VII.

[307] Am 26. September 1892 meldete Brahms bei Simrock für den 3. Oktober seine Ankunft in Berlin an. Er war von Hermann Wolff eingeladen worden, dessen neues Konzertlokal, den »Saal Bechstein«, mit eröffnen zu helfen. Drei auserlesene Abende sollten am 4., 5. und 6. Oktober einander folgen. Der eigentliche Eröffnungsabend gehörte Bülow, der dritte Rubinstein, der mittlere wurde für Brahms und das Quartett Joachim reserviert. Zwischen dem B-dur-Sextett und dem Klarinettquintett spielte Brahms mit Joachim am 5. Oktober die, Bülow zugeeignete, d-moll-Sonate. Joachim hatte die erste Violinsonate vorgeschlagen, Brahms aber sich für die dritte entschieden, weil er Bülow, der mit der Berliner Hochschule und Joachim auf gespanntem Fuße stand, eine Aufmerksamkeit erweisen wollte. Er mochte dunkel fühlen, daß er auch sonst bei Bülow etwas gutzumachen habe, wenngleich er sich keiner direkten Schuld dem Freunde gegenüber bewußt war, sondern ihn nur, wie gewöhnlich, Briefschulden drückten. Er hätte sich wohl einmal bei Bülow nach dessen Befinden erkundigen können, zumal er wußte, daß es diesem nicht zum besten ging, und die Cholera in Hamburg wütete.

»Ich weiß nicht«, heißt es in dem oben erwähnten Brief, »wie ich mit Bülow stehe. Er hatte diesen Sommer den Einfall, ein Heine-Denkmal auf dem Jungfernstieg veranlassen zu wollen! Über Bülowsche Einfälle läßt sich nicht ernsthaft reden; NB. – Natürlich wollte er zu jenem Zweck zunächst ein Album mit Liedern herausgeben. Abgesehen von der mir unsympathischen Idee, habe ich Teilnahme und Beitrag abgeschlagen. So war es mir denn recht angenehm, mit neuen Klavierstücken (wie ich meinte) gefällig sein zu können. Außer einer telegraphischen Empfangsanzeige [307] habe ich aber seitdem nichts von ihm gehört, weder über diese Stücke, noch über meine – doch immer nur vorläufige Absage. – Ich weiß nicht, auf welchem Besuchsfuße Sie mit Bülow stehen. Falls Sie bei ihm vorsprechen sollten oder könnten (er ist bereits dort), so erfahren Sie vielleicht, was er über alles phantasiert. Mitspielen tue ich nicht; ich habe es herzlich satt, mit Bekannten und Freunden in anderer als der einfachsten Weise zu verkehren ...«

In der Tat war es eine starke Zumutung, von Brahms, dem glühenden deutschen Patrioten, dem begeisterten Verehrer des Hauses Hohenzollern, dem Ehrenbürger seiner geliebten Vaterstadt, zu verlangen, er sollte für die Errichtung eines Hamburger Heine-Denkmals eintreten. Hätte Brahms etwa vergessen, daß der Sänger des »Buches der Lieder«, dem er selbst einige der glücklichsten lyrischen Inspirationen verdankte, auch der Erzähler der »Berliner Schloßlegende«, der Autor der »Reisebilder«, der Dichter von »Deutschland, ein Wintermärchen« (mit dem berüchtigten Hamburger Schlußkapitel) war, – Bülow selbst würde ihn daran erinnert haben. Daß Heine »nahe vom Alsterpavillon, wo er seine schlechtesten Witze über die Hamburger gerissen«, ein Denkmal erhalten sollte, glaubte er in seiner Einladung als besondere Pikanterie erwähnen zu müssen. Und was er verschwieg, nämlich daß das Denkmal ein Tort, nicht bloß für die vom »Geiste Banko« regierten Hamburger, sondern noch mehr für den deutschen Kaiser und darum vielleicht ein Vergnügen für – Bismarck sein würde, konnte sich Brahms selbst sagen. Schon die aus eigener Machtvollkommenheit von Bülow im März des Jahres vorgenommene »Umwidmung« von Beethovens »Eroika« an den Fürsten Bismarck und die sich daran knüpfende politisch aufwiegelnde Konzertrede hatte er als eine Ungeheuerlichkeit der sonderbarsten Art empfunden. »Du hast«, entgegnet er dem Freunde im August, »wie jeder in solchem Fall, nur Deinen Zweck im Auge – ich dagegen sehe immer nur, was künstlerisch dabei herauskommt, und bedenke nur, was den Künstler angeht; vielerlei, das auch Du wohl weißt und bedacht hast, wenn nicht, wie jetzt, ein anderes Interesse Dich abhält. Ich denke auch jetzt nicht an Deinen Dichter als den Verführer, sondern nur an Deinen Wunsch, auf den ich zunächst nur mit diesem Seufzer antworte.

[308] Von jenem muß ich freilich bekennen, daß er bei mir sehr hinten in einem Schranke steht und selten zum Vergnügen herausgeholt wird. Die Klavierstücke sind vor Schreck unter den Tisch gefallen. Da sie Zeit haben, so läßt sie einstweilen liegen Dein herzlich seufzender und grüßender J.B.«

Die Antwort wäre nicht so kurz ab- und deutlich zurechtweisend ausgefallen, hätte Bülow sie nicht provoziert gehabt. Denn auch sein Brief war die ironische, halb abweisende Antwort der Frage gewesen, ob er nicht »im neuen Saal auch neue Stückchen spielen möchte«, anstatt einiger alter (Brahmsscher), die Bülow aufs Programm gesetzt hatte. Natürlich greise er, schreibt Bülow, mit allen zehn Fingern zu und erbitte sich, womöglich umlaufend, das gütigst offerierte Probeheft. »Finde ich ein meiner Prästanz entsprechendes Stückchen darin, kopiere ich's mir und retourniere Dir Dein Manuskript oder das Deines Kopisten sofort.« Nur müsse er zuvor noch »Seeluft kneipen«, doch das mache er in drei bis vier Wochen ab, erübrige also immer noch »zum Klavierschwitzen« 25 Septembertage.

Ein solches Anerbieten hätte wohl besseren Bescheid verdient. Lag Bülow so wenig daran, der Erste zu sein, der eine Reihe neuer Brahmsscher Kompositionen noch vor dem Druck, und zwar bet besonders bedeutsamer Gelegenheit, dem Publikum vorführte, daß er nicht vor Begierde brannte, die Stücke zu sehen? Aber war er auch der Erste? Konnte doch der Berliner Hochschulprofessor Heinrich Barth sich rühmen, jene »Phantasien« und »Intermezzi« bereits zu kennen. Bei einem Ischler Sommerbesuche hatte Brahms dem ausgezeichneten Pianisten, der sich auch als ernster Musiker seiner besonderen Wertschätzung erfreute, die Stücke gezeigt, ihm vielleicht Lust gemacht, sie in einem Konzert der Hochschule zu spielen. Bülow mochte, nervös überreizt, wie er war, darin abermals eine Felonie gesehen haben. Seinen Mißmut ließ er in den Zeilen aus: »Von diversesten Seiten hatte ich gehört, daß Du neuerdings Couperin posthume Konkurrenz gemacht – ich habe aber dem Kitzel neugieriger Frage mannhaft widerstanden. Zudem befürchtete ich, daß ... eingedenk des Handschuhmaßunterschiedes von Joachims Barth und meiner Schmalheit ... na, es lohnt sich nicht, den Satz zu Ende zu bringen.«

[309] Die Folge dieser gegenseitigen Empfindlichkeiten war, daß Bülow an seinem Abende überhaupt nichts von Brahms spielte, der mit Joachim unter den Zuhörern saß, daß Brahms, als er Bülow dann besuchte, ihn nicht sprechen konnte, weil der schwer Leidende unfähig war, ihn zu empfangen, und daß er sein Manuskript unbesehen, wie er glauben mußte, zurückerhielt.

»Neulich in Berlin«, schreibt Brahms später an Bülow von Wien, »legte ich die Klavierstücke still in den Koffer, nachdem ich überlegt, daß ich sie Dir nicht wohl nochmals schicken könne, da ich mit keinem Wort wußte, ob sie Dir denn recht und sympathisch seien.

Heute nun kommen sie mir in die Hand, und ich sehe mit Erstaunen und Rührung, daß gar eine Abschrift von Dir beiliegt!

Hätte ich das doch in Berlin gesehen! Meine Zweifel wären auf das schönste unnötig geworden; Dein Exemplar hätte ich freilich behalten, aber meines, das nur für Dich geschrieben war, Dir zurückgebracht.

Aber: hätte ich Dich doch überhaupt gesehen!...«

Wie oft mag Brahms diesen Seufzer noch ausgestoßen haben! Denn die Freunde sollten sich niemals wieder sehen. Bei Brahms' Hamburger Februar-Besuche befand sich Bülow noch in der Nervenheilanstalt zu Pankow. Im Pensionsfondskonzert der Berliner Philharmonie, dem letzten Konzert, das er leitete, führte Bülow am 10. April 1893 die BrahmsscheF-dur-Symphonie auf und ließ die goldenen Lettern vom Deckel der zugeschlagenen Partitur in den Saal leuchten, als hätte der große Orchesterdirigent damit dem Freunde und sich eine letzte Ehre erweisen wollen. Nun kam die von Marie von Bülow so herzbewegend und tiefergreifend geschilderte »letzte Leidenszeit«, das zwölfmonatliche Sterben des zum schrecklichsten Martyrium verurteilten Dulders, mit der überstürzten »Flucht nach Ägypten«. »Von Bülow höre ich (nicht direkt), daß er dieser Tage über hier nach Ägypten reist«, meldet Brahms am 31. Januar 1894 lakonisch von Wien nach Berlin, und am 15. Februar, drei Tage nach Bülows Tode, beginnt er einen sechszeiligen Brief an Simrock: »Von anderem nächstens.« Es wäre ihm zurzeit ganz unmöglich gewesen, über etwas, das ihn so tief bewegte, Worte zu machen. Wie nahe der Freund seinem Herzen gestanden, fühlte er erst, als er ihn für [310] immer verloren. Er hatte den Künstler hochgeschätzt – trotz mancher Wunderlichkeit und Schwäche – und war ihm, auf seine scheue und schämige Art, dankbar gewesen für die Erfolge, die er seinen Werken verschaffte. Ohne Vorbehalt und Hintergedanken aber hatte er den edlen Menschen geliebt. An die trauernde Witwe einen Kondolenzbrief aufzusetzen, gewann er seiner Natur nicht ab. Um nicht teilnahmelos zu erscheinen, wandte er sich lieber an Toni Petersen und schrieb ihr am 25. Februar:

»Sehr geehrtes Fräulein. Für Ihr Telegramm1 war ich Ihnen sehr dankbar. Von Freunden gemeldet, klingt eine Trauerbotschaft doch milder, als in der Zeitung gelesen. Für einen längeren Brief wäre ich Ihnen gar gern verpflichtet gewesen! Denn wir erfahren hier für unsere Teilnahme zu wenig. Doch scheint jetzt bestimmt zu sein, daß die Leiche des Teuern nach Hamburg kommt. Dürfte ich Sie in dem Fall bitten, einen Kranz für mich zu besorgen mit der Aufschrift: ›In Liebe und Verehrung – J.B.‹ und mir gütigst (bei Gelegenheit des gewünschten Briefes) zu schreiben, was ich Ihnen, außer meinem besten Dank, dafür schulde.

Frau von Bülow aber bitte ich meine verehrungsvollen Grüße zu sagen, wenn Sie sie wiedersehn oder ihr schreiben – ich weiß leider nicht, wohin man ihr sagen kann, wie teilnahmvoll man ihrer gedenkt, und wie bewundernd der schönen weiblichen Kraft, mit der sie so Schweres trug und durchführte. Unklar bleibt unsereinem, wie die Hamburger Ärzte und Freunde ihr das Letzte und Schwerste nicht ersparen konnten – doch wir wissen eben nicht genug von der Sache ...«

Brahms erbat dann eine »bescheidene« Rechnung für den von ihm bestellten Kranz und schrieb dazu an Frl. Petersen: »Was sagte wohl die Hamburgerin und verehrte Landsmännin zu jenem Eigenschaftswort?!« Die Dame hatte nämlich telegraphisch angefragt, ob sie zweihundert Mark auslegen dürfe, und Brahms ihr geantwortet, das wäre zuviel für einen Kranz seiner Bescheidenheit. An der in Hamburg am 29. März veranstalteten pompösen Leichenfeier nahm Brahms nicht teil. Dafür erhielt [311] Simrock den Auftrag, je tausend Mark dem Liszt-Pensions-Verein in Hamburg und dem Pensionsfonds des Philharmonischen Orchesters in Berlin (d.h. den Unterstützungskassen der beiden von Bülow geleiteten Orchesterverbände)2 auszuzahlen, mit der schriftlichen Beilage: »Am 29. März gewidmet von J.B.« Buchstaben! schreibt Brahms eigens vor. Die Quittungen wollte er an Bülows Witwe schicken, als Entschuldigungszettel für sein Ausbleiben. Wie gewöhnlich, wurde Brahms mißverstanden. Zu seinem großen Verdrusse kehrte sich Simrock nicht genau an die ihm gegebene Vorschrift und mußte sich von Brahms zurechtweisen lassen: »Ich schrieb ausdrücklich und deutlich: daß J.B. (Buchstaben, Chiffre), am 29. März das Geld widmet – an Bülows Begräbnistag, also ihm zum Gedächtnis. Die beiden so lautenden Quittungen wünschte ich, um damit Frau v. Bülow zeigen zu können, daß mich nicht Sparsamkeit von der Reise nach Hamburg abgehalten hat! Ihre Quittung, die Bestätigung, daß Sie das Geld gezahlt haben, brauche ich nicht. Jetzt habe ich bloß das Pläsier, als großmütiger Mann in die Berliner und Hamburger Zeitungen zu kommen – und Ihnen für Ihre Bemühung zu danken ...«

Auch den im März 1894 in Hamburg und Berlin veranstalteten musikalischen Gedenkfeierlichkeiten blieb Brahms fern. An Siegfried Ochs, der ihn nach Berlin zur Bülow-Feier eingeladen hatte, schrieb er von Wien am 3. März 1894.

»Sehr geehrter Herr, es drängt mich außerordentlich, Ihrer Feier beizuwohnen, und es wäre mir gewiß höchst wohltuend, ernste Worte und feierliche Töne unserem teuren Dahingeschiedenen zu Ehren erklingen zu hören. Aber – abgesehen von dem, was mich hier derzeit festhält – ich habe soeben abgelehnt, in Hamburg eine solche Feier mitzumachen. Allernächstens aber wird mich ein stärkerer Anlaß dort hinrufen. Von hier aus jedoch hin- und herzufahren, dazu gehört wohl ein habilerer Reisender, als ich es bin. So zweifle ich, ob ich zum Entschluß komme, Ihr Zuhörer zu sein. Im Geist aber wird es wohl nicht jemand mit herzlicherem Gedenken sein als Ihr ergebenster Johannes Brahms.«

[312] Seine tieferen Gründe verschwieg er, weil er mit Recht befürchten mußte, sie würden falsch aufgefaßt werden. Schon der Gedanke, daß er vor Jahr und Tag den zum Gedächtnis Elisabet von Herzogenbergs in Leipzig und Berlin abgehaltenen Feierlichkeiten ausgewichen war, hätte ihn nicht fortgelassen. Joachim, der wußte, wie sehr Brahms der »herrlichen Frau Lisel« ergeben war, und wie sehr diese gerade diec-moll-Symphonie liebte,3 hatte das Programm zu der intimen, nur Eingeweihten zugänglichen Feier »nicht ohne Hinblick auf Brahms« entworfen und die Symphonie angesetzt. Wir werden noch sehen, wie Brahms das Andenken der am 7. Januar 1892 in San Remo Gestorbenen feierte.

Die oben erwähnte Hamburger Reise (Februar 1893) hing mit einem Todesfall zusammen, der ihn zwar näher anging, aber doch nicht so schmerzlich berührte wie der Verlust der Freundin und des Freundes. Über das Verhältnis zu seiner Schwester Elise haben wir im vorigen Kapitel bei Gelegenheit der Testamentserrichtung gesprochen. Elise hat ihrem Bruder bis zu ihrem am 11. Juni 1892 erfolgten Tode nur Kummer und Verdruß gemacht. Alle Versuche, die Eitle und Vergnügungssüchtige, welche nach dem Ableben ihres Mannes das ihr vom Bruder zugeschossene Geld mit schmeichlerischen Freundinnen vertat, zur Änderung ihrer Lebens- und Sinnesart zu bringen, schlugen fehl, und der liebevoll vorsorgende Johannes, der nicht erfahren konnte, worauf eigentlich die vielen Zuschüsse verbraucht wurden, mußte sich's gefallen lassen, bei Freunden verdächtigt zu werden, und bekam bittere Worte hinunterzuschlucken, als er seinen Vetter Christian Detmering ins Vertrauen zog und zum Finanzrat der Schwester ernannte. Detmering sei immer so freundlich gegen die Seinigen gewesen, schreibt ihm Brahms, daß er sich erdreiste, mit einer kleinen Bitte zu kommen. Es wolle ihm nicht gefallen und nicht praktisch erscheinen, der Schwester größere Summen ins Haus zu schicken. Ob Christian wohl erlaube, daß er ihm das Geld zur Aufbewahrung übersende mit der Bitte, es Elisen in kleineren Raten, je nach Bedarf, zu geben. Das Geld (»gewöhnlich tausend Mark«) würde ihm einfach von Berlin im Auftrage Simrocks zugehen.

[313] Man muß die von Brahms an Detmering und Elise gerichteten Briefe gelesen haben, um die namenlose Herzensgüte und Geduld eines Mannes zu bewundern, der, auf den Höhen der Menschheit wandelnd, ganz andere Dinge im Kopfe hatte, als die Gemeinheiten niedriger Naturen zu beachten, die auf seine Kosten lebten, gegen ihn hetzten und ihn obendrein auslachten. »Wenn man Dich«, schreibt Brahms an den Vetter, »und Deine neueste Art, Verrechnung zu verlangen, nicht glimpflich beurteilt, da kannst Du alle Schuld auf mich abwälzen, kannst auch meinethalb weidlich mit schelten auf mich! Du aber weißt, daß ich gern alles Mögliche für Elise tue und ausgebe, nur recht viel Ursache habe, anzunehmen, daß sie (und andere) mein Gehenlassen mißbraucht haben.« Als die Schwester erkrankte, sorgte Brahms dafür, daß sie außer ihrem Dienstmädchen noch eine Wärterin habe. »Ich brauche Dir nicht zu sagen, wie sehr es mir recht ist, daß Du diese gut bezahlst. Gute Pflege und Geduld bei einem Kranken ist mehr wert, als man Lohn geben kann. Wenn Du erst wieder gesund bist, freue ich mich darauf, ihnen das zu zeigen ...« Kaum von einer schweren Influenza aufgestanden, wünscht Elise, an den Rhein zu reisen, und Johannes, der ihr Erholung und Ruhe dringend empfiehlt, fügt hinzu: »Aber freue Dich nur einstweilen immer schon auf die schöne Reise für den Spätsommer etwa.« Jetzt werde es ihr leicht sein, Abrechnungsnotizen deutlich und regelmäßig nach dem Datum fortzusetzen: »Ich werde nicht leicht gegen eine Ausgabe sein, die Dir Freude macht, aber Klarheit und Offenheit deinerseits wünsche ich mir sehr ...« Zum Geburtstag muß er ihr doch seinen schönsten Gruß und seine besten Wünsche sagen ... »Der 11. Februar ist einer der wenigen Tage im Jahre, die mir auffallen, und an die ich schon vorher denke ...« sie soll ihn nur möglichst bald wissen lassen, daß sie den Tag recht vergnügt und heiter verlebt habe ... »Grüße auch Detmerings und die Mutter, wenn Du sie siehst, und die hübschen Viecher im Zoologischen Garten, die Du wohl öfter zu sehen kriegst ...« (Ob Elise die wohlgemeinte kleine Malice verstanden hat, die in der indirekten Frage liegt?) Daß er sich vor Weihnachten mit herzlichem Gruß zu den Festtagen einstellt, versteht sich bei Brahms von selbst: »Wenn ich dort wäre, sollte auch ein hübscher leuchtender [314] Weihnachtsbaum Dich anlachen, und wir könnten zusammen plaudern. Das können wir aber hoffentlich nachholen, denn ich denke ernstlich, den Winter noch einmal nach Hamburg zu kommen!...«

Der letzte Brief, den Brahms im Juni 1892 von Ischl an die Schwester richtete, beginnt mit den Worten: »Ich möchte Dich so gern wieder einmal besuchen und denke immer daran, wie die etwas weite Reise möglich machen ...« Den Tag vorher, am 11. Juni, war Frau Elise Grund gestorben. An Detmering, der ihm die Nachricht telegraphisch mitteilte, schreibt Brahms: »Lieber Christian, eben kommt Deine Depesche. Dir und ihr schrieb ich noch gestern und denke unwillkürlich, wie gern ich ihr weiter schriebe, wie gern ihr doppelt freundlich gewesen wäre und weiter sein möchte. Das Leben ist nicht so einfach, wie es im Augenblick des Todes aussieht. Mit welchen Empfindungen und Wünschen denke ich jetzt gar an die Eltern zurück!... Sollte Dir irgend etwas irgend wünschenswert sein (vom Nachlaß), so gehört es Dir natürlich, und ich bitte nur, es mir zu sagen. Ein kleines silbernes Tintenfaß (Schreibzeug) ist mit meinem Namen bezeichnet, und bitte, mir zu bewahren, ebenso, wie ich schon bat, alles, was an Briefen, Büchern und Bildern da ist ...«

Das silberne Schreibzeug war kein anderes als das, welches dem jugendlichen Dirigenten des Hamburger Frauenchors am 26. September 1859 von seinen dankbaren Sängerinnen verehrt wurde, als er nach Detmold abreiste.4 Der Schwester hatte er dieses wie andere Andenken an seine Hamburger Jugendjahre überlassen, einem Fremden gönnte er den Besitz nicht. Schwer lagen ihm, wie er an Detmering weiter schreibt, die beiden großen Ölbilder der Eltern auf dem Herzen: »Sie sind mir sehr wert und teuer, aber in mein Wiener Zimmer gehen sie buchstäblich nicht hinein. Vaters Bild ist in Pinneberg, kann das der Mutter nicht weiter bei Dir oder wo bleiben? Ich muß sehen, was hernach geschieht ...«5

[315] Der Tod der Schwester gab den ersten Anstoß zu der oben angedeuteten Testamentsänderung. Dazu kamen mit der Zeit noch andere Ereignisse und Umstände, welche auf die Entschlüsse des Erblassers einwirkten. Daß die Wiener »Gesellschaft der Musikfreunde« den sechzigsten Geburtstag ihres Ehrenmitgliedes zum Anlaß nahm, Brahms ein dauerndes, für Mit- und Nachwelt berechnetes Zeichen huldigender Verehrung zu spenden, verlieh dem Verhältnis zwischen ihm und der Direktion, das sich bis dahin nicht weit über den Austausch von Höflichkeiten erstreckt hatte, einen herzlicheren Charakter. Jene übelwollenden Quälgeister, die dem ehemaligen artistischen Direktor das Leben sauer gemacht und die Freude an seinem Amt von Anfang an verdorben hatten, waren in zeitlichen oder ewigen Ruhestand getreten, und bessere Elemente standen an ihrer Stelle. Direktionsmitglieder wie Josef Freiherr von Bezecny, Adolf Koch von Langentreu und Ludwig Koch, Kapellmeister wie Wilhelm Gericke und Johann Nepomuk Fuchs, in ihrer Eigenschaft als Leiter der Konzerte und des Konservatoriums, trugen nicht wenig zur Hebung des moralischen und künstlerischen Ansehens bei, das die altbewährte Gesellschaft intra et extra muros genießt.

Immerhin zögerte Brahms bis zum Frühjahr 1895, ehe er sich den Ischler Brief von 1891, der seinen letzten Willen enthielt, zurückerbat. Er hätte dies vielleicht auch dann noch unterlassen, [316] wenn er nicht durch eine verfehlte Spekulation Simrocks plötzlich zwanzigtausend Mark verloren hätte. »Des berühmten Bankrotts wegen«, schreibt er am 5. April 1895 an Simrock, »mache aber keinen unnützen Spektakel – das wäre vor allem, wenn Du mir den Schaden – lächerlich! Du weißt doch, daß ich trotz des Bankrotts einstweilen noch zu leben habe. Selbstverständlich habe ich – außer wenn ich Dir schrieb – keinen Augenblick an die Sache gedacht! Nur eines hätte sie mir ärgerlich machen können: wenn ich selbst nämlich schuld wäre, den Ankauf solcher Papiere selbst gewünscht hätte! Du mißverstehst das doch nicht?! Ich würde mich schämen und sehr ärgern, wenn ich auf solche Weise hätte Geld verdienen wollen. Hat sich ein guter Freund geirrt, so tut er mir mehr leid als ich mir – nein, nur er, denn ich denke wirklich an Geld nur, solang davon die Rede ist.«

Am 13. April bittet er dringend und befiehlt ernstlich, daß Simrock dem »Bankerott«, wie er den Verlust spaßhaft nennt, ja nichts nachschicke, was ihm noch ärgerlicher wäre. Er denke, sie könnten sich vergleichen. Wolle Simrock den von ihm verschuldeten Verlust jetzt ersetzen, so käme das Geld nur seinen Erben zugute, und das könne ihn doch nicht interessieren? Er möge also im nächsten Briefe bekennen, daß er ihm 20 Mille schuldig sei und sie bezahlen wolle, wann er, der Gläubiger, es wünsche (d.h. nie!). Dann fährt Brahms fort:

»Dadurch komme ich dann darauf, daß ich Dir längst (natürlich) ein anderes, neues Testament schicken will. Ich möchte nämlich, von einigen Legaten abgesehen, die Gesellschaft der Musikfreunde hier zu meiner Erbin machen. Nicht für Stipendien und derlei, sondern zu durchaus freier Verfügung, um sich von Schulden freizumachen und sonst freier vorangehen zu können« ...

Dieser Passus begründet und erklärt die erste Nachtragszeile des Ischler Briefes: »Vermögen u. Bibl. der Gesellschaft zu durchaus freier Verfügung«, so daß ein Zweifel an den damaligen Absichten des Schreibers nicht bestehen kann. Aus dem Briefwechsel ist ferner ersichtlich, daß Brahms schon im April 1895 das alte Testament annullieren und durch ein neues ersetzen wollte, wozu es nicht mehr gekommen ist, da er auch das am 4. Februar 1897 mit Dr. Fellinger in mehrstündiger mündlicher Verhandlung gründlich [317] durchgesprochene, ihm am 5. Februar zur eigenhändigen Abschrift übergebene Schriftstück unerledigt, d.h. weder kopiert noch mit Unterschrift und Datum versehen, in seiner Schreibtischlade liegen ließ. Daß sich der Inhalt des von Dr. Fellinger sofort mit seinem Rechtsfreunde Dr. Langer ins Reine gebrachten Entwurfes vom 5. Februar mit den Nachtragsnotizen und den von Brahms nicht durchstrichenen Stipulationen des Ischler Maibriefes von 1891 deckte, bedurfte weder eines Beweises noch eidlicher Bekräftigung, da die Dokumente vorlagen. Überdies spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß, was Brahms 1891, 1895 und 1897 wollte, auch noch am Ende sein Wille gewesen sein würde. Dennoch konnte, ja, durfte die gerichtliche Entscheidung, welche weder das korrigierte Mai-Testament von 1891 und 1895 noch dies nicht legalisierte Schriftstück vom Februar 1897 gelten ließ, keine andere sein. Schon deshalb nicht, weil alle möglichen Vermutungen darüber, warum Brahms die ihm eingeschärften Formalitäten nicht vollzog, gegenstandslos werden, sobald die Erkenntnis Platz greift, daß den wahren Grund niemand weiß. Im stillen kann Brahms in der Zeit vom 6. Februar bis zum 4. April 1897 seine Willensmeinung hundertmal geändert haben, oder kann, von irgendwelchen neu aufgetauchten Bedenken bedrängt, überhaupt nicht schlüssig geworden sein. Wer mag sich vermessen, zu sagen: Dies oder das war sein letzter Wille? Den Zufallslaunen und Schicksalstücken, denen kein Sterblicher entgeht, darf das Gesetz nicht preisgegeben werden: es schützt andere, indem es sich selbst schützt. Unvollkommen, wie alles Menschliche, muß es auf den Forderungen und Anordnungen bestehen, die sich als die relativ besten und brauchbarsten erhärtet haben. Nicht ein idealer »letzter Wille«, sondern die reale Urkunde entscheidet.

Seinen letzten Besuch in Hamburg vom Februar 1893 verband Brahms mit Reisen nach Meiningen, Frankfurt und Berlin. Im herzoglichen Hoftheater erprobte Widmann die dramatische Wirkung seiner Komödie »Jenseits von gut und böse«, und Brahms verlebte, nachdem er im Kammermusikkonzert das Klarinettrio und (mit Hausmann) die zweite Cellosonate gespielt hatte, mit dem Dichter lang ersehnte Stunden herzlichen Einvernehmens und anregenden Gedankenaustausches. Dann meldete [318] er sich bei Frau Schumann an und wurde von ihr mit gemischten Gefühlen erwartet. Ihr Tagebuch bekennt vom 31. Januar:

»Brahms kommt heute. Wie ist mir bange ums Herz! Könnte man sich über all die Vorgängnisse der letztvergangenen Jahre, die mich so betrübt haben, aussprechen! Aber das ist ja unmöglich bei ihm: er wird gleich so heftig, daß man verstummt ... Abends Ankunft von Brahms. Er sieht sehr wohl aus und ist guter Stimmung.« Zwei Tage danach spielte er ihr seine neuen Klavierstücke vor, und es war ihr, wie sie sagt, eine schöne Genugtuung, zu sehen, daß sie alle in seinem Sinne aufgefaßt hatte. Da sie die Kompositionen bereits genau kannte, wurde sie durch ihr Gehörleiden, das sie mit Klängen von Quartsextakkorden verfolgte, nicht im Genusse gestört. Auch Brahms war mit den Ergebnissen seiner Reise sehr zufrieden und bedankte sich bei Klara Schumann für die schönen Frankfurter Tage, die ihm »so ungemein wohl und gut getan haben«. »Wie die Götter mit uns Menschen umgehen«, fährt er fort, »bleibt ewig ein schauerliches Rätsel. Daß sie Dich aber mit häßlicher Musik plagen, ist doch gar zu sinnlos. ›Von anderer Sünde weißt Du nicht‹, und um sie, die Götter, und um sie, die holde Kunst, hast Du's doch wahrlich nicht verdient! Wie vielen in unserer Zeit wäre eine Wollust, was dir unerträgliche Pein ist! Unser großer Bruckner wäre selig, Deine verhaßten Klänge im Ohr zu haben – wir kriegten sie dann Sonntags als Symphonie zu hören ...«

Bei Millers erzählte Brahms, daß er bei der Sichtung der schwesterlichen Hinterlassenschaft eine Menge »langer und ganz inhaltsvoller, an die Eltern und Elise gerichteter Briefe« zerrissen habe. Er selbst hätte gestaunt, einmal so mitteilsam und so ausführlich gewesen zu sein.

Viktor v. Miller suchte dafür zu sorgen, daß Brahms' sechzigster Geburtstag in Wien nicht spurlos vorübergehe. Er plante eine Stiftung, stieß aber bei Billroth und Nikolaus Dumba, dem hoch angesehenen Wiener Mäzen und Schubert-Sammler, der früher ein ebenso rühriger Freund Herbecks gewesen war, wie er später ein Verehrer von Brahms wurde, auf unerwarteten Widerstand, als er auf ihre Mitwirkung rechnete. Billroth kannte die Gesinnung seines Freundes zu gut, als daß er [319] den Namen Brahms mit Stipendien für junge Musiker verknüpft wissen wollte, die, nach Brahms' öfters ausgesprochener Ansicht, nur zur Züchtung »schwächlicher Mittelmäßigkeiten« dienten. Glücklicher war Miller mit dem Vorschlage, den er der »Gesellschaft der Musikfreunde« durch Dumba unterbreitete, zum 7. Mai eine Brahms-Medaille prägen zu lassen. Der tatkräftige Nachdruck, den er seiner Anregung lieh, hatte keinen Widerstand zu fürchten, und als Generalintendant Baron Bezecny die Direktion zu einer außerordentlichen Sitzung einberief, wurde der Antrag, zur Freude Millers, einstimmig angenommen.

Die Aufgabe, Brahms dem berühmten Wiener Medailleur Anton Scharff vor das Modellierstäbchen zu bringen, war nach den Antezedentien Tilgners nicht mehr schwierig; auch freute es Brahms, von dem diskreten Miller zu hören, daß der Auftrag von der »Gesellschaft der Musikfreunde« ausging, die, wie wir wissen, nach Kräften sühnen wollte, was zu Herbecks Zeiten mit leichtem Sinn und bösem Willen an ihrem Dirigenten gefrevelt worden war.6

Geduldiger, als er mit Tilgner gewesen, hielt Brahms bei Scharff aus; der Medailleur, ein aufgeweckter, witziger Wiener, und Freund Miller verkürzten ihm die Langeweile, und als der Bildner an dem Kopf, »mit dem er der Welt ein Loch schlagen wollte«, immer noch allerlei auszusetzen hatte, gewährte ihm Brahms aus eigenem Antriebe noch eine Sitzung. Es war ihm eine besondere Freude, dem Künstler, den er aus vielen seiner vortrefflichen Arbeiten kennen und schätzen gelernt hatte, gefällig zu sein. Das kleine Meisterwerk gedieh denn auch zur allgemeinen Zufriedenheit, und Brahms, der, außer seiner für ihn in Gold geprägten Denkmünze, noch einige Exemplare in Bronze erhielt, verschenkte diese an die nächsten Freunde, wobei er sich entschuldigte und den Wert des Geschenkes nach dessen Seltenheit geschätzt wissen wollte: »Die Direktion gibt nur äußerst wenig Exemplare weg!« Miller und Artur Faber ließen dann Stempel in verkleinertem und vergrößertem Maßstabe nach dem Original anfertigen. (Ein großes, für Faber neu gearbeitetes Medaillonporträt ist in phototypischer getönter [320] Nachahmung dem Schlußbande unserer Biographie als Titelillustration beigegeben.) Scharff nahm an dem Modell abermals Korrekturen nach dem Leben vor, und so kam endlich nach dreimaligem Anlauf das ähnlichste Profilbild zum Vorschein, das wir von Brahms besitzen.

Seinen sechzigsten Geburtstag in Wien zu verleben und sich dort feiern zu lassen, war Brahms nicht zu bewegen. Vergebens sandte ihm die Gesellschaft der Musikfreunde ihren Generalsekretär Ludwig Koch, mit der Bitte, am 7. Mai ihre Deputierten zu empfangen, vergebens rüstete der Wiener Tonkünstlerverein eine Praterexpedition mit obligatem Festmahl aus, vergebens hofften so und so viele Familienhäuser, das ungebärdige Geburtstagskind als Tischgast bei sich zu begrüßen. Auch für die Feierlichkeiten, die in Hamburg und Berlin, am Rhein und in der Schweiz schon lange vorher geplant wurden, war er nicht zu haben. Friedrich Hegars Einladung, den 7. Mai 1893 bei den Freunden in Zürich mit einigen Festaufführungen zu feiern, für welche der gemischte Chor und das Orchester zur Verfügung ständen, hatte er am 29. September 1892, wie folgt, beantwortet:

»Nächstens nehme ich so einen hübschen Bogen von vorn und versuche, Ihnen und Ihrem Verein ungefähr mein Dankgefühl auszusprechen für Ihr gar so freundliches und gütiges Vorhaben zum nächsten 7. Mai. Heute lassen Sie mich nur sagen, daß, ganz im Gegenteil, ich Ihnen längst mit einer Einladung kommen wollte. Nur meine Schreibfaulheit ist schuld, daß Sie mir zuvorkamen. Ich wollte nämlich Sie und Widmann fragen, ob Sie nicht im nächsten Frühling auch wie ich ein wenig nach Italien wandern möchten?

Wann und wohin, ist mir ganz einerlei; wenn wir nur am 7. Mai sicher tief in den Abruzzen oder sonstwo stecken, wo gewiß niemand dazu kann, wenn wir uns einiger wehmütiger Betrachtung (hoffentlich sehr lustig) hingeben. Sie sehen, meine Absichten und Gedanken sind ganz anders als Ihre, und in meinem demnächstigen Briefe wird nichts stehen als sehr viel Dank für so überaus freundliche Gesinnung ...«7

[321] Wegen der Reise wurde zwischen Brahms und Widmann in Meiningen weiter verhandelt, und am 28. Februar fragt Brahms bei dem Berner Freunde ärgerlich an, ob er denn das Brief-Rennen nach Sizilien noch einmal mitmachen solle. Er könne nur den Tag der Abreise ernst nehmen: den 1. April! und daß Widmann und die andern alle sehr, sehr wenig Zeit haben. »Wenn Sie nun weiter von Sizilien phantasieren, so wird der Gedanke an das Geld Sie immer weniger genieren – schon weil Sie gewiß keines dazu gebrauchen! – Der Gedanke aber an den freundlichen Klavierprofessor ist ja angenehm.« – Mit dem »freundlichen Klavierprofessor« ist Robert Freund gemeint, der sich Hegar anschließen wollte. Das Brief-Rennen blieb dem »Abseiter« allerdings nicht erspart, aber es brachte ihn diesmal ans Ziel, er wurde nicht wieder in den April geschickt. Wüßten wir nicht, warum Brahms die Aussicht auf die endliche Erfüllung eines vieljährigen Wunsches jetzt gleichmütiger hinnahm als noch vor nicht gar langer Zeit das Fehlschlagen seines Lieblingsplanes, wir würden kaum verstehen, warum er jetzt vor dem verheißenen Reiseziel zurückbebte. Die beiden Freunde, schreibt er am 31. März an Widmann, kennten doch Italien wenig oder gar nicht, würden also, gleich ihm, sich mit Siena, Perugia oder Capri und Amalfi begnügen. »Ich wäre mit noch viel Bescheidenerem zufrieden, und es ist eine Art Bescheidenheit, wenn ich nicht recht an Sizilien denke.« Die selige Insel seiner fünften und sechsten Symphonie war ihm für immer versunken!

Abergläubische Gemüter könnten wähnen, er habe das Unglück geahnt, das seinen lieben Widmann bei der Rückfahrt von Messina nach Neapel ereilen sollte. Brahms aber spielte mit dem Aberglauben, wie er in höherem Sinne mit dem Glauben spielte, der bei ihm eine Angelegenheit der künstlerischen Phantasie war, und betrachtete ihn als dessen Korrelat, sobald er irgendein unglückliches Vorzeichen sich zu seinen Gunsten deuten konnte. Ein anderer hätte die Reise schon in Verona aufgegeben, da ihm dort sein Portefeuille abhanden kam. Es wäre ihm, aus mehreren Gründen, peinlich gewesen, sich und den Freunden damals einzugestehen, daß ihm das Geld gestohlen worden war, was er dem Verfasser hinterher ehrlich sagte. An Simrock schreibt er von Palermo: [322] »Ich hatte das Abenteuer, mein ganzes Reisegeld zu verlieren. Hoffentlich genügt das Opfer den Göttern, und gönnen sie uns sonst alles Gute und Schöne.« Zum Rendezvous in Mailand kam er seelenvergnügt am 16. April abends mit leerem Beutel und prahlte damit, daß er das Heil der Reisegesellschaft so billig von dem Neide der Unterirdischen losgekauft habe. Widmann hatte sein Retourbillett von Bern nur bis Genua nehmen dürfen, und die beiden Züricher Freunde taten auf den Rat des gewiegten Italienfahrers das gleiche. Als einsichtsvolle Männer, meinte Brahms, müßten sie mit ihm davon überzeugt sein, daß die längere Meerfahrt der unausbleiblichen kurzen, unter allen Umständen aber der Qual der langen Eisenbahntour vorzuziehen sei. Als es aber im Hafen von Genua bei etwas bewegter See ans Einschiffen gehen sollte, erkundigte sich Brahms nach der Herkunft des für Sizilien bestimmten Dampfers und erklärte, da dieser ein ungarisches Schiff war, lachend, daß zwar die Böhmen, laut Shakespeares »Wintermärchen«, nicht aber die Ungarn eine seefahrende Nation seien, er infolgedessen den Landweg vorziehe. Von Sizilien war er dann zu Wasser nur dadurch wegzubringen, daß die Freunde, die ihm sonst jeden Gefallen taten, hinter seinem Rücken die Dampfbootbillette kauften, um die endlose, früher von ihm selbst verabscheute Eisenbahnfahrt nicht machen zu müssen.

Noch von Genua aus kündigte Brahms auf einer »Al illustrissimo Signore Hanslick Eduardo da Vienna, Albergo Vittoria Sorrento presso di Napoli« adressierten Cartolina dem Wiener Freund, der sich gerade in Sorrent aufhielt, für den 19. April einen Überfall des unternehmungslustigen Quartetts an. Sie brachten, wie Widmann in seinen »Erinnerungen« bestätigt, einen fröhlichen Tag in den Orangegärten des hohen Strandfelsens zu, und der Klavierveteran Schulhoff, der zufällig auch im Hotel Viktoria wohnte, war mit von der Partie. Den Freunden die Herrlichkeiten Siziliens zu zeigen, gereichte Brahms zum größten »Pläsier«, er tat, als ob er die Insel eigens für sie entdeckt hätte, und war der Unermüdlichste von allen. »Man mußte ihn«, schreibt Widmann, »an den Hohenstaufensärgen im Dom von Palermo sehen: ihn, dessen Liebe zum deutschen, mächtigen Vaterlande eine so unbegrenzte war, und der sich an solcher Stelle alles dessen [323] erinnerte, was die Kaiser jenes Hauses, die vor mehr als sechs Jahrhunderten den Traum des starken deutschen Reiches geträumt, zu dessen Erfüllung aufgewendet hatten. Für Brahms war das nicht bloß Sache des historischen Erwägens; den Tod des jungen Konradin fühlte er wie eine noch immer ungesühnte Freveltat, und wenn er zuweilen sich in heftigen Ausdrücken über das ›Pfaffentum‹ erging, so waren das Äußerungen ernsten Manneszornes, der in seinem deutschen Vaterlandsgefühl wurzelte.« In einem Notizkalender hat Brahms das Schema zu seiner letzten italienischen Reise aufgezeichnet:


»15. Aprilnach Genua

21. Aprilnach Palermo (Albergo Centrale)

26. Aprilnach Girgenti (Albergo Belvedere)

28. Aprilnach Catania (Grande Bretagne)

do. Aprilnach Syrakus

1. Mainach Taormina (Bellevue)

3. Mainach Messina

Mainach Neapel

7. Mainach Venedig

10. Mainach Wien

18. Mainach Ischl.«


Im ganzen wurde der Plan aufrechterhalten: fünf Tage waren für Palermo, je zwei für Girgenti, Syrakus und Taormina berechnet. Beim Abstieg von dem alten Sarazenenstädtchen Mola geriet Brahms, der so schnell hinunterlief, daß ihm die andern nicht folgen konnten, in Lebensgefahr. An den Rand eines Steinbruchs gelangt, wollte er nicht umkehren, um den steilen Felsen nicht noch einmal erklimmen zu müssen, und kletterte an den Wänden bergab. Ein in der Nähe arbeitender Tagelöhner war der rettende Engel, der ihm von der Wand auf den Weg nach Taormina zurückhalf. Seinen Geburtstag gedachte er, wie man aus dem Itinerarium ersieht, in Venedig zu verleben. Den 7. Mai aber brachte er, wie schon oben, bei der Bestimmung des es-moll-Intermezzos, angemerkt, am Krankenlager Widmanns zu. In Messina, an Bord des Dampfers »Asia«, der die Reisenden nach Neapel bringen sollte, wurde der Dichter von einem am Kran hängenden Frachtstück in den inneren Schiffsraum gestoßen, blieb aber [324] in einem eisernen Ringe des Kraus hängen, der ihn zwar vor dem tödlichen Sturz in die Tiefe bewahrte, ihm aber den linken Fuß über dem Knöchel brach. Trotz seiner Schmerzen hatte der in Neapel ausgeschiffte und in das nächste Hotel getragene Verunglückte einen poetischen Festgruß an Brahms aufgesetzt, den Hegar und Freund diesem am Morgen des 7. Mai überreichten. Sie fanden Brahms, eine Zigarette rauchend, im Bett liegen; er wehrte ihnen ängstlich ab: »Nur keine Ansprache!« und bestand darauf, daß sie den Ausflug nach Pompeji machten, die Sorge für den Patienten aber ihm überließen. »Ich kann nicht beschreiben«, sagt Widmann, »wie umsichtig, aufopfernd und herzlich Brahms an meinem Lager sich benahm. Die Funktion des Arztes, so wenig schmerzhaft sie für mich war, regte ihn aufs furchtbarste auf, was er jedoch durch scherzhafte Reden zu verbergen suchte, indem er zwischen grimmig aufeinander gebissenen Zähnen hervorstieß: ›Wenn's ans Schneiden geht, dann bin ich der richtige Mann; ich war bei solchen Sachen immer Billroths Assistent.‹ Als wir uns allein befanden, sorgte er wie eine Diakonissin für alle meine Bequemlichkeiten und war bemüht, durch heiteres Plaudern keine tiefere Verstimmung bei mir aufkommen zu lassen ... Er riet mir auch, meine Frau durch keine Depesche unnütz zu beunruhigen, nachdem es einmal feststand, daß ich andern Tages nach Hause fahren würde.«

Schon bei der Besprechung der letzten Klavierstücke ließen wir durchblicken, daß das Versiegen der lyrischen Produktion bei Brahms gleichbedeutend mit dem Nachlassen seiner Produktivität überhaupt war, ein Beweis mehr für die öfters gemachte Bemerkung, daß der Gesang die Seele nicht nur seiner, sondern aller Musik ist, der seinigen aber ganz besonders. Der Neunundfünfzigjährige hat diese Selbstverständlichkeit, die heute leider keine mehr ist, auch selbst bestätigt, als er am 5. April 1892 im Künstlerzimmer bei Bösendorfer einer schönen Italienerin seine Verehrung darbrachte, nachdem sie mehrere seiner Lieder gesungen, wie er sie niemals zuvor gehört hatte. Er kam ganz außer sich durch die Hoftür gestürmt, huldigte der holdseligen Diva in überschwänglicher Weise und rief aus: »Ich wußte gar nicht, wie schön meine Lieder sind. Wenn ich jung wäre, würde ich jetzt [325] Liebeslieder schreiben.« »Ich habe Fehler gemacht«, begann die Barbi ihre Einrede. Da schnitt er ihr eifernd das Wort ab: »Wie Sie gesungen haben, ist es recht. Sie können tun, was Sie wollen, meinetwegen auch ändern, was Ihnen unbequem ist, Ihnen erlaube ich alles ...« So berichtet Frau Marie Grün als Augenzeugin der merkwürdigen Szene. Das Lied, mit dem die schöne Sängerin es ihm besonders angetan hatte, war das selten gesungene »Soll sich der Mond nicht heller scheinen« (»Vor dem Fenster« op. 14, Nr. 1). Die Erregung, in welche Brahms versetzt worden war, hielt noch an, als er neben mir im Wagen saß, der uns nach dem Konzert zu Herrn Julius Schwarz, dem Schwager Brülls, führte, wo Goldmark, Walter, Grün, Doors, Epsteins und andere mit dem Souper auf uns warteten. Brahms fiel sozusagen mit der Tür ins Haus, als er, ohne auch nur guten Abend zu wünschen, in den Salon mitten unter die Versammelten stürzte und schrie: »Heute, jetzt eben, habe ich zum ersten Male meine Lieder singen hören!« Und nun er ging er sich in Lobeserhebungen der Barbi, die alles übertrafen, was von ihren Verehrern über sie gesagt und geschrieben wurde. Erst als der arme Gustav Walter, dessen Augen immer trüber dreinblickten, ein Unwohlsein vorschützend, sich von der Hausfrau verabschieden wollte, die ihn nicht wegließ, merkte Brahms, was er in seiner Unbesonnenheit angerichtet hatte. Er ergriff schnell ein Glas und brachte ein Hoch auf seinen alten lieben Freund und Kammersänger aus, führte ihm zu Gemüte, daß Stockhausen und Frau Joachim, die er auch in seiner augenblicklichen Rage vergessen habe, mit demselben Rechte wie er, ihm zürnen müßten, was sie ganz gewiß nicht täten, schon weil sie nicht dabei gewesen wären, und redete vor den Anwesenden so liebevoll launig in den Gekränkten hinein, daß Walter sich zusehends erheiterte und nach Tische, von Brahms begleitet, schöner sang als jemals zuvor.

Das Vergnügen, die fremde Künstlerin, die sich erst in Wien zur klassischen Interpretin seiner Lyrik ausbildete, zu bewundern, hätte Brahms schon früher haben können. Denn Alice Barbi war bereits seit drei Jahren der erklärte Liebling des Wiener Publikums, und zu ihren, immer mehrere Wochen vorher ausverkauften Konzerten fand sich unter dem Vorantritt hoher und [326] allerhöchster Herrschaften nicht nur die Aristokratie der Geburt und des Geldes, sondern auch die des Geistes, wie auf Verabredung zusammen, und die Impresarien rechneten die Zeiten der Barbi zu ihren goldenen Erntejahren. Auch hatte Frau Marie Grün, die ehemalige Schülerin und langjährige Freundin Brahms',8 ihre junge Schutzbefohlene gleich nach ihrem ersten Auftreten in Wien (1889) eines Vormittags zu dem Meister geführt, der sie sehr liebenswürdig empfing, ohne daß sie einen tieferen Eindruck bei ihm zurückgelassen hätte. Eben jene glänzende Außenseite ihrer Konzerte, die sich von Jahr zu Jahr häuften, schreckte ihn lange von deren Besuch ab. Erst seit jenem Apriltage von 1892, wo es blitzartig bei ihm einschlug, begann sein leidenschaftliches Interesse für Alice Barbi, das sich zum Kultus der Muse verklärte, einer Polyhymnia, vor der – seine Leier verstummte!

Sie war in der Tat eine einzige Erscheinung, eine lebendig gewordene klassische Kamöne. Wenn sie den Konzertsaal betrat, war es, als stiege sie von olympischen Höhen hernieder, um die Sterblichen mit ihrer Gegenwart zu beglücken. Sie schwebte heran wie eine Tänzerin, ihre Füße berührten kaum den Boden, in jeder Bewegung regte sich eine Grazie. Graugoldige Dämmerung umfing die liebliche Gestalt, der Saum ihres milchfarbenen, in reichen Falten herabfließenden Gewandes zerrann im duftigen Nebel einer Aureole. Desto plastischer zeichneten sich das edle Oval ihres königlichen Hauptes, die schwarzen Haarwellen, welche die schmale, sanft gewölbte Stirn zu beiden Seiten beschatteten, von dem schwankenden Hintergrunde ab. Der wachsbleiche, halb durchsichtige matte Glanz der Haut, auf den vollen Wangen und dem kräftig gerundeten Kinn durch zarte Glanzlichter erhöht, beschämte die stumpfe Pracht der Perlenschnur an ihrem Halse. Sonst trug sie keinen Schmuck. Nur hin und wieder blitzte der Stern eines funkelnden Solitärs ihr zu Häupten auf, der sie zur Erde herabgeleitet zu haben schien. Noch waren ihre Augen von den langen dunkeln Wimpern bedeckt, noch waren die schmalen blaßroten Lippen geschlossen – da erwachte sie, von den Akkorden eines Liedervorspieles geweckt, zu vollem Leben. Sie schlug die großen seelenvollen [327] Augen auf, öffnete den schön gemeißelten, tadellos gezahnten Mund, dessen Oberlippe wie ein Amorsbogen geformt war, legte den Kopf in den Nacken zurück und sang. Und während unsterbliche Weisen ihrer Kehle entquollen, während treffsichere Pfeile der Liebe von ihren Lippen abschnellten, verwandelte sich der Ausdruck ihres Gesichtes, bald plötzlich und jäh, bald allmählich, nach und nach, in zahllosen leisen Übergängen, um alles zu verkündigen, was ein Dichter- und Sängerherz bewegen mag. Sie gab, um zu empfangen, leitete den Strom des Gesanges von der Mündung zum Ursprung zurück und schöpfte jedes Lied aus seiner Quelle wieder, als hätten die Meister der Töne und Worte zu ihren Füßen gesessen und nachgesungen, was sie erlauschten.

So wird die Einzige, welche die letzte himmlische Liebe einer vereinsamenden Künstlerseele war, uns immer im Geiste begegnen, denn so sah sie aus, als sie am 21. Dezember 1893 das Abschiedskonzert vor ihrer Verheiratung mit Baron Wolff-Stomersee – Brahms empfand den Schritt fast wie eine persönliche Kränkung – im Bösendorfersaale gab. Das Programm enthielt Arien von Scarlatti, Buononcini und Pergolese, vier Schubertsche Lieder, sechs Stücke aus der »Dichterliebe« und die »Aufträge« von Schumann, zum Schluß zwei Chansons von Bizet, als vorletzte Nummer aber »An die Nachtigall«, »Der Tod, das ist die kühle Nacht«, »Ich muß hinaus« und »Meine Liebe ist grün« von Brahms. Auf dem Zettel schien der Name des Begleiters vergessen zu sein. Als die Türen des Künstlerzimmers aufgingen, tauchte hinter der gefeierten Künstlerin – Brahms in eigener Person auf, mit den Notenheften unterm Arm, setzte sich, zur allgemeinen freudigen Überraschung an den Flügel und begleitete das ganze Programm, mit so zartem und innigem poetischen Ausdruck, wie nur er begleiten konnte, wenn er in Stimmung war.9 Niemand hätte ihm damals den Sechziger angemerkt.

[328] Das liebste und kostbarste Geschenk, das ihm eigentlich für den sechzigsten Geburtstag zugedacht war, empfing Brahms zu Neujahr 1894: Max Klingers »Brahms-Phantasie«. Auch jetzt kam ihm das Werk vorerst in fragmentarischen Proben zu Händen, aber jedes einzelne Blatt sprach den beglückten Empfänger als ein vollendetes Ganzes an, und es war ihm eine hohe Freude, diese épreuves d'artiste aus der Hand des Künstlers zu erhalten. Lange hatte Klinger das schmerzende Gefühl nicht verwinden können, dem Meister mit den illustrierten Titelblättern zu den Liederheften von op. 96 und 97 mißfallen zu haben. Brahms, der von dem genialen Verfasser des ihm gewidmeten Zyklus »Amor und Psyche« Besseres erwarten durfte als jene zum Teil ins Unkenntliche verschmierten Fehldrucke, war seinerzeit wenig erbaut von den sonderbaren, stellenweise zum Spott reizenden Notenumschlägen und hatte mit seiner abfälligen Kritik auch nicht hinterm Berge gehalten. Erst als er erfuhr, daß widrige Verhältnisse und unberechenbare Zwischenfälle an den Mängeln der Reproduktion die Schuld trugen, welche er abwechselnd dem Maler und dem Verleger zuschob, und als die von ihm perhorreszierten Blätter ihre Verteidiger und Fürsprecher fanden, bequemte sich Brahms zu einer milderen Auffassung des vermeintlichen Frevels. Klinger aber beruhigte sich nicht so leicht über eine Angelegenheit, die ihm Herzenssache war, und er griff zu Grabstichel und Radiernadel, dem lebendigsten und zuverlässigsten Organ seines Künstlerwillens, um, unabhängig von den Zufälligkeiten, denen der Zeichner beim Klischeedruck preisgegeben ist, seine Ideen und Empfindungen auszudrücken.

Mit der Freiheit der Bewegung wuchs seine Schaffenslust; neue, meist blattgroße Radierungen kamen in den Jahren 1890 bis 1893 zu früher geschaffenen hinzu, und im Hochsommer 1893 lagen die einundvierzig Stiche, Radierungen und Strichzeichnungen der »Brahms-Phantasie« endlich druckfertig vor. So nannte Klinger [329] das op. XII seiner Ätzkunst und bezeichnete damit den Charakter des Werkes. Schon bei den Entwürfen der Titelblätter war es ihm nicht eingefallen, Illustrationen zu liefern, die etwa mit den in beliebten Prachtausgaben Schubertscher und Schumannscher Liederzyklen vorhandenen konkurrieren möchten. Handelt es sich doch bei derartigen schwächlichen Bildern um die rein äußerliche Steigerung sinnlicher Eindrücke, die eine Übersättigung des künstlerischen Genusses zur Folge hat. Wer den Helden der »Müllerlieder« oder die Braut aus »Frauenliebe und -leben« sehen muß, um an sie zu glauben, gehört zu den geistig Blinden. Für ihn haben Wilhelm Müller und Adelbert von Chamisso nicht gedichtet, Franz Schubert und Robert Schumann nicht gesungen. Selig sind hier allein diejenigen, die nicht sehen und doch glauben.

Wie anders kommt uns Klinger in den mächtigen Darstellungen seiner »Brahms-Phantasie« entgegen, die, zwar hervorgerufen und beeinflußt, aber doch zugleich völlig unabhängig von den Gegenständen des Musikers als Ausbrüche einer ureigenen Schöpferkraft zu betrachten sind! Und wie weit entfernt sich alles, was er aus innerem Antrieb vollendete, von der Unfreiheit jener Blätter, die er für Simrock und dessen Musikverlag ausführte! Da sind zuerst die »Akkorde« und die »Evokation«. So heißen die zwei großen Radierungen, die sich Klinger als ideale Vorsatzstücke zu einer ebenso idealen Brahms-Ausgabe dachte. Beide, durch eine längere Folge anderer Sujets voneinander getrennt, gehören zusammen wie Präludium und Fuge, Ouvertüre und Oper. Aus beiden leuchtet uns eine Unmittelbarkeit des Gefühls entgegen, vor der wir anfangs überwältigt die Augen schließen, um die Erregung des ersten Anblicks in der erschütterten Seele besonnen auszugleichen. Wir müßten Rafaels Wandgemälde in der Camera della segnatura des Vatikans oder Michelangelos Decke der Sistina zur Vergleichung heranziehen, wenn wir den allgemeinen Eindruck dieser Kompositionen bestimmen sollten. Es ist Geist von ihrem Geiste, der hier zu uns redet, aus der Renaissance der Antike ins Moderne fortgeleitet, vom Gebiete der Religion und Philosophie abgezogen und auf das der Poesie und Musik angewendet. Hier wie dort fragen wir nicht weiter nach dem geschichtlich Beglaubigten, logisch Entwickelten, durch Erfahrung Begründeten dessen, was wir [330] dargestellt finden. Wir sehen das Wunder, das die Wissenschaft überflügelt, und zweifeln nicht an der Wirklichkeit eines unglaublichen, ja unmöglichen Vorganges.

Grenzt es nicht an Verrücktheit, eine hölzerne Estrade ins Meer hinauszubauen, auf dieses schwankende Podium, von dem, wie von einer Landungsbrücke, eine Treppe zum Wasser hinabführt, ein Klavier und an dieses einen Mann zu setzen, welcher der herrlichsten Bucht des griechischen Inselmeeres den Rücken kehrt? Ist die weibliche, verhüllte Gestalt, welche, neben ihm sitzend, seinem Spiele zuhört, etwa aus einem der dorischen Tempel, die am Gebirgsufer verstreut liegen, in dem die breiten Wogen durchschneidenden Segelboote herübergeschwommen? Und was bedeutet die goldene, mit bärtiger Schallmaske gekrönte Riesenharfe, die der triefende Triton, von anmutigen Nereiden vergebens zurückgehalten, zur Treppe hinschleppt? Lauter geheimnisvolle Symbole! Aber der Mann sitzt so sicher auf seinem Gerüst, wie die zwölf Repräsentanten der heiligen Geschichte in der »Disputa« auf ihrem Wolkenstreif, und er spielt so schön Klavier, daß nicht nur das Weib neben ihm ergriffen lauscht, sondern auch wir hingerissen zu vernehmen glauben, was er uns von dem weiten Wellengebiet und dem hohen Lustpalast im gelobten Lande seiner Träume vorphantasiert. Die »Akkorde« präludieren dem tiefen Liede der Sehnsucht, und er wird es uns singen, wenn die in ihm gärende Welt der Töne Form, Gestalt und Farbe gewonnen haben wird. Dazu kann nur seine Zuhörerin, eineMusa genitrix, die jungfräuliche Gebärerin und unsterbliche Mutter seiner Phantasiegeschöpfe ihm verhelfen. Nicht länger widersteht sie dem in verworrenen dunkeln Übergängen den Weg seiner Wunsche verfolgenden Jüngling. Sie richtet die ihr von den Elementargeistern der Umgebung dargereichte Harfe neben dem Klavier auf, wirst Gewand und Maske ab und breitet die Arme nach dem erkorenen Liebling aus. Wie Goethe den Schleier der Dichtung, so empfängt der berufene Held der »Evokation« die Harfe der Musik von der Hand der Wahrheit. Sie ist seine Geliebte, seine Göttin, und ihr mit seiner Kunst zu dienen, wird zur einzigen Aufgabe, zur unverbrüchlichen Pflicht seines Lebens. Wovon die Saiten des Psalters ertönen sollen, läßt der Hintergrund des Bildes mehr ahnen als durchschauen. [331] Die hellenische Küste, die Urheimat der Kunst, verschwindet mit ihren Tempeln unter dem Nebel, der von dem wilder heranbrausenden Meer aufsteigt; in ihm wallt und wogt es von streitenden Gestalten. Titanen und Götter, Zentauren und Lapithen kämpfen gespenstisch in den Wolken, und die Wahrheit scheint dem überrascht und erwartungsvoll zu ihr aufblickenden Jüngling andeuten zu wollen, daß die alten Gigantomachien niemals zu Ende gefochten worden sind, sondern sich immer wieder erneuern, solange die Erde besteht, im Kampfe der ewigen Mächte des Lebens. Der Künstler ist nicht der Rufer im Streit, sondern dessen Sänger; er heilt den auch sein eigenes Herz zerreißenden Zwiespalt tausendjähriger Widersprüche, indem er ihn darstellt und besingt. Sein Werk ist der Friede, und die zerklüftete und verworrene Welt ruht erlöst in der Harmonie seiner Kunst.

Was die »Akkorde« und die »Berufung« einleiten, hat Klinger in den Abschnitten seiner »Brahms-Phantasie« weiter ausgeführt. Auch die Blätter, welche sich im engeren Empfindungskreise des erotischen Lyrikers bewegen, strömen Musik aus, die wie ein gedämpftes Schicksalslied klingt. Der große Skulptor, Maler und Radierer ist nicht der Erste, der es versuchte, dem vielumstrittenen Inhalt der Musik mit dem Griffel beizukommen, aber er ist der Einzige, dem der Versuch gelang. Wer sich in die Betrachtung dieser Vignetten, Randleisten und Vollbilder versenkt, wird hören, was er sieht, sehen, was er hört. Überall die bis zur ahnungsvollen Undeutlichkeit des kaum noch Erkennbaren abgestufte, in den Tiefen des rhythmisch bewegten Gemüts sich verlierende Dämmerung der Gesichte. Embryonale Gedanken, die nicht zur Reise kommen können oder wollen, weil sie fürchten, ausgesprochen und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Unter der Schwelle des Bewußtseins liegende, weit voneinander entfernte Gruppen von Vorstellungen, die sich der prüfenden Überwachung entziehen und, ohne daß man weiß, warum, plötzlich zusammenschießen wie Eiskristalle auf der gefrorenen Fensterscheibe. Ans Licht verlangende Fruchtschätze, die, aufgespeichert in den dunkeln, labyrinthischen Vorratskammern des Gehirns, vergebens darauf warten, von dem arbeitenden und ordnenden Geiste des Denkers benutzt zu werden. Reflexe, Eindrücke, Irritationen, Stimmungen, Visionen, Ahnungen, [332] Träume, kurz, das unermeßliche Reich des Unbewußten, das dem Tun im Menschen tributär ist. In dieses Reich flüchten die andern Künste zurück, wenn sie merken, daß sie zu klug geworden sind und in Geckerei, Renommier- und Gefallsucht ausarten. Die Heimat der Musik ist auch die ihrige gewesen, ehe sie in der Fremde an den berechnenden Verstand und den kalten Witz ihre Unschuld verloren, und durch die Musik sind und bleiben sie alle miteinander verwandt und verbunden.10 Ist doch die Kunst der Töne die einzige, welche auf das Tier wirkt, beziehungsweise von ihm selbst geübt wird, und sind doch die Musiker wie die Tiere mit den vollkommensten Sinneswerkzeugen ausgestattet!

Im Gesange vereinigen sich Musik und Poesie zum innigsten Bunde, und je weniger dabei eine Schwesterkunst der andern von ihrem eigentümlichen Wesen aufopfern muß, desto besser ist es für beide. Lieder, die, abgetrennt von ihrem Texte, kein annehmbares Musikstück ergeben, taugen nicht viel, ebensowenig aber Gedichte, welche die Musik als Krücke für lahme Versfüße oder zur Ermunterung matter Gefühle brauchen. Welche Vorstellungsreihen eine Auswahl der von Brahms komponierten Dichtungen in der Phantasie des bildenden Künstlers entbinden konnte, werden wir bei Klinger mit Erstaunen gewahr, finden aber, nachdem wir uns von der ersten Ueberraschung erholt haben, die uns aufgezwungenen Assoziationen malerischer, zeichnerischer oder musikalischer Ideen höchst natürlich. Bei dem wundervollen Liede »Alte Liebe« (op. 72 Nr. 1) fiel Klinger eine ganze Novelle ein, die, in mehreren Kapiteln erzählt, offenbar an eigene Erlebnisse des Künstlers anklingt und gerade dadurch, daß sie die Lücken des Inhalts phantastisch ausfüllt, selbst wieder musikalisch anregend wirkt. Echt musikalisch ist auch die Gleichzeitigkeit, in welcher sich das Geschehen, wie Melodie, Harmonie und Rhythmus, zu Bildern zusammendrängt. Während so fünf Lieder zu einer Malernovelle vereint [333] werden, die mit »Kein Haus, keine Heimat« trotzig ausklingt, erweitert Klinger das einzige Schicksalslied zum vielgliedrigen tragischen Epos der Menschheit, das die Gedanken des Dichters und Musikers durch Variationen auszuschöpfen versucht. Das persönliche Moment darin ist die Genugtuung, die der Künstler beim Aufrollen des ihm von Hölderlin und Brahms in Erinnerung gerufenen Prometheus-Mythos empfand. Nun wird der Titanentrotz in vergleichende Beziehung zu dem Ingrimm des um sein Liebesleben betrogenen modernen Japetidenenkels gesetzt. Aber die gemeinsame Not der leidenden Menschheit verschlingt den Jammer des Individuums. Wohl thronen Zeus und Hera in erhabener Götterruhe auf ihren Wolkensitzen. Doch nicht immer saßen sie so selbstbewußt und sicher dort oben, und ihre Herrschaft dürfte schwerlich für alle Zukunft befestigt sein. Der Titanensohn hat sein Martyrium nicht umsonst erlitten, sein vorausdenkender, rastlos tätiger Menschengeist soll seine welterlösende Sendung erst vollziehen. Kein Promethidenlos darf uns schrecken, keine noch so traurige Erfahrung uns entmutigen.

Mit dem zürnenden Behagen des mitleidenden Künstlers hat Klinger das menschliche Elend illustriert, von dem Hölderlin-Hyperion bei Brahms so ergreifend singt, und der aufstachelnde Gegensatz, der, wie Wasser von Klippe zu Klippe Geworfenen, jahrelang ins Ungewisse Hinabfallenden zur olympischen Herrlichkeit der auf weichem Boden in glänzenden Götterlüften Ruhenden tritt überall fast tendenziös hervor. Der Schaumgeborenen, die strahlend aus einem Meer hin- und hergerollter Menschenköpfe emporsteigt, wird der reisige Tod zur Seite gestellt, der mit gepanzerter Faust einem in Blumen kauernden Mädchen winkt. Sonnenbrand und Seesturm, Überschwemmung und Erdbeben lösen einander ab am Werke der Vernichtung. Wohl das erschütterndste Bild zeigt einen alten Ackerbauer, der hinter zwei Schattengestalten (Not und Hunger) seiner dürftigen Hütte zuwankt. Die Halme seines unfruchtbaren Feldes bestehen aus lauter Dolchen, Messern und Schwertern, unter denen er verblutet. Vom Himmel des Unglücklichen senkt sich im Nordlichtscheine ein Richt- und Winkelmaß hernieder, dem eine aus den Wolken greifende Hand das Lot abgerissen hat: Es gibt keine ausgleichende Gerechtigkeit mehr! Im[334] Schlußbild des entfesselten Prometheus ergänzt der Maler auch die fragmentarisch überlieferte Trilogie des antiken Tragikers, und der im Hintergrunde lodernde Weltbrand verkündigt eine neue Götterdämmerung ...

Die »Brahms-Phantasie« und die dazu gehörige reichhaltige Skizzenmappe, welche Klinger dem Meister später ebenfalls schenkte, blieben für den mit ihr Beglückten stolze Besitztümer. Sein Herz hing daran, und er breitete sie gern vor Besuchern aus, bei denen er Verständnis für das eigentümliche Werk vermutete. Bald nachdem die verspätete Geburtstags- und Weihnachtssendung bei ihm eingetroffen war (um Neujahr 1894) forderte er mich auf, ihn schleunigst an einem frühen Vormittage zu besuchen, damit wir zusammen Buße tun und dem Künstler abbitten könnten, was »wir früher an ihm gesündigt«.11 Mir war es ein doppelter Genuß, den Schatz an seiner Seite mit ihm zu betrachten. Er machte Platz auf dem Klavier, und wir vertieften uns, über den Deckel gelehnt, in die Blätter so gründlich, daß wir beide das Mittagessen darüber versäumten. Er verweilte solange mit Liebe bei jedem Blatte und begleitete das Anschauen mit so treffenden Bemerkungen, daß die Stunden, die darüber hingingen, mir zu Minuten wurden, und als er das letzte Blatt zurückgelegt hatte, hätte er am liebsten das erste wieder aufgeschlagen, um neue Feinheiten und noch intimere Reize zu entdecken, die uns etwa verborgen geblieben sein könnten. Am längsten verweilte er bei der oben beschriebenen Illustration menschlicher Armut, Hilflosigkeit und Gebrechlichkeit, und es gereichte ihm zu besonderer Freude, mir die fürchterliche Beschaffenheit des von Klinger bestellten Ackers im Detail auseinanderzusetzen, da ich die mörderischen Pflanzenspitzen nicht gleich bemerkt hatte. Als wir, zwei Jahre darauf, die »Vier ernsten Gesänge« durchnahmen, trat mir bei der Stelle, die von dem Dürftigen singt, »der da schwach und alt ist, der in allen Sorgen steckt«, unwillkürlich der Klingersche Ackersmann [335] und seine letzte Heimkehr vor Augen. Ich sagte es Brahms, und er seufzte: »Ach ja!« – Immer wieder lobte er den »rechtschaffenen Fleiß« des Künstlers, der aus der zahllosen Menge von oft nur mit der Lupe wahrnehmbaren Strichelchen den Beschauer anspräche. »Ohne Fleiß gibt es kein Genie«, lautete sein Refrain, womit er sagen wollte, daß es auch die größte Begabung ohne Fleiß zu nichts bringe. Rein persönlich aber ergriff und rührte ihn am meisten die Sorgfalt, mit der Klinger den Satz der Musiknoten geordnet und überwacht, ja, wo es nottat, eigenhändig kopiert und eingetragen hatte. Ein so großer Künstler konnte sich soweit herablassen, daß er wie ein handwerksmäßiger Notenstecher die an sich langweiligen und nichtssagenden Linien, Striche und Köpfe mit derselben Gewissenhaftigkeit kopierte, mit der er den Leib einer Venus, den Himmel oder das Meer auf die Platte zauberte! Sebastian Bach habe ja auch Noten in Kupfer gestochen, aber das seien seine eigenen gewesen. Was für ein Mensch muß das sein, der so etwas aus Liebe oder Achtung vor einem andern dieses andern wegen tut! Während Brahms so sprach, leuchtete sein Gesicht, das dem eines seligen beschenkten Kindes glich, von Glück und Stolz.

An Widmann schrieb er am 6. Januar 1891: »Es sind ganz herrliche Blätter, und wie gemacht, alles mögliche Erbärmliche zu vergessen und sich in lichteste Höhen tragen zu lassen. Sie glauben nicht, mit welcher Lust man immer weiter und tiefer hinein sieht und denkt.« An Hanslick: »Die neueste Brahms-Phantasie nur anzuschauen, ist mehr Genuß, als die zehn letzten zu hören.« [op. 116 und 117.] An Frau von Heldburg: »Der Maler Max Klinger gibt eine Brahms-Phantasie heraus. Es sind das 41 Zeichnungen und Radierungen, denen Lieder von mir und schließlich das Schicksalslied zugrunde liegen. Die ganz wundervollen Blätter sind nicht ganz ohne weiteres zu verstehen. Obwohl sie nichts Symbolisches oder dergleichen enthalten, sind es doch keine bloßen Illustrationen, wo etwa eine Blume gemalt ist, wenn es heißt: ›Du bist wie eine Blume!‹ Desto schöner aber kann man sich hinein vertiefen und sieht und denkt sich nicht satt.«

Unter den Freunden, die Brahms an seinem Vergnügen teilnehmen ließ – er verschenkte das Werk an Klara Schumann, [336] Joachim u.a. – wird man gerade denjenigen vermissen, der wie kein Zweiter befähigt gewesen wäre, in Klinger mit zu schwärmen und zu phantasieren. Theodor Billroth war, kurz bevor die Leipziger Sendung in Wien eintraf, nach dem Süden abgereist, um an der Sonne Abbazias Heilung von einem akuten Bronchialkatarrh zu suchen, der die chronischen Übel des Herzkranken in bedenklicher Weise zu vermehren drohte. Die Linderung, die das neue während der St. Gilgener Sommerfrische des Gelehrten entstandene Leiden dort erfahren hatte, erlaubte ihm, das von ihm geschaffene Wiener Haus der k.k. Gesellschaft der Arzte einzuweihen, und Brahms war auf seine Einladung am 27. Oktober 1893 zur feierlichen Eröffnungssitzung erschienen. Aber er konnte nicht einmal die erste Hälfte des Wintersemesters zu Ende führen, sondern mußte seinen Akademikern und auch dem Freunde vor der Zeit Adieu sagen. In den letzten Wiener Tagen konferierte er eifrig mit Brahms, bei dem er sich in musik-historischen und -theoretischen Fragen Rats erholte. Eine Erörterung über Helmholtz's »Lehre von den Tonempfindungen«, auf die Billroth – im Gegensatz zu Brahms – bei seinem Versuche, seine Gedanken über eine Ästhetik der Musik wissenschaftlich zu begründen,12 großes Gewicht legte, hat vermutlich den Inhalt des letzten Gespräches gebildet, das um Weihnachten zwischen den Freunden stattfand. Am 12. Januar trug Billroth noch von Abbazia aus dem Kenner des deutschen Volksliedes verschiedene Skrupel über die Rhythmisierung und Taktgliederung nationaler Weisen vor, nachdem er ihm schon vorher hatte gestehen müssen, daß er sich auf musikalischem Gebiet »recht dilettantisch gewissen allgemeinen Empfindungs-Eindrücken hingegeben habe, die in seiner medizinischen Wissenschaft längst von ihm abgeschafft worden seien«.13 Gegen das Ende desselben Briefes wird sein Stil, der sich sonst gern in den ihm eigenen, schön gebauten, manchmal fast melodischen Perioden bewegte, plötzlich merkwürdig kurzatmig und abgehackt, als habe den Schreiber einer seiner asthmatischen Anfälle überrascht: »Ich schlafe [337] fast gar nicht und habe keinen Atem. Meine Grübeleien sind meine einzigen Unterhaltungen. Ich kann wenig ausgehen. Dein Th. Billroth.« Wenige Wochen später ging er überhaupt nicht mehr aus. Der Bruder des Schlafes hatte sich seiner erbarmt, am 6. Februar hörte er zu atmen auf.

Am Morgen des Begräbnistages (9. Februar) ging ich zu Brahms, in der Erwartung, ihn trösten zu müssen, und erstaunte, wie ungewöhnlich mitteilsam er war. Er gab sich offenbar Mühe, möglichst gefaßt zu erscheinen, und zwang sich zu einer Gelassenheit, die seinem hastigen und aufgeregten Wesen widersprach. Allmählich gelang es ihm, im Laufe des Gesprächs eine höhere Art von Heiterkeit zu gewinnen, die uns vielleicht mit ihrer Ruhe den Beweis seiner stoischen Selbstbeherrschung erbringen sollte. »Es ist doch hübsch,« sagte er unter anderem, »daß mir Viele, mündlich oder schriftlich, ihr Beileid ausdrücken, als ob ich einen nahen Verwandten verloren hätte. Ein Angehöriger ist ja wohl auch ein Mensch, mit dem man an die dreißig Jahre in herzlicher Übereinstimmung gelebt hat. Vor sechs Jahren, als Billroth die schwere Krankheit bekam, fiel es niemand ein, mich besonders zu benachrichtigen oder zu bedauern, und doch habe ich ihn eigentlich schon damals verloren. Ich wußte, was ich tat, als ich im stillen Abschied von ihm nahm. Denn der Billroth, der noch einmal vom Totenbett aufstand, war der Alte, war mein Freund nicht mehr, kaum noch der Schatten des früheren. Jener Billroth, den wir alle kannten und liebten, hätte den Massenetschen, Werther' nicht gutgeheißen oder gar schön gefunden, hätte mich auch nicht des Großmannsdünkels beschuldigt, wie er es Hanslick und Ihnen gegenüber getan.« Das Wort fiel, als er Billroth die Bitte abschlug, in das Album irgendeiner ihm unsympathischen hohen Persönlichkeit mehr als den blanken Namen einzuschreiben, obwohl der Freund, der ihm das Buch übergab, sich bereits dafür verbürgt hatte, einige Zeilen von Brahms zu bekommen. Hanslick aber, um Brahms von seinem Starrsinn abzubringen, wollte ihm beweisen, daß er sich dadurch nur Mißdeutungen aussetze, und stützte sich auf Billroths Ausspruch. »Wer im Ernste«, fuhr Brahms fort, »so etwas von mir glaubt, hat mich nie gekannt. Ich bin es gewohnt, falsch beurteilt zu werden, und war [338] Zeit meines Lebens den gröbsten Mißdeutungen ausgesetzt. Die Leute verstehen sich nicht auf meine Art. Ist mir auch sonst egal. Aber von einem seiner besten und ältesten Freunde dergleichen erfahren zu müssen, ist hart. Freilich entschuldigt ihn seine nervöse Gereiztheit. Auch sein Verlangen, eine Ästhetik der Musik zu schreiben, hatte etwas Krankhaftes. Und da sollte und mußte ich ihm noch dabei helfen!«

Brahms hätte sich noch auf ein zweites derartiges, im Grunde ebenso unerhebliches und leicht entschuldbares ärgerliches Wort des kranken Billroth berufen können, das diesem in einem an Hanslick gerichteten Brief aus der Feder gelaufen war; aber er wollte keine Indiskretion begehen, wie sie derjenige, wenn auch nur versehentlich, sich zuschulden kommen ließ, der ihm den Brief mitteilte.14

In dem Augenblicke, als mich Brahms in sein (einseitiges) Zerwürfnis mit dem Toten einweihte, der nun, von den Trübungen des Alters und der Krankheit gereinigt, wieder vor ihm stehe im Glanze jugendlicher Manneskraft, wie er ihm einst begegnet, um zur Unsterblichkeit einzugehen, unterdrückte ich die Einwendungen, zu denen ich mich herausgefordert fühlte. Sie hätten an die unerschütterliche Größe seiner Sinnesart nicht herangereicht und nur die Weihe zerstört, die über der unvergeßlichen Stunde lag. Welch eine Stärke und Festigkeit des Charakters gehörte dazu, um Monate und Jahre hindurch stumm in sich zu bewahren, was so laut emporschrie. Fast mit denselben zu mir geäußerten Worten, welche die Anklage und die Verteidigung des Freundes mit der eigenen zugleich enthalten, hatte er schon den um die Folgen seiner Fahrlässigkeit besorgten Zuträger beruhigt: »Ich soll nichts gegen ihn (Billroth) erwähnen? Ach, lieber Freund, das geschieht leider ganz von selbst nicht bei mir! Daß man auch von alten Bekannten und Freunden für etwas ganz anderes gehalten wird, als man ist (oder also in ihren Augen: sich gibt), das ist mir eine alte Erfahrung. Ich weiß, wie ich früher in solchem Fall erschreckt und betroffen schwieg, jetzt schon längst ganz ruhig und selbstverständlich. Das wird Dir gutem und gütigem Menschen [339] hart oder herbe scheinen – doch hoffe ich, noch nicht zu weit vom Goetheschen Wort abgekommen zu sein: Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt« ...

Er redete an jenem Vormittag noch weiter von den Enttäuschungen des Lebens, die keinem erspart blieben, der mehr von den Menschen verlange, als sie zu geben imstande seien, wie einer, der, schon bei lebendigem Leibe verklärt, alles Irdische weit hinter sich gelassen hat. Dann sagte er, es würde ihm lieb sein, wenn wir beide allein miteinander auf den Friedhof gehen könnten. Ins Trauerhaus wolle er nicht, auch im Zuge nachzufolgen mit so vielen ihm fremden und ganz gleichgültigen Menschen und dabei vom Publikum angegafft zu werden, sei nicht nach seinem Geschmack. Ich mußte ihn gleich nach Tisch aus dem Café Kursalon im Stadtpark abholen, und wir gingen gleichen scharfen Schrittes einen von ihm gewählten Seitenweg beim Arsenal vorbei am Neustädter Kanal hin, durch die Felder nach Simmering, wo die große Wiener Nekropolis im Freien liegt. Es war ein frühlingsartiger Februartag, und die Sonne schien ziemlich warm. Nach einem etwa zweistündigen Marsch kamen wir von der Rückseite her auf dem weitläufigen Zentralfriedhof an. Unterwegs sprach Brahms von Billroth wie von einem Auferstandenen, Wiedergeborenen, als wollte er den am Vormittag unterbrochenen Sermon fortsetzen und gleich dem Finale einer Symphonie großartig abschließen. Von der ersten Züricher Begegnung bis in die geselligen Zusammenkünfte im Wiener Gelehrten- und Künstlerheim der Alserstraße lebte alles in der Erinnerung des Freundes wieder auf und schloß sich zum monumentalen farbigen Bilde zusammen, in dessen Mittelpunkt die glänzende Gestalt des Verewigten stand. Nun rühmte er neben dem unvergänglichen Verdienste des Mannes der Wissenschaft die seltenen Vorzüge des großangelegten Menschen und vornehmen Optimaten, der ihn und andere mit Wohltaten überhäufte. Auch der eigenen Jugend gedachte Brahms in abgerissenen, aber innigen, aus der Tiefe des Herzens herausgeholten Worten, als ob er sich gegen den Vorwurf einer »verwahrlosten Erziehung«, der ihm gemacht worden war, verteidigen wollte: wie seine Eltern ihn, und er sie geliebt habe, wie sauer es ihnen und ihm geworden sei, sich anständig durchzubringen, welchen Demütigungen und[340] Kränkungen er und sie in seiner Vaterstadt ausgesetzt gewesen seien, und wie er alles ruhig hingenommen habe. Unbeirrt von Lob und Tadel sei er seinen Weg gegangen, und immer habe ihn die Anerkennung weniger Freunde und Berufsgenossen schadlos gehalten für die Widerwärtigkeit der feindseligen Welt. Billroth habe sich zu seiner Musik schon zu einer Zeit hingezogen gefühlt, da so gut wie niemand etwas von ihr hören wollte; seine Bekanntschaft sei ihm ein Geschenk des Schicksals gewesen, sein warmer Enthusiasmus ihm geradezu zum Bedürfnis geworden. Zuletzt sprach Brahms auch von seinem Tode, den er als nahe bevorstehend voraussähe, mit einer Objektivität, als ob er ihn gar nichts anginge. »Ich denke es mir schön, bei vollem Bewußtsein zu sterben, wohl vorbereitet auf das Ende der Dinge. So gut aber werde ich's schwerlich haben. Denn meinen Vater, der eben so stark war wie ich, hat zuletzt, nach einer Krankheit, die er nicht für bedenklich hielt, der Schlag gerührt, und mit mir wird es auch plötzlich so einmal aus sein.«

Dabei freute er sich an dem Wege, an dem lichten Himmel und der freien Luft. Es mochte ihm der Gedanke vorschweben, zum Grabe des Freundes, dem er sich wieder versöhnt wußte, in heiterer Pilgerfahrt hinzuschlendern, was ganz nach dem Sinne des Verstorbenen gewesen wäre, unter lauten Monologen, die zufällig der andere zu hören bekam, der mit ihm ging, dabei alte oder neue Melodien in den Tiefen seines Gemütes hin und her wälzend. Er trug den Hut in der Hand, sein lebhaft gerötetes Gesicht flammte, seine herrlichen Augen leuchteten von innerem Feuer, seine Stimme klang heller und höher. Manchmal schwieg er still, blickte starr geradeaus und summte etwas vor sich hin, und mir war's, als ginge unsichtbar noch ein Dritter mit.

Auf dem Friedhofe suchten wir zuerst die Ehrengräber auf, in deren Reihen auch Billroth bestattet werden sollte, und als wir den abgesonderten Hain betraten, der die Denkmäler Mozarts, Beethovens und Schuberts umschließt, meinte Brahms, da irgendwo in der Nähe müsse es sich ganz gut liegen. War ihm der junge Schumann eingefallen, der, als er im Jahre 1838 die Gräber Beethovens und Schuberts auf dem alten Währinger Friedhofe besuchte, einen Grafen O'Donnell beneidete, der zwischen [341] beiden gebettet lag? Er drehte sich, der Gewohnheit nach, sogleich seine Zigarette und sog ihren Duft in langen Zügen ein, ohne die Menge von feierlich gekleideten Leuten zu beachten, die, gleich uns auf den Leichenzug wartend, ihn ehrfurchtsvoll begrüßten. Merkwürdig genug, rühmte er, während er den Tabakrauch in die Luft blies, der Versammlung nach, daß kein Einziger rauchte! War er von seinen Gedanken so stark präokkupiert, daß er wirklich nicht wußte, was er tat, oder glaubte er sich seine Zigarette verdient zu haben und sich darum etwas Besonderes erlauben zu dürfen? Das Erste ist das Wahrscheinlichere.

Nach Beendigung der unter unglaublichem Zulauf der Bevölkerung abgehaltenen Feier sah ich Brahms nicht mehr und stieg ermattet zu meiner Frau ins Coupé, die mit Brülls im Fiaker dem Kondukt gefolgt war. Unterwegs, bereits eine gute Strecke vom Friedhof entfernt, sahen wir ihn wieder. Er war der heimkehrenden Menge vorausgeeilt und wollte zu Fuß nach Hause, ließ sich aber zureden, einzusteigen und nahm zwischen uns als Fünfter Platz, wobei er versicherte, er wäre eigentlich ganz gern gegangen, da er noch lange nicht müde sei, und der Wagen sich mehr für die Damen schicke. An Widmann schrieb Brahms noch an demselben Tage: ...»Billroth haben Sie meines Wissens gar nicht gekannt? Er starb eigentlich seit seiner schweren Krankheit, 87. Aus diesem Jahre finde ich einen Brief nach Thun adressiert, in dem er sein erstes, überstandenes, verhindertes Sterben beschreibt. Sie werden den Brief damals gelesen haben.15

Sie lesen doch die Rundschau und Hanslicks ›Erinnerungen‹?16 Ich denke mir, daß sie Ihnen eine besondere Freude sein müßten; das Kapitel über Billroth war dessen letzte, aber gewiß schöne Freude. Billroth hatte alle großen – und auch kleinen Eigenschaften, populär zu werden. Aber ich wünschte, Sie könnten, wie ich, sehen, was es heißt, hier [in Wien] geliebt zu sein. Das [342] kennen und können wir bei uns, Sie bei sich nicht. So offen tragen wir unser Herz nicht [zur Schau], so schön und warm zeigt sich die Liebe nicht, wie hier, vor allem beim besten Teil des Volkes (ich meine eben: beim Volk, bei der Galerie!)« ... »Nochmals möchte ich«, heißt es in einem nächsten Briefe, »von den lieben Wienern anfangen, für die sonst ›eine schöne Leich‹ auch eine ›Haupthetz‹ ist. In der ganzen unzählbaren Menschenmenge hätten Sie kein neugieriges, kein gleichgültiges Gesicht gesehen, auf jedem nur die innigste Teilnahme und Liebe. Mir hat das Schlendern durch die Gassen und auf den Friedhof ganz ungemein wohlgetan.«

Da Brahms am 9. Februar einmal zu mündlichen und schriftlichen Mitteilungen besonders gut aufgelegt war, so übersendete er unter dem nämlichen Datum noch einen unbestellt gebliebenen Gruß des verstorbenen Freundes an Frau Henriette Fritsch-Estrangin in Marseille: »Jetzt, da ich es von Einem, von Billroth, nicht mehr kann, fällt mir ein, daß ich es wohl immer versäume, Grüße von hier auszurichten!? – Billroth hat sich seit seiner schweren Krankheit nicht recht erholt, und allmählich war ihm der Tod als Befreier zu gönnen und zu wünschen. So freundlich erlösend tritt er leider bei Ihnen nicht immer ein!« In demselben Briefe avisiert Brahms auch diese Freundin von seinem Neujahrsgeschenk mit den Worten: »An mir könnten Sie eine rechte Freude haben, wenn Sie sich bei Ihrem Kunsthändler eine ›Brahms-Phantasie‹ von Max Klinger bestellten. Das Buch erscheint nächstens, und ich glaube, Sie werden im Besitz danken Ihrem ...«

Klinger, der im April 1894 nach Griechenland reiste, nahm den Weg über Wien, und Brahms glaubte ihm etwas besonders Gutes anzutun, indem er ihn in den Prater führte. Die Volksbelustigungen dort interessierten den etwas menschenscheuen Gast weniger als ein Abend im Wiener Tonkünstlerverein, an welchem eine anziehende junge Sängerin, Frl. v. Cornaro, Lieder von Brahms, auch Volkslieder, unter dessen Begleitung sang. Klinger schwelgte noch drei Jahre danach in der Erinnerung an diesen Genuß und behauptete, mit Recht, daß das Klavierspiel des Meisters mit keinem andern zu vergleichen gewesen wäre. Nur [343] bedauerte er, daß er niemals den Mut gefunden habe, Brahms zu bitten, ihm Einiges vorzuspielen, was er gerade von ihm fürs Leben gern gehört hätte, z.B. Schumanns »Davidsbündler-Tänze« und besonders die C-dur-Phantasie, in der er die Geschichte von Theseus und Ariadne zu erkennen glaube, wovon aber Brahms nichts wissen wollte. Bei der Rückkehr aus dem Orient mußte Klinger Wien links liegen lassen, zu seinem größten Bedauern, da Brahms ihn dringend eingeladen hatte, wieder zu ihm zu kommen.

Am 20. März bekamen die Wiener im Gesellschaftskonzert eine sehr gute, von Wilhelm Gericke geleitete Aufführung des Deutschen Requiems zu hören; Baronin Eleonore Bach und Opernsänger Josef Ritter sangen die Soli. Brahms, der auch die Generalprobe durch seine Anwesenheit auszeichnete, wird nicht zum ersten Male sein bedrücktes trauerndes Herz an den Klängen der erhabenen Totenmesse aufgerichtet haben, die er einst den Manen Schumanns und dem Andenken seiner Mutter weihte; selten aber werden sie ihn inniger ergriffen haben wie bei dieser Aufführung. Sie war die letzte, die er hörte. Die Geister geliebter Abgeschiedener grüßten ihn.

Billroth und Bülow, den Toten des Februar, folgte am 13. April Philipp Spitta ins Reich der Schatten. Nicht leicht, schreibt Brahms an Joachim, habe ihn eine derartige Unglücksbotschaft so erschreckt und bis ins Innerste erfaßt wie die Depesche, die gerade bei ihm eintraf, als er den Brief schließen wollte. Noch wenige Tage vor seinem Tode, der den Gelehrten am Schreibtische seines Studierzimmers überraschte, hatte Brahms mit ihm korrespondiert, und anstatt einer erhofften Antwort war die schreckliche Nachricht gekommen. Wie hoch er den Bach-Biographen und dessen musikhistorische Arbeiten schätzte, die sich nach der Vollendung seines epochemachenden Hauptwerkes über viele Zeiten und Gebiete der Tonkunst erstreckten, und wie lieb er den charaktervollen Menschen hatte, bezeugt das an Spittas Witwe gerichtete ergreifende Kondolenzschreiben, das Carl Krebs in seiner Studie »Johannes Brahms und Philipp Spitta« mitteilt.17 Er nennt ihn darin seinen Freund und Lehrer, der [344] ihm in beiden Eigenschaften unersetzlich bleiben werde, wie allen besseren Künstlern.

Um dieselbe Zeit wurde Brahms vom Vorstand der Philharmonischen Konzerte in Hamburg, nach dem Rücktritt Bernuths, die Direktionsstelle angetragen, welche er in jungen und mittleren Jahren so heiß erstrebte. Dreißig Jahre hatten sich seine Landsleute Zeit gelassen, um nun endlich mit dem ernst und gut gemeinten Anerbieten herauszurücken, er möge sich ihnen, wenn auch nur für ein oder zwei Jahre, verpflichten, weil man ihn »wegen seiner Kompositionstätigkeit« ein längeres Ausharren auf dem von Bernuth verlassenen Posten nicht glaube zumuten zu dürfen. Darauf erwiderte Brahms Herrn Senator Scheumann am 27. April 1894:


»Sehr geehrter Herr Senator.


Für Ihren mich hochehrenden Antrag sage ich meinen verbindlichsten Dank. Ich verehre ihn als einen neuen, schönen Beweis des übergroßen Wohlwollens, das Sie, meine Landsleute mir gönnen.

So kommt es ganz von Herzen, wenn ich mein Bedauern ausspreche, ihn ablehnen zu müssen, in meinem wie im Interesse Ihrer Gesellschaft, und ich brauche wohl nicht weiter auszuführen, daß Ihre Aufforderung für mich zu spät kommt, und daß ein Intermezzo nicht das ist, was Ihre Gesellschaft braucht.

Mit meinen sonstigen Arbeiten aber (wie Sie meinen) hat die Angelegenheit nichts zu tun; ich habe, im Gegenteil, eine Tätigkeit, wie die mir jetzt von Ihnen gebotene, stets für das Wünschenswerteste gehalten, neben jener, die sie nur hätte fördern können.

Es ist nicht Vieles, was ich mir so lange und lebhaft gewünscht hätte s. Zt. – d.h. eben zur rechten Zeit!

Es hat auch lange gewährt, bis ich mich an den Gedanken gewöhnte, andere Wege gehen zu sollen.

Wär's also nach meinem Wunsche gegangen, so feierte ich heute etwa ein Jubiläum bei Ihnen, Sie aber wären in dem gleichen Falle, wie eben heute, sich nach einer jüngeren tüchtigen Kraft umsehen zu müssen. Möchten Sie diese finden, und möchten [345] Sie mit so gutem Willen, passabelm Können und ganzem Herzen bei Ihrer Sache sein, wie es gewesen wäre


Ihr

sehr und hochachtungsvoll ergebener

J. Brahms.«18


Deutlicher konnte sich Brahms nicht aussprechen über eine Angelegenheit, die ihm seit einem Menschenalter auf dem Herzen brannte, und der verletzende Stachel schwärte erst jetzt heraus, als er dem Direktorium der Hamburger Philharmonischen Konzerte, wenn auch nicht mehr denen, die es anging, einmal ins Gesicht [346] sagen konnte, warum er sein Leben für ein verfehltes ansah, sein Leben, das er, fern vom Vaterlande, ohne Amt, ohne Weib und Kind, fortführen und beschließen mußte, unter Menschen, die ihm, so lieb er sie haben mochte, den täglich und stündlich gefühlten Mangel nicht ersetzen konnten. Ein paarmal hatte es so ausgesehen, als ob er in der Fremde, die ihm zur zweiten Heimat geworden war, als ob er in Wien wenigstens eins der ihm von Hamburg versagten heilig und hochgehaltenen Güter empfangen sollte. Wenn er von dem Amt, wie es ihm vor Augen stand, die ersprießlichsten Folgen für seine Kunst er hoffte, so rechtfertigen die Werke, die er in und nach der Zeit seiner Wiener Direktionsführungen schuf, seinen frommen Glauben. Und wie schmerzlich entbehrte er die persönliche Einfühlung in den Organismus der Chor- und Orchestermassen, als er sich vor zwanzig Jahren, am Schlusse der Saison 1874/75, gezwungen sah, seinen, von der Minierarbeit feindlicher, im Dunkeln geschäftiger Elemente unterwühlten Posten zu verlassen!19 Das tiefergreifende, traurige Schreiben an Senator Schumann bekräftigt früher Erwähntes und ergänzt die in derselben Tendenz, nur vorsichtiger geäußerten Bemerkungen [347] in den an Geheimrat Schnitzler und Bürgermeister Petersen gerichteten Briefe.20 Sein künstlerischer Ehrgeiz war von dem, was er, abgeschnitten von den tiefsten Wurzeln seines Wesens, hervorgebracht hatte, nicht befriedigt, und wenn ihm auch Haus und Familie jenes letzte und höchste Glück, vorenthalten hätte, das er sich von ihrem Besitz versprach, wenn auch sie seine künstlerische wie menschliche Persönlichkeit nicht zur Reise gebracht haben würden, so träumte er doch »einst von und für einen Knaben«, in dem, wie in Sebastian Bach, dem wohlbestallten Leipziger Schulkantor und Universitäts-Musikdirektor, »die Familie ihren Höhepunkt noch erreichen« sollte.21 Wie stolz und bescheiden schätzte er sich selbst ein! Zu Koeßler, der mit ihm über die rasche Vergänglichkeit der Musik philosophierte, sagte er im Sommer 1894: »Ach Gott, was wollen Sie damit! Ich habe es weit genug gebracht. Man respektiert mich, meine Freunde und meine Gegner. Wenn man mich auch nicht liebt – man respektiert mich, und das ist die Hauptsache. Mehr verlange ich nicht. Ich weiß ganz gut, welche Stellung ich einmal in der Musikgeschichte einnehmen werde: die Stellung, die Cherubini einnahm und heute einnimmt, das ist auch mein Los, mein Schicksal.«

Fußnoten

1 Mit der Anzeige von Bülows Tode.


2 Im Testament erscheint der Hamburgische Verein, zusammen mit der Wiener Czerny-Stiftung, als Universalerbe. Siehe S. 228.


3 Briefwechsel VI 266.


4 Siehe I 366.


5 Brahms ließ das Ölbild des Vaters photographisch vergrößern und eine ebenfalls ins Lebensgroße geführte Kopie eines eigenen, von C. Brasch in Berlin aufgenommenen Kabinett-Lichtbildes als Pendant dazu anfertigen. – Nach seiner Rückkehr von Deutschland besuchte ich ihn mit meiner Frau. Er


6 Vgl. II 382ff., III 42ff.


7 A. Steiner. a.a.O.


8 II 337 Anm.


9 Ludwig Bösendorfer hat den denkwürdigen Abend von Künstlerhand im Bilde verewigen lassen. Von einem Amateur-Photographen, der das Paar am Ostermontag 1892 auf der Ringstraße abpaßte, besitzen wir eine Momentaufnahme der miteinander Spazieren den, die auf Tafel VIII des Brahms-Bilderbuches reproduziert ist. Keines dieser Bilder gibt auch nur einen annähernden Begriff von dem weiblichen Original. Es verdient bemerkt zu werden, daß Alice Barbi den ersten namhaften auswärtigen Beitrag zum Fonds des Wiener Brahms-Denkmals beisteuerte. Sie widmete ihm die unverkürzte Einnahme eines im März 1898 von ihr bei Bösendorfer veranstalteten Liederabends, an dem sie, abweichend von ihrer früheren Gewohnheit, ausschließlich Brahmssche Gesänge vortrug. Brahms konnte nicht mehr Einspruch dagegen erheben.


10 Brahms war es bei der Betrachtung der Klingerschen Zeichnungen, wie er in seinem an den Künstler gerichteten Dankbrief schreibt, als ob die Musik ins Unendliche weiter töne und alles ausspräche, was er hätte sagen mögen, deutlicher, als es Musik vermag und dennoch ebenso geheimnisreich und ahnungsvoll. Schließlich müsse er denken, alle Kunst sei dieselbe und spreche die gleiche Sprache. (Vgl. III 361.)


11 Im Oktober desselben Jahres konnte Brahms das ihm zur Ansicht gesendete Fragment mit dem ersten fertigen Exemplar vertauschen und sorgte dafür, daß das Werk, an welchem der Künstler so gut wie nichts verdiente, weil er es nur in zweihundert Exemplaren abziehen, die Platten aber vernichten ließ, von begüterten Freunden angekauft wurde.


12 Hanslick hat 1896 Billroths musikästhetische Studien unter dem Titel »Wer ist musikalisch?« herausgegeben.


13 »Briefe von Theodor Billroth« 578 und 585.


14 Hanslick: »Am Ende des Jahrhunderts.« S. 401ff.


15 Mitgeteilt von Georg Fischer a.a.O. S. 392.


16 Hanslick hat diese »Erinnerungen«, überarbeitet und erweitert, 1894 in dem doppelbändigen Werke »Aus meinem Leben« im »Allgemeinen Verein für deutsche Literatur« erscheinen lassen.


17 »Deutsche Rundschau« 1909, Heft VII.


18 Das inhaltschwere Dokument wurde dem Verfasser unter dem Datum »Hamburg 24. Januar 1908« eingesandt, mit folgendem schönen Geleitbrief der »Philharmonischen Gesellschaft in Hamburg«.

»Mit lebhaftem Interesse verfolge ich die Fortführung Ihres ›Leben Johannes Brahms‹ und freue mich zu beobachten, wie sein vornehmer Charakter und hoher Sinn desto leuchtender hervortritt, je tiefer die Forschung eindringt, und je mehr die Wahrheit über ihn an den Tag kommt. Es sollte daher alles, was zur Vervollständigung des Gesamtbildes dienen kann, gesammelt werden.

Hamburg kann leider keinen Anspruch auf den Ruhm machen, Brahms' Bedeutung rechtzeitig erkannt zu haben. Es ist tief zu beklagen, daß die Gelegenheit, ihm in seiner Jugend die hilfreiche Hand zu reichen und ihm das Glück zu schaffen, nachdem er dürstete, aus Mangel an Erkenntnis versäumt worden ist. Man sollte aber mit den Mitgliedern des Vorstandes, die sich zu dem Wagnis, dem jungen und als Dirigenten unerfahrenen Künstler die Leitung der ältesten und größten Musikgesellschaft Hamburgs zu übertragen, nicht entschließen konnte, nicht zu streng ins Gericht gehen. Wer weiß, ob alle diejenigen, die heute so streng und schnell urteilen, damals anders gehandelt hätten, und ob sie nicht eben jetzt in ähnlicher Lage sich eines gleichen Versäumnisses schuldig machen? Die Geschichte gibt darin merkwürdige Lehren. Mozart, Beethoven und Schubert haben darben müssen, keinem von ihnen ist die Stellung verliehen worden, die sie sich wünschten, und zwar geschah dies zu einer Zeit, als wenigstens die beiden ersten weltberühmte Künstler waren. Es scheint, daß der Weg zum Gipfel der Kunst ein Leidensweg ist und sein muß.

Die damaligen Vorstandsmitglieder der Philharmonischen Gesellschaft sind sämtlich verstorben, ihre Nachfolger haben gut zu machen versucht, was jene verschuldet haben. Als sie Brahms im Jahre 1894 zum Leiter ihrer Gesellschaft beriefen, hat er begreiflicherweise abgelehnt. Der Brief, mit welchem er seine Absage begründet, ist so schön und charakteristisch, daß ich nicht verfehlen möchte, Ihnen dessen Abschrift zuzusenden, mit der Ermächtigung der Philharmonischen Gesellschaft, ihn in Ihrem Werk zu veröffentlichen. Wenn auch aus dem Briefe hervorgeht, daß Brahms den Schmerz, verkannt worden zu sein, als ihm Anerkennung so not tat, niemals verwunden hat, so zeigt er doch andererseits, daß er versöhnlichen Sinnes war, und daß der Frieden mit der Philharmonischen Gesellschaft vor seinem Tode hergestellt wurde ...

Mit ausgezeichneter Hochachtung

Ihr ergebener

Rudolph Petersen, Vorsitzender.

Norddeutsche Bank in Hamburg.«


19 Was in früheren Bänden unsere Werkes (II 382ff. und III 43ff.) hierüber gesagt wurde, stützt sich nicht allein auf die Berichte objektiver, durchaus verläßlicher Augen- und Ohrenzeugen, sondern noch mehr auf mündliche und schriftliche Äußerungen des glaubwürdigsten Aller: auf Brahms selbst. Daran vermögen Scheingründe und Trugschlüsse nichts zu ändern, wie sie in der Zentenarfestschrift der »K.k. Gesellschaft der Musikfreunde in Wien« von 1913 produziert wer den. Aus dem dort mitgeteilten Aktenmateriale wird für jeden mit den Verhältnissen näher Vertrauten nur noch klarer ersichtlich, daß der kluge, sich strikt an die Paragraphen seines Kontrakts haltende Brahms allen Grund hatte, an der Aufrichtigkeit und dem Wohlwollen seiner vielköpfigen Behörde zu zweifeln.


20 III 419, IV 180.


21 I 329, Anm.

Quelle:
Kalbeck, Max: Johannes Brahms. Band 4, 2. Auflage, Berlin: Deutsche Brahms-Gesellschaft, 1915.
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