiert, wie er sie von den in Hamburg konzertierenden Zigeunerkapellen oder von seinem Freunde Reményi zu hören bekam, Nr. 3 in Es Nr. 7 in F-dur. Hätte er die angeblichen Originalvorlagen gekannt, so hätte er Nr. 3 (1840 bei Wagner in Pest erschienen) in derselben Tonart notieren müssen, in welcher er den Tanz 1869 erscheinen ließ: in F-dur. Die Übereinstimmung der Tonart in Original und Bearbeitung ist ein merkwürdiger Zufall, der ohne das Vorhandensein der ersten Niederschrift recht gut gegen Brahms ausgebeutet werden könnte. Die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, daß Brahms die Melodien zu den meisten seiner 1869 und 1880 in vier Heften herausgegebenen »Ungarischen Tänze« damals nach dem Gehör fixiert hat, und die Vermutung, daß er bald nach seiner Zigeunerreise auch an die Ausarbeitung der ersten zehn Tänze ging, wird zur Gewißheit, wenn wir Dietrichs Bericht dahin vervollständigen, daß Klara Schumann eine Auswahl der zuerst zweihändig gesetzten Tänze schon im Oktober 1858 in Düsseldorf und bald darauf auch in Wien aus dem Manuskript öffentlich vorgetragen hat.

[67] Falls es noch einer Entkräftung der von Kéler, Reményi, Goldstein und Konsorten aufgestellten Behauptungen bedürfte, so könnte als schlagender indirekter Gegenbeweis eine sehr ergötzliche Geschichte dienen, die sich im April 1867 in Pest ereignete. Brahms gab dort seine zwei ersten Konzerte und dachte sich bei den Magyaren durch die »Ungarischen Tänze« zu insinuieren. Er bot, wie J.N. Dunkl, der Inhaber der Musikalienhandlung von Rozsavölgyi, erzählt, diesem am Nachmittag des Konzerttages die von ihm bearbeiteten Tänze um ein sehr billiges Honorar zum Druck an, wohlgemerkt, demselben Verlagsgeschäft, das vier Nummern der zehngliedrigen Reihe im »Original« auf Lager hatte! Dunkl wollte erst sehen, wie die Tänze dem Publikum gefielen. Die Ungarn aber wiesen die Germanisierung ihrer Nationalmelodien mit Protest zurück, und der Verleger verzichtete auf das ihm angebotene Werk. Hinterher, als die »Ungarischen Tänze« der gesuchteste Artikel des Simrockschen Verlages geworden waren, bereute Dunkl seinen Kleinmut. »Vier Palais,« seufzte er, »hätt' ich heut, wenn ich damals nit so dumm g'wesen wär'.« Brahms selbst, der seinen Bearbeitungen wenig künstlerisches Gewicht beimaß, hatte auch keine Ahnung von deren wahrem materiellen Wert. Zwar nannte er in dem Begleitbriefe vom 2. Jänner 1863, mit dem er Simrock die »Ungarischen« schickte, diese »wohl den praktischesten Artikel, den er unpraktischer Mensch liefern könne«, war aber mit den 80 Friedrichsdor, die er für jedes Heft erhielt, vollkommen zufrieden.

Fußnoten

[68] 1 »Johannes Brahms« von Heinrich Reimann (in der Sammlung »Berühmter Musiker«).


2 »Musikalische Studienköpfe« von La Mara. Bd. III.


3 »Johannes Brahms« von Hermann Deiters (in der »Sammlung musikalischer Vorträge«).


4 »Musikalische Skizzen« von Richard Heuberger.


5 Zuerst unvollständig wiederabgedruckt in Hanslicks Aufsatz: »Der neue Brahms-Katalog« (»Musikalisches und Litterarisches« p. 135).


6 Nach Florence May (»The Life of Johannes Brahms«,1905) soll Johannes die Oper in Gesellschaft seiner Jugendgespielin Lischen Giesemann aus Winsen a.d. Luhe im Winter 47/48 zum ersten Male gehört haben. Derselben Verfasserin, deren Werk seit 1911 auch in deutscher Übersetzung vorliegt, verdanken wir u.a. eine anziehende ausführliche Darstellung der Winsener Ferienepisode, die von uns nur mit einem Wort erwähnt werden konnte.


7 »Aus siebzig Jahren«. Lebenserinnerungen an W.J. v. Wasielewski.


8 Wie Reményi mit klassischer Musik, speziell mit Beethoven, umging, geht aus seiner Äußerung hervor; »Werde ich haite Kraitzer-Sonote spielen, daß sich Hoore fliegen.« Wenn er besonders gut aufgelegt war, hing er dem Thema des Variationensatzes die magyarische Schlußverzierung an, so daß die letzten Takte der Beethovenschen Melodie folgendermaßen lauteten:


2. Kapitel

9 Bei Taborszky und Parsch in Pest erschien lange vor dem Streit über die Ungarischen Tänze eine von Tisza Aladár für Klavier zu zwei Händen herausgegebene Sammlung nationaler Weisen; darunter befinden sich welche mit der Aufschrift »Népszerü Csárdások« d.h. »Populäre Csardas'.« Bei keinem dieser Tänze wird der Name eines Autors genannt, und gerade unter ihnen kommen mehrere der von Brahms bearbeiteten Melodien vor.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 1, 4. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1921, S. 42-69.
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