Man hat von jeher viel darüber gestritten, wer, der Größere sei von jenen beiden Großen, an deren Namen sich die erste hohe Blütezeit unserer vaterländischen Tonkunst knüpft. Wechselnd hat man bald Bach, bald Händel die Palme gereicht und dem Auserwählten unbedenklich das höhere oder auch höchste Maß musikalischen Könnens zugesprochen. Dabei übersah man gern, daß, um den rechten Maßstab für die Größe des Einen zu finden, man der des Anderen nichts zu nehmen braucht. Repräsentirt doch jeder von ihnen in seiner Art ein Höchstes. Verschieden geartet wie die menschliche und künstlerische Persönlichkeit, der Lebens- und Bildungsgang Beider, war auch das Schaffensgebiet, auf dem sie ihr Bestes und Unvergänglichstes leisteten. Der fromme, ganz nach Innen gewandte, von der Gottesidee erfüllte und getragene Bach, der seine Kunst völlig in den Dienst der Kirche stellte, legte in deren Cultusformen: in Cantaten und Motetten, Messen, Passionen und Orgelcompositionen das eigenste Theil seines Wesens nieder. Händel dagegen, der, mehr nach Außen gekehrt, von früh an das Weltleben kannte und liebte, der sich in Italien dem heiteren Cultus des Schönen ergab und von der das Leben wiederspiegelnden[127] dramatischen Kunst aus die letzte Staffel seiner Meisterschaft erstieg, ging zwar keineswegs einzig im Weltleben auf, er vergaß über dem Irdischen nicht das Ewige – aber er gewann nicht wie Bach als Kirchen- sondern als Oratoriencomponist seine unsterbliche Bedeutung. Nicht wie dem schlichten Thomascantor, der das Tiefste, was in ihm war, der Orgel anvertraute, genügte ihm die reine Instrumentalsprache zur Kundgebung seines Innenlebens; den ganzen Reichthum seines Denkens und Empfindens, seiner gestaltenden Phantasie legt er vielmehr in das gesungene Wort. Nicht wie Jener ward er als absoluter Musiker geboren. Nur wo sich das Wort dem Ton gesellt, wo Poesie und Musik ihren Bund feiern, kommt mit seiner ganzen Formenmeisterschaft auch die siegreiche Macht und Gewalt, die unwiderstehliche Kraft und Wahrheit, der erhabene Glanz seines tonlichen Ausdruckes zur rechten Geltung. Wer Händel in seiner vollen Größe und Hoheit bewundern will, muß ihn als Vocalcomponisten betrachten.
So wirkten sie Beide, Einer das Gebiet des Andern zeitweilig streifend, als Herrscher verschiedener Reiche, ein Jeder in dem seinen unerreicht und unübertroffen, gleichberechtigt neben einander. Die Güter dieses Lebens waren ihnen verschieden zugetheilt. In Schlichtheit und Stille, nur der Stimme seines Gottes und seines Genius lauschend, in der Tiefe seines Wesens Wenigen nur verständlich, ging der Eine dahin. Der Andere lebte in Glanz und Ehren, der Liebling der Vornehmen und Mächtigen, wie der großen Volksmenge, mit Massen für Massen im edelsten Sinne wirkend und Allen eine vernehmliche Sprache redend. Beide aber waren sie der Stolz und Ruhm ihrer Zeit und Nation. Persönlich berührt haben sie, die in einsamer Größe weit über ihre Zeitgenossen hinausragten und Deutschlands[128] Herrschaft unter den musikalischen Culturvölkern begründeten, einander nie. Sie, die bei aller Verschiedenheit doch verwandten religiös-künstlerischen Idealen nachlebten und durch ihre gemeinsamen Thaten einer ganzen Epoche ihr eigenartiges Gepräge aufdrückten, schauten sich niemals von Angesicht zu Angesicht. Und doch lagen die Stätten ihrer Geburt und Kindheit einander keineswegs fern, und ein und dasselbe Jahr gab ihnen Beiden das Leben.
Nur wenige Wochen vor Sebastian Bach, am 23. Februar 1685 ward Georg Friedrich Händel geboren. Er entsproßte nicht wie sein großer Kunstgenosse einem alten Künstlergeschlecht, dessen Traditionen ihn von Kindheit auf in seine natürlichen Bahnen wiesen. Seine aus Schlesien und Böhmen in Niedersachsen eingewanderten Vorfahren pflegten bis auf seinen Großvater und des Vaters Bruder herab als ehrsame Kupferschmiede des Handwerks goldenen Boden. Nur sein strebsamer Vater, Georg Händel, lenkte in eine andere Berufsthätigkeit ein. Nachdem er sich durch Verheiratung mit einer um zehn Jahre älteren Barbierswittwe als Barbier und Wundarzt seine erste bürgerliche Stellung begründet, schwang er sich in seiner Vaterstadt Halle an der Saale, woselbst der sächsische Prinz Augustus als Administrator des in brandenburgischen Besitz übergegangenen Bisthums Magdeburg zu jener Zeit Hof hielt, allmälig zum fürstlich sächsischen und kurfürstlich brandenburgischen geheimen Kammerdiener und Leibchirurgen auf. Eine zweite Ehe, die der schon 62 jährige nach dem Tod seiner ersten Gattin mit Dorothea Taust, der Pfarrerstochter von Giebichenstein, schloß, schenkte ihm zu seinen sechs Kindern aus erster Ehe noch vier hinzu, als jüngstgeborenen Sohn den musikbegabten Georg Friedrich. In ihm, ihrem Liebling, fanden sich beide Eltern wieder. Den[129] hellen Geist, die tiefe Frömmigkeit und Bibelkenntniß, die Tüchtigkeit im Tagewerk und Beruf, den sittlichen Ernst hatte er von der Mutter, vom Vater den kühnen Drang nach außen und aufwärts, den unbeugsamen Willen, die bis ins Alter ungeschwächte Thatkraft geerbt. Den Genius freilich hatten sie ihm nicht vererben können, ihn fügte die gütige Natur zu den überkommenen Gaben des Gemüths und Geistes als freies Weihegeschenk hinzu.
In aller Frühe schon offenbarte sich der ihm eingeborene wunderbare Tonsinn. Er lebte und webte nur in den Tönen. Aus musikalischen Kinderspielzeugen, Trompeten, Geigen, Flöten und Trommeln, die ihm der Christbaum brachte, gestaltete er sich sein Orchester. Allmälig indeß begann die anfangs bewunderte, alles Andere in den Hintergrund drängende Musikliebe den Vater zu beunruhigen. Sein Wunsch ging dahin, aus dem klugen, lernbegierigen Knaben einen Rechtsgelehrten zu machen, dem der inzwischen erlangte Wohlstand des Hauses zu Statten kommen sollte. Doch was fruchtete es, daß man ihm allen Ernstes die Beschäftigung mit seiner Lieblingskunst untersagte? Der von Allen gern gesehene kleine Georg Friedrich fand Helfer in der Noth. Dank ihrem Beistand stahl sich ein kleines zarttöniges Clavichord in das Haus, das unter dem Dache seinen versteckten Platz fand. Dahinauf flüchtete der musikeifrige Knabe unter dem Schutze der Nacht und überließ sich seinen heimlichen Uebungen, bis der Vater, eines Besseren belehrt, ihm endlich den offenen Betrieb derselben gestattete.
Am Kinde schon zeigte sich die beharrende Kraft, die Selbständigkeit im Wollen und Handeln, die den späteren Mann charakterisirte. Als der Vater ihn einst bei einer Reise nach Weißenfels, seiner Bitten ungeachtet, daheim zurücklassen wollte, folgte er dem Wagen so lange zu[130] Fuße, bis er ihn schließlich einholte und dem scheltenden Vater die sehnlich begehrte Erlaubniß zur Begleitung abrang. Und eben diese Reise ward folgenreich für ihn. Hatte man doch in Weißenfels, wo ein kunstsinniger Fürst die Musik an seinem Hofe emsig hegte und pflegte, wo überdies ein Heinrich Schütz geboren und groß gezogen war, etwas aufgeklärtere Begriffe von der Würde der Tonkunst als in Halle. Zufällig wohnte der Fürst selber dem Debüt Georg Friedrich's auf der Orgelbank bei, und er versäumte nicht, sein Machtwort zu Gunsten der Musik bei dem Vater in die Wagschale zu werfen und es diesem zur Pflicht zu machen, daß er der natürlichen Neigung seines Sohnes bei der Wahl seines Berufs nicht hemmend in den Weg trete. Dem Letzteren selbst füllte er die Taschen mit klingendem Lohne, ihm bei fortgesetztem Fleiß weitere Aufmunterung verheißend. Besiegt war damit der geringschätzige Widerwillen Georg Händel's gegen die Musik als Profession allerdings nicht. Wie viele Andere seiner Zeit huldigte auch er der Ansicht, sie, die allein der Lust und Ergötzlichkeit diene, sei nur für Solche gut, die zu nichts Besserem und Ernsterem taugten. Aber er beschloß wenigstens, die bisher mißachtete Kunst fortan bei seinem Liebling zu dulden und der Natur, ob auch ungern genug, ferner ihren Lauf zu lassen.
Unter ungestörtem Fortgang seiner übrigen Studien ward der Knabe, der mittlerweile auch die lateinische Schule bezog, nun dem tüchtigsten Musiklehrer, der sich in seiner Vaterstadt vorfand, dem Organisten Zachau, in die Lehre gegeben. Dieser war »kein Tondichter, sondern ein Musikus in einseitiger Beziehung, der sich mit Vorliebe der anti-contrapunktischen, theatralisch melodiösen Musik zuneigte.« So charakterisirt ihn, im Gegensatz zu der übertriebenen Schätzung Anderer,[131] Händel's Biograph Chrysander1, dessen leider noch immer nicht in abgeschlossener Gestalt vorliegende Forschungen dem Vorstehenden hauptsächlich als Grundlage dienen. Grundverschieden standen sich die Naturen von Meister und Schüler gegenüber. Doch war der Erstere jedenfalls ein besserer Lehrer als Componist, und Händel selber äußerte sich – was freilich wol mehr auf Rechnung seines dankbaren Gemüthes kommt – nie anders als lobend über Zachau's Führung, wie er später noch seine Wittwe freigebig unterstützte. Sein bester Lehrmeister war immer sein eigener Genius. Aus eigenem freien Antrieb erlernte er Vieles, was ihm kein Lehrer zu lehren vermochte. Seinen Geschmack frühzeitig an guten Mustern zu bilden aber ließ es Zachau vor Allem nicht fehlen. Er zeigte ihm, wie sein Zeitgenosse Mattheson als älteste deutsche Quelle über Händel2 berichtet, »die mannigfaltigen Schreibarten verschiedener Völker nebst eines jeden besonderen Verfassers Vorzügen und Mängeln. Und damit er auch eben sowol in der Ausübung als in der Beschaulichkeit zunehmen möchte, schrieb er ihm öfters gewisse Aufgaben vor, solche auszuarbeiten; ließ ihn oft rare Sachen abschreiben, damit er ihres Gleichen nicht nur spielen, sondern auch setzen lernete. Solchemnach fand unser Lehrling mehr Arbeit und größere Erfahrung, als sonst gemeiniglich ein Anderer bei seiner Jugend zu haben pflegt.« Auf Orgel und Clavier war er bald[132] völlig heimisch, auch mit Oboe, Violine und allmälig dem ganzen Orchester machte er sich vertraut. Bei all seinem Thun gab sich eine merkwürdige Sicherheit und Reise kund. Woche um Woche lieferte der Neunjährige ein neues Orgelstück, eine neue Kirchencantate dem Lehrer als Pensum. Im zehnten Jahre schrieb er unter Anderem sechs Sonaten für zwei Oboen und Baß. »Ich componirte damals wie der Teufel; am meisten für die Oboe, die mein Lieblingsinstrument war«, äußerte der spätere Meister lachend, als sie ihm wieder einmal zu Gesicht kamen. Jetzt sind sie, gleich seinen übrigen Erstlingsschöpfungen, leider verschollen.
Georg Friedrich hatte sein zwölftes Jahr noch nicht vollendet, als ihn eine erste Kunstreise nach Berlin an den brandenburgischen Hof führte. Die philosophie-und musikkundige Kurfürstin, die nachmalige preußische Königin Sophie Charlotte, Leibnitz' Freundin, die in eigener Person vom Clavier aus Opern und Concerte dirigirte, während Prinzen und Prinzessinnen dabei mit sangen, spielten und tanzten, hatte die Tonkunst daselbst zu hohen Ehren gebracht. Das Orchester war mit Capell- und Concertmeistern aus aller Herren Länder besetzt und zwar standen die Italiener Buononcini und Attilio Ariosti, dieser als Clavierspieler, jener als Componist, unter den Musikern in vorderster Reihe. Virtuosen und Tonsetzer waren, woher sie immer kamen, allzeit willkommene Gäste. Wie durfte nicht also auch der Wunderknabe Händel hier auf die ihm gebührende Anerkennung rechnen? So geringschätzig auch zuvörderst der hochfahrende Buononcini, ein Schüler Scarlatti's, auf den zwölfjährigen Kunstjünger herabblickte: nachdem dieser in überraschendster Weise eine ihm vorgelegte schwierige Probe bestand und eine mit einem Grundbaß für das Clavier gesetzte chromatische Cantate, deren Ausführung einen[133] gewiegten Meister forderte, frisch weg vom Blatt begleitete, konnte er ihm seine ungern genug gezollte Bewunderung doch nicht versagen – wenngleich diese ihre erste Begegnung den Grund zu ihrer späteren, in London fortgesetzten Feindschaft legte. Um so herzlicheres Wohlgefallen bezeigte sein Kunstgefährte Pater Attilio an dem genialen, allgemein bewunderten Kinde. Stundenlang erfreute er sich daran, seinem Spiele zu lauschen und ihm von der eigenen Kunst Manches zu Gute kommen zu lassen.
Am Ende erbot sich der Kurfürst (der spätere König Friedrich I.), durch die auffallende Begabung des Kleinen aufmerksam gemacht, ihn in seine Dienste zu nehmen und auf seine Kosten zur weiteren Ausbildung nach Italien zu schicken. Mit einer zu jener Zeit seltenen Unabhängigkeit der Gesinnung jedoch lehnte der Vater den Antrag ab. Er dachte sich die Zukunft seines Lieblingssohnes noch immer im Zusammenhang mit der Wissenschaft. Der Doctor der Rechte war und blieb das Ziel, dem seine Leitung beharrlich zusteuerte. Auch als kurz nach Händel's Rückkehr aus Berlin im Februar 1697 der Vater starb, setzte der Sohn in pietätvoller Berücksichtigung seiner Wünsche, seine wissenschaftlichen Studien fort; wie denn Mattheson ihm späterhin bezeugte, er habe »nebst seiner ungemein musikalischen Wissenschaft gar seine andere Studia« gemacht. Noch nicht siebzehn Jahre alt, hatte er die lateinische Schule absolvirt. Zu Anfang des Jahres 1702 bezog er die 1694 in seiner Vaterstadt gegründete Universität. Es blieb für's Erste bei der Jurisprudenz. Der angeborene künstlerische Beruf machte sich indeß daneben fort und fort geltend. Bezeichnete doch der bei seinen Zeitgenossen als Musiker hoch angesehene Telemann den sechzehnjährigen Jüngling bereits als eine für Stadt und Land[134] wichtige Autorität. Genug, sein Ruf war ein so wohlbegründeter, daß, als im Jahre 1702 der Organist der Halle'schen Schloß- und Domkirche, Leporin, in Folge seines allgemeine Aergerniß geben den Lebenswandels seines Amtes verlustig ging, er, »der Studiosus Georg Friedrich Händel«, mit seiner Stelle und einem Gehalte von 66 Thalern betraut ward. Ein schönes Orgelwerk stand ihm dabei zur Verfügung. Reichliche Veranlassung zum Componiren und Phantasiren war ihm schon dadurch geboten, daß unter seinem sorglosen Vorgänger alle vorhandenen Notenbücher abhanden gekommen, mithin durch Neues zu ersetzen waren. Was er schuf – Chrysander spricht von mehreren hundert, leider spurlos verschwundenen Kirchencantaten – brachte er unmittelbar darauf zur Aufführung. Auch unter der studirenden Jugend erweckte er eine wohlthätige Bewegung, ein frisches Vorwärtsstreben. Ganz natürlich fügte es sich solchergestalt, daß er das musikalische Regiment in seiner Vaterstadt in seine Hand bekam. Nicht lange aber fand er bei demselben Genüge. Auf's Wandern war sein Sinn gerichtet. Zur Erweiterung seiner künstlerischen Anschauungen und Kenntnisse drängte es ihn hinaus in die Welt. Von der Juristerei war nun nicht mehr die Rede. Der Achtzehnjährige fühlte sich reif genug, um jetzt mit vollem Bewußtsein und in endlicher Uebereinstimmung mit den Seinen über die einzuschlagende Bahn zu entscheiden. Ganz und ausschließlich fühlte er sich Musiker. Als der Frühling 1703 in das Land kam, sagte er seiner Vaterstadt frischen Muthes Lebewohl, neuen Zielen zustrebend.
Sein erstes Ziel war Hamburg, das sich zu jener Zeit eines besonderen musikalischen Rufes erfreute. Hier waren die ersten Instrumentalisten und Sänger zu finden. Hierher kam, wer in der Musik etwas Außerordentliches[135] zu hören begehrte, und für auswärtige Meister galt es als Ehre, ihre compositorischen oder virtuosen Leistungen dem dasigen Publicum vorzuführen. Selbst der ehrwürdige Heinrich Schütz hatte eine so hohe Meinung von der »fürnehmen Reichs-und Hansa-Stadt«, daß er sie zu seiner »letzten Herberge auff dieser Welt« zu erwählen gedachte. Insbesondere war es die Pflege der deutschen Oper, die Hamburgs musikalischen Ruhm begründete. Nur an den Höfen, als gefällige Dienerin bei ihren Festlichkeiten, hatte die um 1600 in Italien erstandene und von Frankreich bald begierig aufgegriffene Kunstform seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts lebhaftere Aufnahme gefunden – denn das erste deutsche Singspiel von Heinrich Schütz, »Daphne« (1627), blieb zunächst eine vereinzelte Erscheinung. So war es in der That ein denkwürdiges Unternehmen, als im Jahre 1678 einige Privatpersonen in Hamburg ein stehendes öffentliches Theater für deutsche Opernspiele errichteten. Was bisher nur ein beneideter Luxus der Höfe gewesen, ward nun einem zahlenden Publicum zugänglich – kein Wunder, wenn die neue Kunstanstalt, deren volksthümlichen Charakter schon die Anwendung deutschen Textes, wie die ausschließliche Mitwirkung deutscher Sänger sicherte, lebhaftem Anklang begegnete. Von der anfänglichen Verwendung biblischer Stoffe, die einen neuen Kunstzweig: ein geistliches Musikdrama, als specifisch deutsches Geistesproduct herauszubilden versprach, kam man bald zurück. In Nachahmung der italienischen und der französischen Oper, wenn gleich der einen gesanglich, der anderen dramatisch nachstehend, behauptete das deutsche Singspiel nur mehr den ursprünglichen weltlichen Charakter. Ihre goldensten Tage sah die Hamburger Bühne während der leitenden und schöpferischen Wirksamkeit Reinhard[136] Keiser's – ein Naturgenie von außerordentlicher Leichtigkeit der Gestaltung, wenn auch ohne höhere, idealere Kunstziele, das durch seine in verschwenderischer Fülle ausgestreuten Opern (er schrieb gegen 120, die sich über die angesehensten Theater Nord- und Mitteldeutschlands verbreiteten) sich und der von ihm beherrschten Bühne zu vielem Ruhm und Ansehen verhalf, ohne doch seiner Begabung entsprechend auf die Kunst selber irgend welchen tiefgreifenden Einfluß zu üben.
Als Händel im Sommer 1703, »reich an Fähigkeit und gutem Willen«, den Hamburg'schen Schauplatz betrat, war dessen eigentlichste Blütezeit zwar bereits vorüber. Nichtsdestoweniger fand er eine Reihe schöner Geister dort versammelt; unter ihnen den erwähnten Mattheson, der als erster Tenorist am Theater und zugleich als gesuchter Claviermeister, dabei auch Kritiker und Componist, thätig war. Durch ihn ward, seinen eigenen Mittheilungen zufolge, der Neuankommende »in den dortigen Orgeln und Chören, in Opern und Concerten« u.s.w. eingeführt. Händel spielte anfangs die zweite Violine im Opern-Orchester und »war auf solchem Instrument nicht stärker als ein Ripienist«3, wogegen er sich als Clavierspieler »als ein Mann bewies«. »Er setzte zu der Zeit« – so hören wir Mattheson weiter berichten – »sehr lange, lange Arien und schier unendliche Cantaten, die doch nicht das rechte Geschicke oder den rechten Geschmack, obwohl eine vollkommene Harmonie hatten, wurde aber bald durch die hohe Schule der Oper gantz anders zugestutzet. Er war starck auf der Orgel: stärcker als Kuhnau, in Fugen und Contrapuncten, absonderlich[137] ex tempore; aber er wuste sehr wenig von der Melodie, ehe er in die hamburgische Opern kam. Es wurde im vorigen Seculo fast von keinem Menschen an die Melodie gedacht; sondern alles zielte auf die blosse Harmonie.« Ziemlich selbstgefällig hebt der seine eigene Person gern in den Vordergrund stellende Biograph hervor, daß er ihm »alle nur ersinnliche Wohlthaten, so wohl was den Tisch und Unterhalt, als auch was die Anpreisung seiner Person betraff«, erwiesen und ihm »im dramatischen Styl keine geringen Dienste« geleistet habe. Daß er dem jüngeren Kunstgenossen von dem eigenen Ueberfluß einige Lectionen zuwandte und überhaupt eine gewisse Vormundschaft über ihn ausübte, schlug er sich, so scheint es, zum nicht geringen Verdienste an. Gleichwol reichte Händel's Ruf als Orgelspieler schon damals so weit, daß er als Bewerber um die Nachfolge Buxtehude's, des berühmten Lübecker Organisten, der auf Bach's Kunst bedeutsamen Einfluß gewann, auftreten konnte. Nur an seiner Abgeneigtheit, auf die an Annahme der Stelle geknüpfte Bedingung einzugehen und die sehr unjugendliche Tochter des alten Meisters als Frau heimzuführen, scheiterte seine Bestallung.
Vorübergehend erlitt inzwischen das gute Einvernehmen zwischen Händel und Mattheson durch eine heftige Scene, die sich öffentlich abspielte und leicht eine tragische Wendung genommen hätte, eine Unterbrechung. Ein Streit um den Dirigentenplatz am Flügel, bei dem Mattheson mit Fug und Recht den Kürzeren zog, gab die Veranlassung, daß die Beiden, auf's Aeußerste erbittert, nach Ausgang der Oper mit den Degen, die sie nach damaliger Sitte an der Seite trugen, auf einander losgingen. Ein breiter Metallknopf an Händel's Rocke nur rettete diesem durch eine glückliche Fügung das[138] Leben, indem Mattheson's Klinge daran in Stücke brach. So ging die Sache ohne schlimmere Folgen vorüber und die beiden Duellanten wurden, wenn wir Mattheson's Erzählung Glauben schenken dürfen, »bessere Freunde« als zuvor.
Eine andere Bekanntschaft, die Händel in Hamburg machte, gab die Anregung zu seiner ersten größeren Composition. Postel, ein als Bundesgenosse Keiser's beliebter Singspieldichter, brachte für ihn eine Passion nach dem 19. Capitel des Evangeliums Johannis in Reime. Zu eben dieser Zeit (1704) hatten die Hamburger durch Hunold und Keiser eine neue Art Passionsoratorium erstehen sehen, bei welcher der musikalischen Composition eine freie Dichtung zu Grunde gelegt und weder die Gemeinde mit dem Kirchenliede, noch der Evangelist mit dem Bibelworte betheiligt war. Von dieser letzten, von der Kanzel herab viel geschmäheten Neuerung hielten sich Händel und sein Dichter fern. Der Choral nur wurde ausgelassen, der biblische Text im Munde des Evangelisten blieb beibehalten. Sehr widersprechend ist diese Arbeit Händel's beurtheilt worden. Mattheson erblickt in ihr, laut seiner Critica musica (Hamburg, 1725), ein Beispiel, wie man die Passion nicht componiren dürfe, wogegen Winterfeld4 in den Chören »den gereifteren Meister« erkennen will. Nur schüchtern gleichwol und wie aus weiter Ferne deuten die Letzteren, obschon sie namentlich im Schlußsatz noch das Beste vom Ganzen bringen, auf die spätere Meisterschaft hin. Das Werk kennzeichnet sich als nicht mehr und nicht weniger als eine Jugendarbeit, in der sich Gelungenes neben Unfertiges stellt und neben den[139] Zügen einer ungeübten Hand sich wiederum eine überraschende Sicherheit bekundet.
Ungleich bedeutsamer war des Künstlers erster dramatischer Versuch: die dreiactige Oper »Almira«, die am 8. Januar 1705 auf der Hamburger Bühne zum ersten Male in Scene ging und als sein »Hamburgisches Meisterstück« bezeichnet werden durfte. Verfasser des nach einem italienischen Originale bearbeiteten Textbuches war ein Theolog Namens Feustking, ein ungehobelter, gemeiner Gesell, dessen persönliche Mißliebigkeit sein Libretto büßen mußte. Es gab das Signal zu einem Federstreit, der Hunderten von Flugschriften das Leben gab, deren roher, gehässiger Ton die unerquicklichste Lectüre gewährt und Händel's erste Dichter und Kritiker in einem traurigen Lichte zeigt. Das Interesse für das neue Werk war indessen hierdurch, wie durch den vielbesprochenen Zweikampf zwischen dem Componisten und dem ersten Tenoristen, schon im Voraus derart rege geworden, daß, bevor noch ein Ton desselben öffentlich erklang, das Textbuch bereits in drei Auflagen verkauft worden war. Mit einem Schlag ward Händel eine bekannte Persönlichkeit. Und seine »kunstreiche Musik erlangte«, wie es heißt, »honéter Gemüther approbation«; ja, sie ergriff so lange ausschließlich von der Hamburger Bühne Besitz, bis eine neue Oper desselben Meisters sie ablöste. Dem Geschmack der damaligen Hamburger Opernrichtung folgend und Keiser's kleine liedartige Formen zum Theil beibehaltend, während für die dazwischen geschobenen italienischen Arien Scarlatti vorbildlich ist, trägt »Almira« doch schon gewisse Eigenthümlichkeiten von Händel's späterem Stile an sich. Seine größere, ernstere Natur verleiht dem galanten Liederspiel seines Vorgängers einen kräftigeren Zug und befähigt ihn (wie in der Partie der Titelrolle)[140] in höherem Grade zu charaktervoller Zeichnung. Ganz die kühne, glanzvolle Weise des späteren gereifteren Künstlers prägt sich bereits in der Ouverture aus, wie er überhaupt gegenüber den Instrumenten eine frühere Herrschaft als den Gesangformen gegenüber an den Tag legt. So gewahren wir in einem Orchesterstück (der Sarabande des ersten Actes) den Keim zu dem herrlichen Gesang »Lascia ch'io pianga«, den wir aus der späteren Oper »Rinaldo« kennen und lieben. Nahezu die Hälfte der Tonsätze der »Almira« fand, wie Händel dies häufig that, späterhin in mehr oder minder verwandelter Gestalt in anderen Werken des Künstlers eine Stelle. So diente die Ouverture mit einem neu hinzugefügten Tanzgebinde später der Oper »Rodrigo« zur Eröffnung und ging in dieser Form wiederum (1732) in Jonson's »Alchymisten« über. Was ihm in seinen früheren Werken lebensfähig schien, erfuhr später eine Umbildung oder wurde in größere Werke verarbeitet. Er ließ nichts verloren gehen, und so kann man, wie Chrysander bemerkt, bei ihm auch nur in antiquarischer Hinsicht von verschollenen Jugendwerken sprechen. Geistig verstanden ist Alles erhalten. Eine Eigenthümlichkeit Händel's auch war es, öfters fremde Gedanken, die ihm zusagten und ihm in ihrer Originalgestalt nicht voll entwickelt dünkten, zu benutzen und mit der gleichen Sorgfalt auszugestalten, mit der er seine eigenen, so lange sie noch mangelhaft waren, immer wieder von Neuem umbildete.
Die »Almira« feierte übrigens in unseren Tagen und zwar bei der 200jährigen Jubelfeier der Hamburger Bühne und später in Leipzig, in neuer Einrichtung von Fuchs5, eine erfolgreiche Auferstehung und bezeugte sich noch immer fähig, die Musikfreunde zu interessiren und zu erfreuen.[141]
Kürzester Frist nur hatte bei der außerordentlichen Fruchtbarkeit seines Schaffens Händel zur Vollendung seiner ersten Oper bedurft. Nicht minder schnell ging ihm nun auch die Förderung der zweiten von der Hand. Wenige Wochen nach Erscheinen der »Almira«, während diese noch ununterbrochen die Theilnahme der Hörer lebendig erhielt, machte er den Hamburgern seinen »Nero, oder die durch Blut und Mord erlangte Liebe« zum Geschenk. Die Partitur des am 25. Februar 1705 zum ersten Male vorgeführten Werkes ist verschollen. Das Textbuch hatte, als ein Product Feustking's, wiederum eine ganze Literatur im Gefolge. Sein Hauptgegner Feind machte sich anheischig, aus demselben »allein über 1000 Fehler vorzubringen«, und Chrysander bestätigt, daß ihm unter den ihm bekannt gewordenen Operntexten jener Zeit nur wenige vorgekommen seien, in denen sich »sittlicher Stumpfsinn in einem noch höheren Grade ausgebildet« finde. Der Componist selber aber that in Bezug auf dies dichterische Machwerk die bezeichnende Aeußerung: »Wie soll ein Musikus was Schönes machen, wenn er keine schönen Worte hat? Darum hat man bei Componirung der Opera Nero nicht unbillig geklagt: Es sey kein Geist in der Poësie und man habe einen Verdruß, solche in Music zu setzen.« Nichtsdestoweniger war der Erfolg des »Nero« gleich dem der vorausgegangenen »Almira« ein so großer, daß die Eifersucht Keiser's darob rege ward. Den Beifall, mit dem man den jungen Tonhelden begrüßte, empfand der durch zehnjährige Gunst Verwöhnte umsomehr als Zurücksetzung, als Stimmen laut wurden, welche behaupteten, er habe sich mit seinem »zärtlichen Singsang« ausgeschrieben und werde nun frischeren Kräften weichen müssen. Auch sein und seiner Genossen allgemein bekannter und verabscheuter anstößiger Lebenswandel ward ihm neben Händel's[142] fester, schlichter Sittlichkeit jetzt zum Vorwurf gemacht. In jeder Beziehung sah er sich von jenem in Schatten gestellt. Am empfindlichsten war es Keiser, daß er selber ursprünglich die Composition der »Almira« beabsichtigt und sie unbedachter Weise dem ihm erstehenden jungen Rivalen überlassen hatte. Das Gerathenste, um diesen schleunigst unschädlich zu machen, schien ihm, die von ihm componirten Singspiele sofort selbst noch einmal zu componiren. Mit dem »Nero« wurde der Anfang gemacht. Als »Octavia« umgetauft, war er die erste Oper, die nach Ablauf der Fastenzeit dem Concurrenzwerk folgte. Ihren Zweck aber erreichten diese und zwei weitere Keiser'sche Arbeiten trotz aller zu Hülfe genommenen Reclame eben so wenig wie die neue »Almira«. Als sie 1706 den vernichtenden Schlag gegen Händel führen sollte, statt dessen aber gleich den vorangegangenen Singspielen völliger Gleichgültigkeit des Publicums begegnete, war Keiser selber nicht mehr Zeuge seiner Niederlage. Er hatte, als der Held eines unsauberen Romans, der sich zu eben der Zeit abspielte, für besser befunden, dem Schauplatz desselben zu entfliehen und das Weite zu suchen.
Vorgänge so widerwärtiger Art verleideten Händel begreiflicherweise den Aufenthalt in Hamburg; doch ergriff er nirgend Partei, er verschmähte es, der Herold seines eigenen Ruhmes zu sein. Ruhig ließ er die Dinge ihren Gang gehen. Mit dem Theater stand er nach Aufführung seiner ersten Opern in keinem Zusammenhang mehr. Nur mit Stundengeben verdiente er sich sein Brod. Einfach in seinen Gewohnheiten, sein ganzes Streben nur nach einem Ziele richtend, verstand er mit Wenigem auszukommen und während seine Genossen um ihn her praßten, zu sparen. Tapfer hatte er seit dem Abschied aus der Heimat sich auf die eigenen Füße gestellt. Der Mutter[143] war er nie mehr beschwerlich gefallen; ja einen Wechsel, den sie ihm in der ersten Zeit nachsandte, konnte er, sogar durch ein eigenes kleines Geschenk vermehrt, ihr zurückgeben. Er gab gern, und Dankbarkeit war seinem Herzen tief eingeboren; nicht minder aber auch das Bestreben, sich selbständig durch die Welt zu helfen. Von seinen bescheidenen Einkünften legte er sich in den Jahren 1704–6 zweihundert Ducaten als Sparpfennig zu einer italienischen Reise zurück. Denn nach Italien drängte es ihn mit Allgewalt. Was Hamburg als Mittelpunkt der norddeutschen oder vielmehr der wesentlich deutschen Musik, der es in jenen Jahren war, ihm zu geben hatte, das hatte es ihm gegeben. Jetzt stieg die Kunst dort von ihrer Höhe herab. Eine allgemeine, von der Geistlichkeit genährte Mißstimmung erhob sich gegen das Aergerniß erregende Leben der Operisten; städtische Wirren kamen hinzu – das Interesse an der Bühne schwand. Die Leitung derselben gerieth nach Keiser's Fortgang (er kam später nach Hamburg zurück und wirkte daselbst noch 25 Jahre lang mit gewohnter Fruchtbarkeit) in die Hände eines Speculanten Saurbrey, für den Händel während der letzten Monate des Jahres 1706 noch die beiden verloren gegangenen Singspiele »Florindo« und »Daphne« schrieb. Als sie im Januar und Februar 1708 ihre erste Darstellung erlebten, weilte ihr Autor aber schon seit Jahresfrist in Italien. Der innere Drang nach reifer Kunst und einer besseren Umgebung, sowie, Mainwaring's Erzählung zufolge, gleichzeitig die nachdrückliche Aufforderung eines toscanischen Prinzen, riefen ihn dahin. So trat er denn aus dem engeren Verbande deutscher Musik heraus, um durch Berührung mit dem entwickelteren Kunstleben eines fremden Volkes seinen Genius zu befruchten und ihm zur Entfaltung seiner Größe und Universalität zu verhelfen.[144]
Mehr als gegenwärtig war Italien zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts das Wallfahrtsziel aller Gebildeten und zumal der Musiker unseres Vaterlandes. Seit länger als hundert Jahren waren die Letzteren gewöhnt, nach Welschland als auf den Sitz der musikalischen Meisterschule zu blicken, und Heinrich Schütz, einer der Ersten, die unsere nationale Tonkunst selbständige Bahnen leiteten, äußerte noch 1648 in seinen »Musicalia ad Chorum sacrum«, daß man die rechte musikalische hohe Schule in Italien suchen müsse. Uneingedenk der eigenen meisterlichen Leistungen, weist er Jedermann »an die von allen vornehmsten Componisten gleichsam Canonisirte Italienische Classicos Autores, deren fürtreffliche und unvergleichliche Opera denen jenigen, die solche absetzen und mit Fleiß sich darinnen umbsehen, in einem und dem andern Stylo als ein helles Liecht fürleuchten werden.« Seit die Niederländer Herrschaft und Weiterbildung der Tonkunst in die Hände der Italiener niedergelegt, hatten dieselben die Mission übernommen, sie durch Schöpfung vieler neuer Grundformen mit den wesentlichsten Verbesserungen zu bereichern und zur Selbständigkeit einer schönen Kunst zu erheben. Hatte sich die Musik unter niederländischer Pflege mehr nach einer künstlichen harmonisch-contrapunktischen Richtung hin entwickelt, so entsprach es der Natur des mit dem feinsten Formen- und Schönheitsgefühl ausgestatteten, durch eine lange Cultur erzogenen italienischen Volkes, derselben vielmehr den Lebensgeist der Schönheit und durchsichtigen Klarheit einzubilden. Die Italiener und nur sie, die natürlichen Erben der antiken Kunst, allein, waren zu solcher Neu- und Weiterbildung künstlerischer Formen, wie in allen Künsten so auch in der Musik, berufen. Und anderthalb Jahrhundert arbeiteten sie, dieser Bestimmung getreu, an deren Vervollkommnung.[145] Dann, als das musikalische Formenwesen hinlänglich entwickelt und geschmeidigt erschien, um zur Aufnahme des tiefsten und erhabensten Empfindungs- und Gedankengehaltes befähigt zu sein, blieb es dem Genius einer anderen Nation vorbehalten, ihm diesen zu verleihen und die Tonkunst höchsten Höhen und Zielen zuzuführen. In der kirchlichen Kunst, in der sie unter Palestrina, ihrem Größten, auch ihr Größtes geleistet hatten, traten die Italiener zuerst das Regiment an die Deutschen ab, an deren Spitze Bach und Händel einherschritten. In der Oper behaupteten sie dasselbe trotz Gluck's Reformen, bis Mozart sie »mit ihren eigenen Waffen faßte.« Bach, der eminent nationale urdeutsche Meister, konnte der italienischen Schule entrathen. Aus der deutschen Orgelkunst mit all' seinen Lebensfasern herausgewachsen, fand er, ob er daneben auch vielfältig fremdländischen Einflüssen Eingang verstattete, in ihr den Hauptquell und lebendigen Mittelpunkt seines Schaffens. Einem anderen Ideale folgte der universalere Händel. Während Bach die Musik an das Gotteshaus bannt, führt er sie vielmehr aus dem Tempel hinaus in die große Welt und schafft dabei die Töne der Andacht zu einer allen Völkern verständlichen Sprache des geistigen Lebens um. Sein Künstlerthum mußte, um zum Weltkünstlerthum zu werden und die geistigen Errungenschaften anderer Völker in sich aufzunehmen, sich in Italien Maß und Reise gewinnen.
Vornehmlich um die dortigen, allüberall in voller Blüte stehenden Operntheater kennen zu lernen, begab sich Händel dahin auf die Reise. Jede italienische Stadt hatte damals ihre öffentlichen Singbühnen; jeder Hof, jeder Reiche seine Capellen und besonderen Opern. An trefflichen Componisten, Dichtern und Sängern mangelte es ebensowenig als an einem verständnißvollen dankbaren[146] Publicum, das die Künstler ehrte und lohnte und durch seine Gunstbezeigungen zum Wetteifer anspornte. Nach Florenz, der Geburtsstätte der dramatischen Tonkunst, zog es den deutschen Meister zunächst. Wir wissen, daß er die ersten Monate 1707 daselbst verbrachte. Nicht als Dramatiker jedoch stellte er sich hier für's Erste vor. Wie gemeinhin diente der Virtuos dem Componisten zur Einführung. Clavier-, Violin-, und Orgelstücke, Lieder mögen hier wie in Hamburg entstanden sein. Auch etwa ein Dutzend Solo-Cantaten setzt Chrysander in diese Periode. Unter ihnen gewann »La Lucrezia«, die, trotz einer gewissen Ungelenkigkeit in Behandlung der italienischen Sprech- und Singweise, durch Leidenschaft und Größe wie theilweise auch Neuheit der Auffassung imponirte, die weiteste Verbreitung. Im Ganzen haben wir es in den derartigen Werken des Tonsetzers mehr mit Skizzen als mit ausgeführten Arbeiten zu thun.
Erst nachdem Händel sich während eines längeren römischen Aufenthaltes mit Composition mehrerer lateinischer Kirchenstücke (der Psalmen 109, 126 und 112) auch auf dem Gebiet der Kirchenmusik wiederum versucht, mit denselben aber augenscheinlich die Ueberzeugung erlangt hatte, daß seine Tonsprache hier nicht ihre eigentliche Heimat fand, debütirte er im Herbst 1707 auf der Florentiner Bühne als Autor einer italienischen Oper »Rodrigo«. Mit allgemeiner Spannung und Ungeduld blickte man daselbst einem neuen Werke entgegen, von dessen Schöpfer man keine geringe Meinung hegte. Trotz seiner eignen begründeten Besorgniß, daß seine Fremdheit der italienischen Ausdrucks- und Satzweise gegenüber ihn an der vollen Entfaltung seiner Kräfte hindern werde, wurde der Oper eine äußerst beifällige Aufnahme zu Theil. Sie trug ihm außer[147] goldenem Lohn sogar die Liebe seiner Primadonna, Vittoria Tesi, ein, die in jener Zeit der höchsten Blüte der Gesangskunst als eine der größten Sängerinnen ihres Jahrhunderts gefeiert wurde. Für sie, deren großartige darstellerische Kraft nicht minder gerühmt wird, ist die Partie der Agrippina, die Hauptrolle der gleichbenannten Oper, geschrieben, die er 1708 für das Teatro San Crisostomo in Venedig schuf. Eigens kam sie nach Venedig, um sie zu singen. Doch wird uns nichts davon erzählt, daß die Erfolge, die die Künstlerin ihm ersingen half, sie seinem Herzen näher brachten. Ihm, der die Empfindungen des menschlichen Gemüths so feurig in Tönen schilderte, blieben, so scheint es, Frauengunst und -Neigung allzeit geringen Preises werth. Dauernde Fesseln wenigstens nahm er nie auf sich, und seiner Unabhängigkeitsliebe opferte er die Freuden des häuslichen Herdes und der Familie. Zweimal zwar soll er bereit gewesen sein, Schülerinnen von hohem Rang und Vermögen, deren Herz er gewann, seine Hand zu bieten; als man aber das Verlangen an ihn stellte, seinem »Fiedlerthum« zu entsagen, trat er stolz zurück. Er starb unvermählt.
»Entweder ist das Händel oder der Teufel«, soll Scarlatti, als sich der deutsche Meister bei einer Maskerade verhüllten Angesichtes auf dem Flügel hören ließ, ausgerufen haben. »Geheimen Teufelskünsten« schrieben ja die aber gläubischen Italiener seine Meisterschaft vielfältig zu. Wol durfte auch der Sieg des jungen deutschen Künstlers über die berühmtesten lebenden Componisten, die auf der genannten venetianischen Bühne seine unmittelbaren Vorgänger waren, in der That Wunder nehmen. Antonio Lotti, Alessandro Scarlatti, die gefeierten Häupter der venetianischen und neapolitanischen Tonschule, Caldara u.A. hatten für dieselbe geschaffen, und keinen Geringeren als[148] ihnen that Händel es im Erfolge nun zuvor. Neu war schon die schwungvolle Weise der Ouverture, der gesteigerte Vollklang, das sich schon hier bemerkbar machende Bestreben, den Blasinstrumenten auf der italienischen Bühne vermehrte Geltung zu verschaffen. Ebenso überraschend als gewinnend aber wirkte neben der melodischen Kraft die charakteristische Wahrheit seines Ausdruckes, wie sie vorzugsweise in den gegensätzlich gezeichneten beiden weiblichen Hauptpartien (Agrippina und Poppea) hervortritt. Noch zeigt das Ganze als Gesammtwerk nicht jene Reife der Durchbildung, jene Sicherheit der Formgebung, jenes Ebenmaß in allen Theilen, das wir an den Schöpfungen des vollendeten Meisters bewundern; aber der darin niedergelegte melodische Reichthum war groß genug, um nicht nur beim ersten Erklingen schon den »ausschweifendsten Beifall« hervorzurufen, sondern um auch dem Tonsetzer selber als ergiebige Fundgrube noch weiterhin zu verwerthender und auszubildender Tongedanken zu dienen. Wiederholt (zuletzt noch im »Josua«) machte er z.B. von der berühmt gewordenen Arie »L'alma mia« Gebrauch. Desgleichen von einer zweiten Arie der Agrippina: »Ho un non so che«, die in London der Oper »Pyrrhus« von A. Scarlatti eingeschoben wurde und lange Zeit als Composition des Letzteren galt. Beide Arien empfingen auch in dem Oratorium La resurrezione einen Platz, das Händel im April 1708 für das Osterfest in Rom schrieb. Denn an letzteren Ort wandte sich der wanderlustige Künstler jetzt abermals. An der Lockung, nach Hannover und London zu kommen, die aus der Umgebung des Prinzen Ernst August von Hannover laut ward, nachdem derselbe dem sensationellen Erfolg der »Agrippina« beigewohnt, ging er für jetzt vorüber, sie für später im Auge behaltend.[149] Gegenwärtig lag ihm mehr als alles Andere die Verfolgung seiner Zwecke in Italien am Herzen.
Inmitten der Vornehmen und Mächtigen des Landes, von Reichthum und einem jetzt kaum mehr geahnten geselligen Glanze umgeben, finden wir Händel in Rom. Er genießt hier die Gastfreundschaft des Marchese Ruspoli, eines der ersten der römischen Großen und emsigen Beschützers der schönen Künste, welcher um eben diese Zeit in gastfreier Weise seinen schönen Garten am Monte Esquilino jenerAcademia Arcadia als Versammlungsort geöffnet hatte, die, von Dichtern, Gelehrten und Geistlichen zur Pflege der Volkspoesie und Beredtsamkeit 1690 gestiftet worden war. Ueber ganz Italien verbreitet, zählte der die phantastisch tändelnde Empfindsamkeit dieser Gesellschaft und Epoche wiederspiegelnde Schäferorden Päpste, Cardinäle, Königinnen, Fürsten und Edle mit ihren Frauen, hohe Geistliche, Gelehrte und Künstler zu seinen Mitgliedern. Die Musik war durch die angesehensten einheimischen Namen, Corelli, Alessandro Scarlatti, Benedetto Marcello u. A., vertreten. Der officiellen Aufnahme Händel's stand nur seine Jugend im Wege: er hatte das vorschriftsmäßige Alter von 24 Jahren noch nicht erreicht. Doch trat er in nahe Beziehung zu den Arcadiern und wußte sich ihnen mannigfach nützlich zu machen, sie auch auf seine Weise (z.B. in der Cantate Olinto pastore, Tebro fiume, Gloria) zu feiern.
Wichtiger für ihn noch war die mit dem Schäferbund zwar nicht zusammenhängende aber ihm doch nahe stehende Academie, die in der Person des Cardinals Ottoboni ihren Mittel- und Vereinigungspunkt hatte. Bei den wöchentlichen Zusammenkünften in seinem Palaste, unter der Aegide dieses fürstlichen Protectors aller Musiker und Oberaufsehers der päpstlichen Capelle, war[150] die Musik Hauptgegenstand der Unterhaltung. War doch ohnehin, wie zwei Jahrhunderte früher unter Leo X. der Malerei, so jetzt der Tonkunst die allgemeine Gunst und Pflege zugewandt. Der Leitung Corelli's, des berühmten Instrumentalcomponisten und Vaters aller späteren Geigenspieler, unterstellt, wirkten die ersten Künstler der Welt hierbei mit; jeder neuen Größe trachtete man sich zu versichern. Auch was der »Signor Sassone« – so nannte man Händel in Italien – von bedeutenderen Tondichtungen in Rom vollendete, wurde in Ottoboni's Academie zur Aufführung gebracht. Es umfaßt – da in Ermangelung eines Operntheaters alles Dramatische ausgeschlossen bleiben mußte – als Wesentlichstes die oratorischen Werke La resurrezione (Die Auferstehung) und Il trionfo del tempo e del disinganno (Der Triumph der Zeit und der Wahrheit), sowie eine Reihe weltlicher Cantaten, die eigens für die römische Capelle geschrieben wurden. Wie sehr der Verkehr mit ihr dem jungen Künstler namentlich bei Behandlung der Instrumente zum Vortheil gereichte, das wird hier ersichtlich. Für Virtuosen ist Alles in der Ausführung berechnet, dabei aber frisch, feurig und glänzend, voll Sang und Klang. Seiner objectiven Art gemäß, auf Stil und Spielart der römischen Künstler eingehend, den Geist der römischen Gesellschaft in seinem Schaffen reflectirend, bleibt Händel sich doch immer selber treu und lehrt, indeß er selbst bei ihnen in die Schule geht und deutscher Charakteristik italienische Formenschönheit verbindet, den Italienern in italienischer Form germanisches Wesen kennen und lieben.
Ueber die Schwierigkeit seiner Musik und namentlich seiner im französischen Stil angelegten Ouverturen verlautete gleichwol seitens der Ausführenden manche Klage. Der französischen Kunst fremd, an die gefällige Anmuth[151] ihrer heimischen Weise gewöhnt, vermochten sie für die sprühende Kraft der Händel'schen Tonsprache so schwer den rechten Ausdruck zu finden, daß im Verdruß darüber »il caro Sassone« dem dirigirenden Corelli gar einmal die Geige aus der Hand riß, um ihn durch einige energische Bogenstriche über die richtige Auffassung aufzuklären. Ja, die Ouverture zu Il trionfo del tempo, deren Wiedergabe auf allzu große Schwierigkeiten stieß, mußte er auf Corelli's Wunsch durch eine mehr im italienischen Geschmack gehaltene Symphonie ersetzen.
Alessandro Scarlatti und Lotti, den beiden ruhmgekröntesten zeitgenössischen Componisten der Italiener, war Händel schon früher persönlich nahe getreten, wie er ihnen und zumal dem Ersteren als Opernmeister auch künstlerisch Manches verdankte. Nun lernte er in Scarlatti's Sohn Domenico auch den größten damaligen Clavierspieler des Landes kennen. Auf Ottoboni's Anregung gewährten sie Beide einem Tribunal von Kunstverständigen das interessante Schauspiel eines Wettkampfes. Doch zu Keines von Beiden Gunsten ward derselbe entschieden, da Jeder in seiner Art gleich Vollendetes leistete. Je nach Neigung der Einzelnen nur fiel das Urtheil hier für die graziöse Zartheit und Eleganz des Italieners, dort für die funkensprühende männliche Vollkraft des Deutschen in die Wagschale. Als der Wettstreit auf dem Flügel sodann jedoch auf der Orgel fortgesetzt wurde, war Domenico Scarlatti der Erste, welcher seinem Rivalen den Preis zuerkannte. Von einem solchen Spiel, so meinte er, habe er bisher keine Vorstellung gehabt. Neidlos schloß er sich fernerhin an ihn an und wurde so weit es anging sein beständiger Begleiter. Ja, auch später soll er, so oft man sein Orgelspiel rühmte, immer nur Händel's Namen genannt und dabei als Zeichen seiner Verehrung ein Kreuz geschlagen[152] haben. Wir wissen, daß auch Händel diese Achtung und Sympathie bis in seine spätesten Tage theilte.
Aeußere Unruhen, wie sie ausbrechende Feindseligkeiten zwischen Papst und Kaiser mit sich führten, vertrieben den Meister im Juni 1708 aus der ewigen Stadt, der man ihn gern noch mit festeren Banden als mit denen der Kunst verknüpft hätte. Die Versuche, ihn der römischen Kirche zu gewinnen, scheiterten indeß an seinem bestimmt ausgesprochenen Willen, in dem Glauben, in dem er geboren und erzogen worden, auch sein Lebenlang zu beharren.
Von den beiden Scarlatti, wie es heißt, begleitet, ging Händel nach Neapel. Mit offenen Armen wurde er auch hier in den Palästen der Großen aufgenommen. Wer ihn zuerst gewinnen und am längsten bewirthen konnte, wurde glücklich geschätzt. Als Ergebniß seines mehr als einjährigen Aufenthaltes ist uns außer sieben französischen Chansons das Schäferspiel »Aci, Galatea e Polifemo« verblieben, das als die musikalische Blüte des arcadischen Geistes, wie Guarini's Pastore fido als die poetische, gelten kann. Die französischen Lieder schrieb er, als gerade die Streitfrage über die Vorzüge der italienischen und der französischen Musik vielfältig und heftig erörtert ward, zu Studienzwecken und stellte damit sein eignes Glaubensbekenntniß hin, demzufolge für das Pathos der Rede wie für den leichten Gesang und Tanzrhythmus die französische, für die eigentliche Gesangs- und instrumentale Kunst vielmehr die italienische Art und Weise vorbildlich sei. Die Musik der verschiedenen Nationen läßt er auf sich wirken; begierig lauscht er auch den schlichten Klängen des Volksgesanges, um mit ihnen sein künstlerisches Vermögen zu bereichern. Dabei befriedigt er sich aber nicht bei bloßen Fachstudien. Aus der Anschauung des Lebens nimmt er den besten Theil[153] seines Wissens und seiner Kunst. Offenen Sinnes rings umherschauend, schärft sich ihm auch der Blick für bildende Kunst. Ein leidenschaftliches Interesse namentlich für Malerei trägt er zugleich mit seinem allgemeinen inneren Wachsthum aus Italien mit davon. Eins nur ließ er beim Abschied dort zurück: den sorglosen Frühling seines Lebens.
Auf England war sein Augenmerk gerichtet, als er, wie Neapel, Rom und Florenz, so auch Venedig zu Beginn des Jahres 1710 Lebewohl sagte. Da jedoch die Hannoveraner Baron Kielmannsegge und Capellmeister Steffani ihm begreiflich machten, daß bei der bevorstehenden Erhebung des Kurfürsten von Hannover auf den englischen Thron der Weg nach London über Hannover führe, begab er sich in ihrem Geleit vorerst nach Deutschland und wurde alsbald zum hannöverschen Hofcapellmeister ernannt. In seine Hände legte Steffani, einer der feinsinnigsten zeitgenössischen Componisten, der namentlich im Duett Vollendetes leistete und Händel, seinem eigenen Ausspruch zufolge, künstlerisch und persönlich mehr als ein Anderer beeinflußte, den Dirigentenstab nieder. Den Plan, nach England zu gehen, verwirklichte Händel aber noch im selben Herbst, nachdem er daheim in Halle gar Manches verändert gefunden. Die eine seiner Schwestern war gestorben, die andere verheiratet; einsam fand er die alte Mutter wieder. Ueber Düsseldorf, die Residenz des ihm von Italien her bekannten Kurfürsten von der Pfalz, und Holland ging die Reise dann geradewegs nach London.
Nicht umsonst hatte man ihn bereits in Venedig dahin, als an den geeigneten Boden für seine Kunst, gewiesen. Die Musikpflege lag in England im Argen. Während der Geist der Nation auf anderen Gebieten, wie Poesie, Philosophie, Staatswissenschaft, reichste[154] Blüten getrieben und dem Lande zu äußerer und innerer Machtstellung verholfen hatte, schien ihm im Bereich der Tonkunst jedes hervorragende schöpferische Vermögen versagt. Nicht wie Frankreich und Deutschland zeigte sich England befähigt, die von dem musikreichen Italien empfangenen Vorbilder und Formen, dem eigenen nationalen Wesen entsprechend, selbständig aus- und umzubilden. Ein Einziger nur, der begabte Dramatiker Purcell (1658–95), machte einen ernsthaften und von Erfolg begleiteten Versuch; aber er starb noch bevor er denselben über einen verheißungsvollen Anfang hinaus geführt. Was Andere – wie der unfähige Clayton als Bundesgenosse des gefeierten Addison – nach ihm zu Stande brachten, blieben verunglückte Experimente. Am Ende nährte man sich wiederum von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen; man borgte von dem Ueberfluß des musikgesegneten Südens das, was unter dem unfruchtbareren nordischen Himmel nicht gedeihen wollte: Sänger und Singenswerthes. Das Verlangen nach einem eigenen Musikbesitz war inzwischen, zugleich mit einer lebhaften musikalischen Empfänglichkeit, in dem englischen Volke mächtig geblieben, und eben das mußte dem Manne frommen, der nun als universaler Tongenius in seine Mitte trat, um ihm die ersehnte Gabe zu reichen und ihm auch auf dem Felde der Musik unsterblichen Ruhm zu gewinnen, so wie er selber sich dort zum Gipfel seiner Meisterschaft emporschwang.
Unter besonders günstigen Umständen traf Händel in dem Lande ein, dem er fortan fast ausschließlich seine Thätigkeitweihen sollte und dessen großartiges, freies Leben ihn bald sympathisch berührte. Der germanische Geist hatte mit Ueberweisung der Thronfolge an ein deutsch-protestantisches Fürstenhaus dort Triumphe gefeiert. Der Aufregung des Krieges waren Friedenshoffnungen gefolgt,[155] der Sinn für die Künste des Friedens ward wieder rege. Kein Componist oder Virtuos von irgend welchem Belang machte dem Ankommenden den Rang streitig; wogegen eine neu ergänzte vorzügliche italienische Sängergesellschaft ihm die Gewähr zur besten Verwirklichung seiner musikalisch-dramatischen Intentionen bot. Und er, der allseitig mit Spannung Erwartete, von Königin und Adel freudig Begrüßte, säumte nicht, ihr seine Aufgaben zu stellen. Binnen vierzehn Tagen warf er seine Oper »Rinaldo« auf das Papier – sein erstes Originalwerk für die italienisch-englische Bühne und zugleich die bedeutendste seiner bisherigen Leistungen. Ueber die »Agrippina« und Früheres zeigt er sich darin nicht nur nach der musikalischen, sondern auch nach der dramatischen und charakteristischen Seite um Vieles fortgeschritten, und auch unter den Werken der zeitgenössischen Dramatiker dürfte sich nichts finden, das sich mit dem Gesange »Cara sposa« – den Händel selber noch späterhin für einen seiner besten erklärte – oder »Lascia ch'io pianga« an Werth messen könnte.
Bei ihrer ersten Aufführung auf dem Haymarket- Theater am 24. Februar 1711 machte die Oper denn auch einen außerordentlichen Eindruck. Als Gradmesser des öffentlichen Beifalls ist es bezeichnend, daß der Londoner Musikalienverleger Walsh an Gesängen aus »Rinaldo« fünfzehnhundert Pfund Sterling, also über dreißigtausend Mark, verdient haben soll. »Mein lieber Walsh,« sagte ihm anläßlich dessen Händel in seiner trocknen humoristischen Weise, »damit Alles zwischen uns gleich sei, componiren Sie die nächste Oper und ich verkaufe sie.« Seine Töne drangen eben in die Masse, sie klangen Allen, Hoch und Niedrig, Gebildeten und Ungebildeten in's Herz hinein. Hatte man bisher, den Singspielen Scarlatti's und Buononcini's[156] zum Trotz, noch immer dem alten Nationalliebling Purcell angehangen, so verdrängte der ihm geistesverwandte Händel, der das dem englischen Volkscharakter eigene kraftvoll Tüchtige, das gemessen Würdevolle zum Ausdruck brachte, diesen allmälig aus den Herzen seines Volkes. Daß er hier sein rechtes Publicum gefunden habe, darüber ließ ihn die Aufnahme des »Rinaldo« nicht in Zweifel. Mochten die Engländer immerhin das verfeinerte Musikgefühl vermissen lassen, das ihn an den Italienern angeheimelt hatte: ihrem eigentlichen Kerne nach sah er seine Leistungen doch besser von jenen Ersten als von irgend einer andern Nation geschätzt. War er dagegen als Gast Italiens unangefochten, allerwärts nur verehrt und bewundert seine Bahnen gezogen, so umstand ihn hier alsbald ein Schwarm von Neidern und Feinden, dem er, ungeachtet der Ueberzahl seiner Freunde, das Terrain erst Schritt für Schritt abgewinnen mußte. In vorderster Reihe unter seinen Gegnern kämpfte der berühmte Satyriker Addison, der, um Händel, »den neuen Orpheus«, damit zu treffen, in seinem vielgelesenen »Spectator« die Schwächen der englischen italienischen Oper mit unwiderstehlichem Humor geißelte. Händel selber diente der geistreiche Spott wie allen Anderen zur Kurzweil. So wenig wie ehemals in Hamburg gelegentlich der »Almira«, kam es ihm gegenwärtig bei, sich persönlich in den Kampf zu mischen. Die mannigfachen Irrthümer aus seiner Höhe herab wol überschauend, ließ er seine Kunst für sich reden, und sie sprach beredt genug. »Ein Deutscher und ein Genie? Den muß ich sehen!« hatte Pope skeptisch ausgerufen, als man ihm das »deutsche Genie« Händel's angekündigt hatte. Bald jedoch verstummten Zweifel und Widerspruch.
Nach Ende der Londoner Saison, muthmaßlich im Juni 1711, trat Händel seine Capellmeisterthätigkeit in[157] Hannover an. Sie beschränkte sich auf Kammermusik. Auch hier, wo sich wie anderwärts zwei verschiedene Richtungen in der Musik, die italienische Kammer- und die französische Capellmusik behaupteten, vereinigte Händel's Kunst die getrennten Gattungen. Dabei componirte er eine Anzahl seiner schönen, nach Steffani's Vorbild geschaffenen Kammerduette6, deutsche Lieder und seine Oboenconcerte – das werthvollste seiner Instrumentalwerke. Seine Opern ruhten inzwischen. Auf die Dauer behagte ihm das nicht. Er kam um neuen Urlaub ein, und der November 1712 fand ihn wieder auf englischer Erde und damit in sofortiger Thätigkeit für die italienische Opernbühne. Die eilfertig entstandene Oper »Il pastor fido« erntete indeß geringen Beifall und verschwand nach wenigen Vorstellungen, um zwanzig Jahre später nach erfolgter Umgestaltung ihre Stellung besser zu behaupten. Auch sein nächstes dramatisches Werk: der am 10. Januar 1713 in Scene gehende »Teseo«, war von unerfreulichen Folgen für den Autor begleitet. Nach den ersten beiden sehr gewinnbringenden Aufführungen ging der Director des Theaters auf und davon und hinterließ Componist und Sängern nichts als seine Schulden. Höhere Genüge als in diesen beiden Arbeiten that sich des Tondichters Genius in einer Schöpfung anderer Art. Es verlangte ihn, den bevorstehenden Friedensschluß in einem großartigen Te Deum zu besingen. Um aber mit dem Auftrage dazu betraut zu werden, was für ihn als Ausländer auf gesetzliche Hindernisse stieß, mußte er sich erst die Königin Anna besonders geneigt machen. Eine Ode, die er zu diesem[158] Behuf zu ihrem Geburtstage schrieb und (am 6. Februar 1713) aufführte, hatte den gewünschten Erfolg. Mit Composition des berühmt gewordenen Utrechter Te Deum wurde ihm zugleich die eines Jubilate (es ist in Deutschland als der 100. Psalm bekannt) übertragen. Seiner Neigung für Glanz und Machtentfaltung durch reiche Kunstmittel und Massenwirkungen konnte er hier freien Lauf lassen; aber er schlägt dabei Weisen an, die Jeder fühlt und versteht; denn er singt einen Lobgesang, der aus Aller Herzen emporsteigt und Aller Herzen bewegt. Die Aufführung beider, die Reihe seiner bedeutendsten Hervorbringungen eröffnenden Werke fand auf königlichen Befehl am 7. Juli 1713 in der Paulskirche statt, dahin sich das Parlament in feierlicher Procession verfügte. Sie trug ihm als Dank der Königin einen Jahrgehalt von 200 Pfund Sterling ein, verscherzte ihm aber, – umsomehr als er durch rücksichtsloses Ueberschreiten des ihm bewilligten Urlaubs ohnehin schon Mißstimmung in Hannover hervorgerufen – die Gunst seines Kurfürsten völlig. Und nicht ohne Grund. Hatte er doch durch seine Compositionen einen Frieden verherrlicht, durch den England, dessen Regierung neuerdings zu Gunsten des katholischen Prätendenten Jacob den Ausschluß Hannovers von der englischen Thronfolge betrieb, die Erwartungen Hannovers getäuscht und seine Interessen verletzt hatte. Solch offenkundige Demonstration sei nes Capellmeisters – mochte sie immer aus künstlerischer Ruhmbegier und Unkenntniß in politischer Beziehung entspringen – konnte dem Kurfürsten nicht gleichgültig sein. Händel fiel in Ungnade; um so verhängnißvoller für ihn, als am 1. August 1714 plötzlich die Königin starb und aller gegnerischen Machinationen ungeachtet der Kurfürst von Hannover als König Georg I. den englischen Thron bestieg. Lange währte es bevor sich der[159] erzürnte Herrscher versöhnen ließ. Inzwischen zwar bot ein vornehmer Kunstmäcen, Lord Burlington, dessen »italienischen Palast im Norden, wo alle Musen fröhlich rasteten«, der Dichtermund preist, dem Künstler durch Jahre hindurch eine gastliche Freistatt, die ihn nicht nur in der großen englischen Gesellschaft einführte, sondern ihm auch – die Opern »Silla« (1714) und »Amadigi« (1715) beweisen es – Stimmung und Muße zum Schaffen ließ. Bei Hofe aber durfte er nicht erscheinen. Da ersann endlich Lord Burlington mit Baron Kielmannsegge gemeinsam ein erfolgreiches Mittel. Sie veranstalteten eine festliche Barkenfahrt auf der Themse, zu welcher Händel seine berühmte »Wassermusik« componirte. Als dann der König, davon entzückt, nach dem Verfasser derselben fragte, führte man ihm seinen reuigen Capellmeister zu, der nun das Lob seiner Musik hören durfte. Den ihm von seiner Vorgängerin zugewiesenen Jahresgehalt verdoppelte jetzt König Georg durch weitere 200 Pfund, zu denen Prinzessin Caroline, als Händel später den Musikunterricht der kleinen Prinzessinnen in die Hand nahm, noch die gleiche Summe hinzufügte, so daß sich seine feste Jahreseinnahme demnach auf 600 Pfund belief.
Eine Reise, die Händel nach Deutschland unternahm, brachte ihn, der sich ganz der englischen Musik zugewendet hatte, noch einmal mit der vaterländischen Tonkunst in Berührung. Er schrieb für Hamburg, den Ort seiner einstigen aufstrebenden Thätigkeit, sein letztes deutsches Tonwerk: eine Passionsmusik.
Wie seinen Hamburger Kunstgenossen Keiser, Telemann und Mattheson bei ihren gleichartigen Arbeiten, so diente auch ihm nicht, gleich Bach, das Bibelwort, sondern eine freie Dichtung des Hamburger Brockes zur textlichen Grundlage. Aber eben so weit auch, als dies sinn- und geschmacklose Reimwerk hinter der ewigen[160] Urkraft des Bibeltextes, blieb dies Product Händel's hinter den betreffenden Meisterwerken des großen Sebastian zurück. Händel's Größe wächst und sinkt eben mit seinen poetischen Vorwürfen, und für den Werth derselben ist seine Musik stets die beste Kritik. Historisch interessant bei aller Unvollkommenheit bleibt jedoch immerhin ein Werk, das die Passion Keiser's aus dem Felde schlug und von Bach einer eigenhändigen Abschrift werth erachtet ward, schon in seiner vermittelnden Stellung zwischen der Entwickelung und dem letzten größten Aufschwunge der norddeutschen protestantischen Kirchenmusik.
Inmitten politischer Wirren und Aufregungen feierte mittlerweile die Londoner Oper. Händel nahm einen Antrag des Herzogs von Chandos an, der wie ein souveräner Fürst in Cannons-Castle Hof hielt, und trat als Capellmeister und Organist in dessen Dienste. Seine geniale Wirksamkeit brachte es dahin, daß an Stelle von St. Paul's Kathedrale die kleine Whitchurch in Cannons jahrelang der lebenzeugende Mittelpunkt englischer Kirchenmusik wurde und daß, um sich in seinem musikalischen Gottesdienste zu erbauen, das vornehme London sonntäglich dahin wallfahrtete. Hier, wo er, von jugendlich feurigen Kräften umgeben, sein unvergleichliches Dirigententalent ausbildete, entstanden außer den kleinen Tedeums in B, A und D (1718–20), jene zwölf »Anthems«, Meisterwerke obersten Ranges, in deren durch Solosätze und Instrumentalbegleitung wechselvoll belebten Chören die Form von Motette und geistlicher Cantate vereinigt erscheinen. In der alttestamentlich charaktervollen Kraft und Wahrheit ihrer Tonsprache sind diese Psalmen-Compositionen die Vorläufer seiner Oratorien, deren erste beide ebenfalls dem Aufenthalt zu Cannons ihre Entstehung danken. Zum ersten Male griff er hier nach einer Musikgattung, die,[161] von den Italienern in's Leben gerufen und von Heinrich Schütz weiter entwickelt, der Vollendung durch seine Hand harrte. Das erste von beiden: »Esther« – es wurde am 20. August 1720 zum ersten Male gehört und dem Componisten mit 1000 Pfund vom Herzog gelohnt – zeigt schon die Breite der Anlage und Wucht der Gestaltung vorbereitet, die seine oratorischen Meisterthaten kennzeichnen. Gleichwol haften ihm die Merkmale eines Erstlings seiner Gattung, der es auch nicht nur für Händel, sondern auch für England überhaupt war, noch bemerkbar an, wie es denn namentlich eine zu große Abhängigkeit von Bühnendrama und Oper verräth und sich mehr als eine Oper mit geistlichem Texte giebt.
Ein zweites, um dieselbe Zeit geschaffenes Oratorium behandelt statt einer biblischen eine weltliche Dichtung und schließt, während »Esther« eine neue Reihe religiöser Kunstgebilde eröffnet, vielmehr eine ältere, dem Leben jener Zeit entsprossene Kunstart vollendend ab. Es ist das die Heiterkeit der classischen Mythologie wiederspiegelnde Schäferspiel »Acis und Galatea«. Den gleichen Gegenstand hatte der Tonsetzer schon früher in Neapel besungen; jetzt gab er ihm eine völlig neue, ungleich reifere Gestalt. Händel's Zeitgenossen erblickten in »Galatea« eines seiner vollkommensten und gleichmäßigst gearbeiteten Werke. Noch heutigen Tages auch ist es in England allgemein gekannt und verbreitet, wogegen ihm bei uns in Deutschland nicht einmal Mozart's Bearbeitung Boden zu gewinnen vermochte. Im Lande der Musik blieb man seltsamerweise einem Kunstwerk fremd, das nicht nur in seinen einzelnen Theilen – wie in dem Terzett oder der letzten Arie Galatea's: »Herz, der Liebe süßer Born«, – sondern als Ganzes das Gepräge der Vollendung trägt und uns den Componisten, dessen ernst pathetische, machtvoll heroische Ausdrucksweise wir vorwiegend[162] kennen, nun zur Abwechslung von anmuthig liebenswürdiger, humoristischer Seite zeigt.
Für den erhabensten Theil seines späteren Kunstschaffens hatte Händel durch die eben genannten kirchlichen und oratorischen Schöpfungen die Keime gelegt und mit ihnen von dem Reiche Besitz ergriffen, dessen unumschränkte Herrschaft ihm vorbehalten war. Doch kehrte er, bevor er sich ihm dauernd und ausschließlich zuwandte, noch für längere Zeit zur Oper zurück, die ihm zwar nur der Durchgang zum Oratorium sein, ihm dennoch aber eine ungleich entwickeltere Charakteristik und erhöhte Tüchtigkeit der musikalischen Construction verdanken sollte.
Das Jahr 1720 brachte für Händel's Leben eine entscheidende Wendung. Eine sonnenhelle, genußfreudige Wanderung war es bisher gewesen. In unverkümmerter Lust hatte er gestrebt und geschaffen, nur vom Hörensagen kannte er die Dornen und Drangsale des Künstlerlaufs. Nun sollte er sie in Wahrheit kennen lernen und, zum Kampf mit den Verhältnissen herausgefordert, seine Kraft erproben. Das Ereigniß, an das sich diese Wendung knüpfte, war die durch Subscription des Königs und der Aristokratie erfolgende Gründung der Royal academy of music. Nicht wie die Pariser Academie, von der sie den Namen entlehnte, stellte sich die Londoner Kunstanstalt eine nationale Aufgabe. An Erneuerung der früheren englischen Opernversuche dachte man nicht; man wollte die italienische und zwar ausschließlich die ernste Oper in musterhaften Aufführungen pflegen. Mit Engagement eines diesem Plan entsprechenden Künstlerpersonals ward Händel beauftragt, der denn auch bald einen Kometenschweif glänzender Sängergrößen, wie Baldassari, Senesino, Cuzzoni, Faustina, hinter sich drein zog. In der musikalischen Leitung wechselte er mit den Italienern Buononcini, Attilio Ariosti u. A., die[163] man zeitweise zur Vorführung ihrer Werke gewann, ab. Gerade diese letztere Einrichtung aber war einem friedlichen Gedeihen des neuen Unternehmens von vornherein hinderlich. Gegen die überragende Größe des deutschen Meisters, der die Italiener auf ihrem eigenen Gebiete und mit ihren eigenen Waffen niederschlug, kämpften Neid und Mißgunst in fortgesetzten Feindseligkeiten und machten, mit den Eifersüchteleien der Sänger, den Meinungsverschiedenheiten der Unternehmer und den Intriguen der Operngegner im Bunde, ein harmonisches Zusammenwirken unmöglich. Alles ging im Parteiwesen unter. Der Hof stellte sich auf die Seite Händel's, wie er ihrer schönen Rivalin Faustina Bordoni gegenüber die häßliche aber unvergleichlich geniale Cuzzoni begünstigte. Andere schrieben Buononcini und die Faustina auf ihre Fahne und gaben ihre Sympathien in lärmenden Demonstrationen kund. Wenn die Eine sang, pfiffen und tobten die Parteigänger der Andern; die rücksichtslosesten Scenen spielten sich während der Vorstellungen im Publicum ab. Am Ende kam es gar auf offener Bühne zu einer Rauferei zwischen beiden Sängerinnen.
Händel verstand seinerseits schon mit ihnen fertig zu werden; ihren Launen, ihrer Herrschsucht setzte er, im Gegensatz zu der Tyrannei, die andere Componisten von ihnen erdulden mußten, die ganze Macht seiner Persönlichkeit entgegen. Als die Cuzzoni einmal eine Arie zu singen verweigerte, wenn er sie nicht nach ihrem Willen abändere, ergriff er die Widerspenstige mit riesenstarkem Arm und hielt sie zum Fenster hinaus mit der in flammendem Zorne ausgestoßenen Drohung, sie hinab zu werfen, dafern sie nicht sofort gehorche. »Daß Sie eine leibhaftige Teufelin sind, das weiß ich, Madame«, donnerte er ihr zu; »aber ich will Ihnen zeigen, daß ich Beelzebub, der Teufel Oberster, bin!« Er hatte sich[164] über sie, den »weiblichen Gott sei bei uns aller italienischen Capellmeister«, hinfort nicht mehr zu beklagen.
Seine Gegner Buononcini und Ariosti, die es schließlich, wenn auch ohne besonderes Glück, mit Nachahmung seiner Weise versuchten, schlug Händel durch seine schöpferischen Thaten aus dem Felde. Eine lange und stattliche Reihe von Opern: »Radamisto« (1720). »Muzia Scevola«, »Floridante« (1721), »Ottone«, »Flavio« (1723), »Giulio Cesare«, »Tamerlane« (1724), »Rodelinda« (1725), »Scipio«, »Alessandro« (1726), »Admeto«, »Ricardo I.« (1727), »Siroe« und »Tolomeo« (1728), die sich von Haymarket aus über ganz Europa verbreiteten, scheuchten sie endlich vom Schauplatz hinweg. Ein Pamphlet, mit dem sein alter Feind Buononcini an dem deutschen Künstler Rache zu nehmen vermeinte, blieb wirkungslos – Händel war jetzt alleiniger Leiter der Academie. Doch die Theilnahme des Publicums war den beständigen Streitereien der Sänger zufolge erkaltet; an der »Uebervorzüglichkeit ihrer Sänger«, so meint ein Zeitgenosse, ging die mächtige Oper zu Grunde. Die satyrischen Feldzüge der Dichter und Literaturhelden Swift, Pope und Gay, und zumal des Letzteren »Bettleroper« – eine mit Volksgesängen gespickte Vereinigung von Farce, politischer Satyre und musikalischer Parodie, die, ihre Spitzen auch gegen die italienische Oper kehrend, sich im Umsehen über ganz England verbreitete und zahllose rohe Nachahmungen nach sich zog – gaben dem ohnehin verschuldeten Unternehmen den Todesstoß. Die Academie löste sich auf; doch nur um sich binnen Kurzem unter veränderten Verhältnissen und ohne den bisherigen kostspieligen Verwaltungsapparat auf's Neue zu constituiren. Da diesmal die Gründung im Wesentlichen vom Hofe und von dem zu diesem haltenden Adel ausging, wurde, während man für die technische Leitung wie bisher Heidegger[165] beibehielt, die künstlerische nun ausschließlich in Händel's Hand gelegt. Denn in hohem Maße erfreute sich Letzterer der Gunst des Königshauses. Bald nachdem er 1726 das englische Bürgerrecht erlangt, hatte ihn Georg I. zum Hofcomponisten ernannt. Es änderte nichts in seiner Stellung zum Thron, daß, als den König im Juni 1727 auf einer Reise in Osnabrück ein plötzlicher Tod ereilte, dessen Sohn ihm in der Regierung folgte. Der Krönungsfeier Georg's II. in der Westminster-Abtei mußten Händel's »Krönungsanthems« die musikalische Weihe geben, und für einen zum Geburtstag des neuen Staatsoberhauptes veranstalteten Hofball schrieb er eigenhändig mehrere Menuetts. Desgleichen componirte er später zur Vermählung seiner Lieblingsschülerin Prinzessin Anna mit dem Prinzen von Oranien ein Trauungsanthem und die Serenade Parnasso in festa (1734). Auch die Hochzeit des Prinzen von Wales feierte er dann (1736) mit einem gleichen Festgesang. Außer dem Musikunterricht der Prinzessinnen übernahm er die Leitung der Hofconcerte, wie bei allen besonderen Gelegenheiten das Orgelspiel, die Composition und Aufführung der Musik, ohne ein officielles musikalisches Amt am Hofe zu bekleiden und ein solches je zu suchen. Obgleich von seinen englischen Kunstgenossen beneidet und gehaßt, verschmähte er, sich zu ihrem Schaden vorzudrängen und zu bereichern und die königliche Gunst zu seinem Vortheil auszunutzen. In hohem Grade ruhmbegierig, als Mann der Welt auch Geld und Geldeswerth nicht mißachtend, streckte er doch auch nach dem ihm Begehrenswerthen nie auf Kosten Anderer die Hände aus. Kleiner Mittel bediente sich sein großer Charakter nie; groß und rein wie seine Kunst war auch sein Geist, seine Seele. War als Jüngling sein Kunstschaffen mehr auf äußeren Erfolg gerichtet, so vertiefte[166] sich dasselbe mehr und mehr. Immer gewann er an künstlerischer Charakterwürde, und die Größe seiner Schöpfungen entsprach seinem eigenen Innern. Seiner äußeren Erscheinung selbst war eine imponirende Würde und Mannhaftigkeit aufgeprägt. Die große, etwas volle Gestalt zeigte eine vornehme Haltung, und die meist ernste, fast finstere Miene milderte ein leise durchblickender Zug von Freundlichkeit. Lächelte er, so war es, wie wenn die Sonne durch Wolken bricht, sagt Burney. Geistesgröße und Genie sprachen aus seinem Antlitz. Im geselligen Verkehr liebte und bethätigte er, der mit den bedeutendsten Männern Umgang pflog und sich für alle großen Ideen und Ereignisse seiner Zeit interessirte, Humor und Laune; so leidenschaftlich er bei seinem cholerischen Temperament auch zu Zeiten aufbrausen konnte und so rauh und rücksichtslos er zumal jedes unkünstlerische Ansinnen von sich wies. Denn in der Kunst, in seinem Berufe ging sein Leben auf. Ein heroischer Charakter, zum Herrscher geboren, war er als solcher verehrt und gefürchtet. Man zitterte und bebte in den öffentlichen Proben und Aufführungen vor dem tyrannischen Mann, der jeden Fehler, jede Versäumniß mit unerbittlicher Strenge rügte. Pflegte er doch selbst seinem Unmuth freien Lauf zu lassen, wenn bei den Oratorien-Proben in Carlton-House die fürstlichen Besitzer, Prinz und Prinzessin von Wales, auf sich warten ließen. Wagten es gar die Hofdamen, während der Musik zu plaudern, so rief er sie scheltend beim Namen, bis die Prinzessin von Wales mit gewohnter Milde und Sanftmuth begütigend sagte: »Still, Händel ist böse!«
Dabei schlug ihm das Herz warm und innig in der Brust. Dem Vortheil Armer machte er sein Können gern und häufig dienstbar. Zum Besten eines Vereins[167] für arme Musiker, dessen Mitbegründer er war, sowie des Findlings-Hospitals veranstaltete er alljährlich, selbst zu einer Zeit, wo er selber in Bedrängniß war, Concerte, wie er ersteren auch in seinem Testament bedachte. An den Seinen hing er mit treuer Liebe. Die uns erhaltenen Briefe, die er seinem Schwager Michaelsen schrieb, sind dessen Zeuge. Nach dem Tod seiner letzten Schwester setzte er deren Tochter und einziges Kind Friederike, die er aus der Taufe gehoben hatte und der er väterlich zugethan war, zur Haupterbin seines beträchtlichen Vermögens ein. Und wie seine kindliche Fürsorge den Lebensabend seiner Mutter schmückte, das rühmte ihm noch an deren Grabe (1731) der Mund des Predigers inberedten Worten nach. Wie er um ihretwillen wiederholt den Weg nach der Heimat machte, so reiste er, um den letzten Segen der Erblindeten, Hochbetagten zu empfangen, auch im Juni 1729 nach Halle. Ein Versuch Bach's, bei dieser Gelegenheit eine Begegnung mit seinem großen, von ihm aufrichtig bewunderten Kunstgefährten herbeizuführen, schlug leider gleich einem früheren fehl. Sie sollten einander niemals im Leben die Hand reichen. Und doch sagte Bach von ihm: »Das ist der Einzige, den ich sehen möchte, ehe ich sterbe, und der ich sein möchte, wenn ich nicht der Bach wäre.«
Auch mit dieser Reise wiederum verband Händel, wie schon zehn Jahre zuvor, einen künstlerischen Zweck. Wie damals galt es ihm die Anwerbung von Sangeskräften für die neu zu begründende Academie. Statt nach Deutschland, wie jenes erste Mal, aber wandte er sich jetzt direct an die Quelle, an das Vaterland der Gesangskunst: er ging in Begleitung seines alten Freundes Steffani, der sich als 74jähriger Sänger noch in Ottoboni's Academie hören ließ, nach Italien. Eine reiche Ausbeute an Partituren, Operndichtungen und Sängern[168] brachte er mit nach England heim; unter Letzteren Bernacchi und die Strada – welche sich nach Eröffnung des Theaters unter seiner Führerschaft zur vollen Größe entfaltete und ihm dies durch treueste Anhänglichkeit lohnte – als erste Sterne. Aber Bernacchi gefiel nicht; er mußte ihn bald durch den früheren anspruchsvollen Sopranisten Senesino ersetzen. Selbst gegenüber seinen eigenen Opern: »Lotario« (1729), »Partenope« (1730), »Poro« (1731), »Ezio«, »Sosarme« (1732) und »Orlando« (1733), die er abwechselnd mit den Werken Anderer zur Darstellung brachte, zeigte sich das Publicum immer spröder und wetterwendischer. Dabei erwies sich die Gunst des äußerst unbeliebten, mit sich selber in Unfrieden lebenden Königshauses als ein sehr zweifelhafter Vortheil für den Dirigenten. Immer entschiedener spielte man die politische Opposition auf das Gebiet der Kunst hinüber. Man benutzte die Rachsucht des von Händel in Folge maßloser Ansprüche weggejagten Senesino, wie die Charakterlosigkeit seiner Collegen, und eines Tages überraschte man London durch Errichtung einer neuen italienischen Oper, mit den oppositionellen Baronen und dem Prinzen von Wales an der Spitze, der offen gegen seine Eltern und Geschwister Partei ergriff. Da mit Ausnahme der Strada sämmtliche Sänger dem deutschen Maestro fahnenflüchtig wurden, ging nach nur vierjährigem Bestehen die Academie wiederum auseinander.
Wollte Händel, wogegen sein Künstlerstolz sich auflehnte, nun nicht die Waffen strecken, so blieb ihm nichts übrig, als mit Heidegger, der inzwischen das Haymarket-Theater käuflich an sich gebracht hatte und ihm contraktlich noch des Weiteren verpflichtet war, die Oper auf eigenes Wagniß hin weiter zu führen. Er gewann sich in Italien neue Sänger und eröffnete mit Carestini, dem ersten Sopranisten seiner Zeit, und seiner getreuen[169] Strada im Bunde, im October 1733 in Gegenwart des Hofes den Wettkampf. Um Sein oder Nichtsein handelte es sich für ihn wie für die Oper des feindlichen Adels, die unter Anführung Porpora's und Hasse's, mit Farinelli als singendem Hauptmagnet in Lincoln's-Inn-Fields ihre Wohnung aufgeschlagen hatte. Wo sich bisher nur eine Gesellschaft mit Mühe behauptet, vermochten zwei nicht auf die Dauer zu bestehen. Mit der glänzenden Streitmacht seiner Opern: »Ariadne«, »Oreste« (1734) »Ariodante«, »Alcina« (1735) »Atalanta« (1736), »Giustino«, »Arminio« und »Berenice« (1737) nebst dem Tanzspiel »Terpsichore«, die Händel eine nach der andern in's Feld führte, konnten die Andern freilich nicht rivalisiren. Dafür sang sich ihr Farinelli mit Allgewalt in die Gunst des Publicums ein. Dem Componisten, selbst einem Händel, stellte sich in jener Zeit der Sängerherrschaft auf der Bühne der Gesangsvirtuos als feindliche Macht gegenüber. Als aber der blos sinnliche Reiz, den Farinelli's Gesang ausübte, endlich an der Uebersättigung der Zuhörer seine natürliche Grenze und damit zugleich auch die Gegenoper, von der sich der Prinz von Wales bereits abgewandt hatte, ihr Ende fand, stand auch Händel am Ende seines Vermögens. Mit Aufbietung aller seiner Thatkraft hatte er nach der 1734 erfolgten Trennung von Heidegger die Oper auf Rich's neuerbautem Coventgarden-Theater weitergeführt. Doch der Kämpfe und Sorgen, der Mühen und Anstrengungen waren zu viele gewesen selbst für seine riesige Natur. Ein Schlaganfall traf ihn inmitten seiner Thätigkeit und beraubte ihn, den nie Rastenden, des Gebrauchs seines rechten Armes. Mit der Zerrüttung seiner Körperkräfte fiel noch die seines Geistes zusammen, und zu alledem kam die gänzliche Vernichtung seines Wohlstandes, der Frucht langer, emsiger Arbeit – er sah sich verarmt und außer Stande, den Verpflichtungen[170] gegen seine Sänger nachzukommen. Aber wie trotz seiner persönlichen Niederlage doch seine Sache gesiegt hatte, so bewährte sich auch die ganze Stärke seiner Heldennatur. Die Aachener Bäder, die er im Sommer 1737 in seiner stürmisch energischen Weise gebrauchte, wirkten Wunder; sie gaben ihm binnen Kurzem die verlorene Gesundheit des Geistes und Körpers zurück. Wenige Stunden nach seinem letzten Bade wallfahrte er in die Kirche, um mit der nun wieder völlig genesenen Hand Gott auf der Orgel sein Dankopfer darzubringen. War es so unbegreiflich, wenn die Nonnen, die solches Orgelspiel nie zuvor vernommen, seine Heilung für ein Mirakel erklärten?
Seiner Bühnenthätigkeit war Händel müde geworden. Nur um seine Gläubiger zu befriedigen und dem drohenden Schuldgefängnisse zu entgehen, schrieb er, um dieselbe Zeit, als er sich mit schmerzlicher Ueberwindung seines Stolzes auch zu einem Benefiz-Concert für sich selber bestimmen ließ, für Heidegger, der aus den Trümmern beider Operngesellschaften eine neue aufbaute, die Opern »Faramondo« (1737) und »Serse« (1738), sowie das Pasticcio, »Alessandro Severo«, denen später noch »Jupiter in Argos« (1739), »Imeneo« und »Deidamia« (1740) folgten. Mit diesem letzten, dem 39sten italienischen Drama, das er der englischen Bühne geschenkt hatte, kehrte er derselben nun für immer den Rücken. Was er in der Oper zu leisten bestimmt war, das hatte er geleistet. Er steht in ihr noch wesentlich auf italienischem Boden. »Arienbündel, durch Recitativfäden zusammengehalten«, nennt Chrysander seine Bühnenwerke. An dem Bestreben, den Text an sich dramatisch umzugestalten und die Oper zu einem musikalisch-dramatischen Ganzen durchzubilden – wie wir es Gluck später verfolgen sehen – hat Händel sich trotz verschiedener dramatisch wirksamer Scenen, die seine Opern enthalten, nie betheiligt. Er will mehr das Musikalisch-Concertmäßige[171] als das Dramatische, ob er auch an innerer Durchbildung der Tonformen, an freierer und reicherer Gestaltung des instrumentalen Satzes, wie an vertiefter Textbehandlung, an Wahrheit der Charakter- und Seelenmalerei, an Schlagfertigkeit des Ausdruckes über seine Vorgänger hinausgeht und den Zielen der Oper erkennbar näher rückt. Seine eigenen Ziele gingen jetzt über die Bühne hinaus. Mehr noch als in der künstlerischen Darstellung des Einzellebens sollte sich in der Charakteristik ganzer Volksindividualitäten und Menschheitsperioden seine Eigenart in ihrer vollen Bedeutung offenbaren. Dem Oratorium, das er bisher nur nebenbei gepflegt, wandte er sich nun ausschließlich zu. Seit seine in und für Cannons geschriebenen Erstlingsarbeiten dieser Gattung: »Esther« und »Galatea«, bei erneuter Vorführung (auf der Scene, 1731 und 32) dem lebendigen Antheil des Publicums begegnet waren und zudem der große Erfolg der wiederholten Aufführung seines Utrechter Tedeums sammt Jubilate und Anthems (zum Besten einer milden Stiftung) ihn auf den in der Oeffentlichkeit erwachten ernsteren Musiksinn hinwies, hatte er sich zu regelmäßigen derartigen Aufführungen entschlossen und somit auch das geistliche Musikdrama des Oefteren zum Feld seiner Thätigkeit erwählt. Die Oratorien »Deborah« (1733) – mit den schon in's Große gearbeiteten Chören –, »Athalia« (es wurde auf Einladung der Oxforder Universität 1733 componirt und aufgeführt) und das »Alexanderfest« – eine schnell zur Popularität gelangende Verherrlichung der Tonkunst (1736) – waren die Ergebnisse dessen. Ihnen schlossen sich als ernste Genossen die »Cäcilien-Ode« (1739), sowie das schöne Begräbnißanthem für die 1737 verstorbene Königin Caroline an, welches letzere mit verändertem Text in Deutschland als Passions-Oratorium »Empfindungen[172] am Grabe Jesu« bekannt geworden ist. Händel selber wies der herrlichen Begräbniß-Hymne bei Composition seines »Israel in Aegypten« als Klage um Joseph's Tod die Stelle eines ersten Theiles an und brachte sie als solchen zur Aufführung, ohne sie dann aber in die Partitur aufzunehmen, sodaß wir sie jetzt nicht mit derselben hören.
Der eben genannte »Israel« zeigt gleich dem ihm vorausgehenden »Saul«, mit dem Händel's große oratorische Periode begann (1738), den Meister des Oratoriums im siegreichen Fortschreiten auf der betretenen Bahn. Was Händel's unvergleichliche Größe bedingt: die Kunst und Kraft, mit der er vermöge der Einführung großer Chormassen, wie kein Anderer, ganze große Volks- und Menschheitsperioden und -Stimmungen, Charakterbilder des geschichtlichen und insbesondere des biblischen Lebens in Töne faßt, das tritt uns nun hier mit überzeugender Gewalt vor die Seele. Die Urmacht dieser Chöre, die das charakteristisch Individuelle uns gleichsam im großen Weltrahmen vorführen, wo hatten sie bis dahin ihres Gleichen gehabt? Es waren Wunder an Neuheit und Wahrheit, diese Klänge und Massenwirkungen, die hier zum ersten Male laut wurden. Denn auch Bach redete in anderen, übersinnlicheren Tönen; seiner subjectiven mystischen Weise lag der objectiv plastische, realistischere Ausdruck des Künstlers fern, der wie Ludwig Nohl jüngst bezeichnend sagte, »mit beiden Füßen fest auf dieser Erde steht.« Nichts von Bach's überschwenglicher Tiefe haftet auch der Sprache seines religiösen Gefühls an. Sie bleibt voll schlichter Zuversicht und Kraft; es ist ein Held auch im Glauben, dessen Rede wir vernehmen. Und wie natürlich entströmt sie seinen Lippen! Wir spüren auch hier, daß »weß' das Herz voll ist, deß' der Mund übergeht.« Fromm und gottesfürchtig war er, wie selten Einer, und das S.D.G., das ist Soli Deo[173] Gloria, vergaß er keinem seiner Werke als Segensspruch beizufügen. Seine Bibel kannte er so gut, daß er sich daraus seine Oratorientexte mit dichterischem Sinn selbst zusammenzustellen vermochte. Als der Bischof von London ihm einst beim Herstellen eines Schrifttextes – nach Angabe der Einen soll es sich um den »Messias«, nach Anderen um die Anthems gehandelt haben – seine Hülfe anbieten ließ, rief er aus: »Wie, glaubt er was Besseres zu liefern als Propheten und Apostel? oder meint er, ich kenne die Bibel nicht auch so gut wie er?« Es dünkte ihm ja seinem eigenen Bekenntniß zufolge »eine Wohlthat«, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, »Worte der heiligen Schrift in Musik setzen zu können; da er so innerst erbaut werde durch Versenkung in die erhabenen Spruchreden, von denen die heiligen Schriften voll sind.« Biblischen Geist athmen in der That seine testamentarischen Oratorien durch und durch, auch wenn sie, zum Unterschied von denen seiner Vorgänger, nicht wie die Passions-Oratorien in directer Beziehung zur Kirche, sondern vielmehr außerhalb deren Cultusformen stehen. Er gab uns in ihnen religiöse, aber keine Kirchenmusik. Man höre nur die gewaltigen Doppelchöre im »Israel«, wie sie Jammer und Jubel des Gottesvolkes, die Plagen, unter denen es seufzt und seine wunderbare Errettung malen! Hier, wo nicht eine einzelne Persönlichkeit, sondern das Volk Israel der ausschließliche Träger des Ganzen ist, setzt sich das Ganze wesentlich nur aus Chören zusammen. Die sparsam eingestreuten Soli treten ihnen gegenüber wie an Zahl so an Bedeutung ganz in den Hintergrund. In anderen, mehr dramatisch gehaltenen oratorischen Werken, wie »Samson«, »Judas Maccabäus«, »Josua«, dagegen, wo der Kampf der Israeliten in einzelnen Heldengestalten personificirt erscheint, welche redend und handelnd eingeführt werden,[174] kommen auch die Soloformen zu ihrem Recht. Händel giebt keins der Mittel der italienischen Oper, von der er her kam, auf. Recitativ, Arie, Coloratur finden auch in seinen Oratorien ihren Platz. Aber selbst die letztere, die – mag sie uns gemeinhin heute auch ein überflüssiges und überlebtes Formenwerk dünken – während der damaligen höchsten Blüte der Gesangskunst förmlich in der Luft lag, gewinnt eine geistigere Physiognomie und dient häufig zur Steigerung der Gefühlsaccente. Welcher Wirkung und Ausdruckstiefe Händel auch in Recitativ und Arie fähig ist, das ersehe man beispielsweise aus den mit den Chören eng verknüpften Gesängen in »Judas Maccabäus« oder »Samson« und anderen Oratorien; wie denn auch Gluck nach Seiten der Charakteristik im Einzelnen Vieles von Händel erlernen und für seine Reform der Oper nützen konnte. Nichtsdestoweniger liegt der Schwerpunkt und die ewige Wirkungskraft der Händel'schen Oratorien vorwiegend in den monumentalen Chorbildern, die uns anschaulicher, als es je eine scenische Darstellung vermöchte, die Geschichte der Völker und der Menschheit künden. Die Freiheit und Sicherheit der Auffassung, den weitschauenden, welthistorischen Blick hatten ihm sein Genie, seine Weltbildung eröffnet. Zur souveränen Herrschaft über die gesammte Technik war er durch die lange Opernpraxis und die beständige allgemeine musikalische Uebung gelangt. Mochte seine contrapunktische Meisterschaft, so gewaltig und alle seine Zeitgenossen im Uebrigen überragend sie an sich war, immerhin, wie Ph. Em. Bach es ausspricht7, hinter der seines Vaters namentlich im Instrumentalen erheblich zurückstehen, wie dieser auch an Tiefsinn und[175] Eigenartigkeit der Harmonie und Modulation Händel überbot: auf rhythmisch-melodischem Gebiete vertritt Letzterer hinwiederum Bach gegenüber den Fortschritt. Seinem Rhythmus – man vergegenwärtige sich nur seine oft mit grandioser Gewalt dreinfahrenden Bässe! – ist die ganze Willensstärke und Kraft, das ganze Daseinsgefühl seines Wesens aufgeprägt; seine Melodik ist klar und flüssig, moderneren Zuges und ungleich eingänglicher als die des großen Orgelmeisters.
Ein Blick auf die Claviercompositionen Beider schon macht dies ersichtlich; denn Händel veröffentlichte von 1720 an auch vier Sammlungen »Suites de pièces pour le clavecin«, sowie Sonaten für Violine, Flöte oder Oboe mit Baß und Concerte für Streichinstrumente und für Orgel. Man braucht nur neben die Suiten Bach's diejenigen Händel's, wie beispielsweise die in E-dur mit den Variationen über »The harmonious blacksmith«, zu halten, um dessen inne zu werden. Eine gewisse »gesellige Gefälligkeit« ist hier heraus gekehrt, die bei aller ihr eigenen Würde wunderbar mit dem gewichtigen Ernste Bach's contrastirt. Wir sehen hier den Weltmann vor uns, dessen vornehm leichte Art nicht nur bei denen, für die die Compositionen zunächst bestimmt waren (die Clavierstücke sollen meist für Prinzessin Anna und ihre Schwestern, die Violinsonaten für den Prinzen von Wales geschrieben sein), sondern allseitigen Anklang fand. In den Fugen macht sich eine Neigung zur Ungebundenheit geltend. Ohne Bedenken geht er da ab und zu aus der polyphonen in die homophone Schreibart über, oder läßt je nach Belieben bald zwei, bald drei, bald vier Stimmen reden; auch wenn er, wie Mattheson8 sagt, »alle Auswege der Harmonie dergestalt kennet und[176] besitzet, daß er nur damit zu schertzen oder zu spielen scheinet, wenns andern arbeitsam vorkömmt.« Wie im Allgemeinen seine Instrumentalcompositionen im Gegensatz zu seinen anderen Werken, machen sie den Eindruck bequemen Sich gehen lassens, flüchtigeren Entstehens. Es ist als seien sie aus dem Stegreif geschaffen, das Resultat eines augenblicklichen freien Ergusses. Was Wunder bei der außerordentlichen Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der ihm das Schaffen von der Hand ging? Eine wirkliche Weiterbildung wie durch Bach haben die sich zu seiner Zeit entwickelnden Instrumental-Formen allerdings nicht durch ihn erfahren. Er begnügte sich damit, sie so, wie er sie vorfand, mit der ihm eigenen Meisterschaft zu beherrschen und mit einem seinem Geiste entsprechenden Gedankeninhalt zu füllen. So übertrug er in seinen Concerti grossi (den sogenannten Oboenconcerten) einfach die Form der Corelli'schen Sonate in größere Verhältnisse, indeß er in seinen Orgelconcerten die wirkliche Concertsatzform zur Anwendung bringt. Er behandelt die Orgel darin mehr claviermäßig, wie denn die Concerte auch ebensowol für Clavier bestimmt sind. Den eigentlichen Orgelstil hat er wenig gefördert; denn nicht wie Bach war ihm die Königin der Instrumente Grundlage und Mittelpunkt seines Schaffens, ob er ihr auch eine musikalische Machtstellung in seinen Oratorien einräumte und als Virtuos außer Bach nicht sei nes Gleichen hatte. In seinen oratorischen Concerten in England pflegte er sich während der Zwischenpausen regelmäßig (seit 1735) mit einer freien Phantasie, einem Concert oder dergl. zur Bewunderung und Erbauung Aller hören zu lassen. Der größere Orgelkünstler von Beiden war gleichwol Bach, obschon Händel's, des größeren Improvisators, Spiel hinreißender und zündender wirkte. Auch hier gehörte der Preis der Popularität[177] ihm, der, wie er die Tonmassen mit fester Hand beherrschte, auch die bunte Masse der Hörer zur Andacht und zum Mitempfinden zwang.
»Israel in Aegypten« erfreute sich trotz alledem zu Anbeginn (es wurde am 4. April 1739 zuerst aufgeführt) keiner warmen, verständnißvollen Aufnahme. So erfolgreich sonst die oratorischen Aufführungen des Künstlers verliefen, dies Werk war, wie eine Freundin Händel's, Mrs. Delany, in ihrer Autobiographie schreibt, »zu feierlich für gewöhnliche Ohren.« Tiefernst, grübelnd in sich versenkt, wie man ihn sonst nie gesehen, sann er indessen neuen Ideen und Aufgaben nach. Als Ergebniß dessen trat am 27. Februar 1740 das Oratorium »L'allegro, il pensieroso ed il moderato« (Frohsinn und Schwermuth) an die Oeffentlichkeit. Von den gleichartigen Schöpfungen seines Urhebers unterscheidet es sich sehr wesentlich dadurch, daß sein Inhalt nicht auf großen historischen und religiösen Grundlagen ruht, sondern das bunte Treiben der Welt, in ungebundene, fast zusammenhangslose Stimmungsbilder gefaßt, unmittelbar wiederspiegelt. Gerade aber in dieser seiner Ausnahmsstellung wirst es ein interessantes Licht auf die Vielseitigkeit und Beweglichkeit des Händel'schen Geistes. Den wir als Meister des musikalischen Epos kennen, der tritt uns nun als Lyrikernahe. Der Gegensatz zwischen einem heiteren und einem schwermuthsvollen Gemüth, den Milton in zwei gleichlautenden Oden vorführt, bot dem Componisten zur Entfaltung einer reichen und mannigfaltigen Tonlyrik Anlaß, die sich oft auch – wie Händel dies gern thut – malerischer Züge bedient. Statt wie in Milton's Dichtung jedoch mit einer unaufgelösten Dissonanz zu enden, fügten Händel und sein Textbearbeiter und -Dichter, Jennens, als harmonischen Abschluß noch das »Moderato«, die Stimme der Mäßigung hinzu, welche[178] die widerstreitenden Gegensätze zu mildern und zu versöhnen sucht.
Warum dies schöne Werk, das sein Schöpfer mit der ihm eigenen fabelhaften Raschheit des Producirens binnen drei Wochen auf das Papier zauberte (auch der »Messias« entstand innerhalb 24 Tagen), von jeher eine unbillige Zurücksetzung hinter den anderen Erzeugnissen Händel's erfahren, das fragt sich vergeblich, wer die darin niedergelegten Perlen kennt. Eben darum auch ist Robert Franz' Verdienst um so höher zu preisen, daß er ihm durch seine geistvolle zeit- und sinngemäße Bearbeitung9 eine weitere Verbreitung anbahnte. Ebenso wie vor ihm Mozart »Acis und Galatea«, »Messias«, »Cäcilienode« und »Alexanderfest«, desgleichen Mendelssohn »Israel in Aegypten«, unterwarf er auch das »Jubilate« den bei den Händel'schen Partituren nothwendigen instrumentalen Ergänzungen. Mit fortgesetztem Eifer ist ferner Chrysander, der Biograph Händel's, seit Jahren an der von ihm angeregten Gesammtausgabe von dessen Werken thätig, die (nach Vorausgang der Engländer) von der deutschen Händel-Gesellschaft veranstaltet10, sich gegenwärtig allgemach ihrer Vollendung nähert. Hans von Bülow, Louis Köhler, Mortier de Fontaine und Andere bieten des Meisters Suiten, Fugen, Concerte etc. der clavierspielenden Welt in neuen Ausgaben dar, während die singende durch eine Sammlung von Gesängen11, welche Victorie Gervinus als musikalische Ergänzung der vielbesprochenen Händel-Apotheose ihres verstorbenen Gatten12 zusammenstellte, in seine Opern und Oratorien[179] eingeführt wird. So vereinigen sich die vielfältigsten Bemühungen, um unser gegenwärtiges Geschlecht in lebendiger Fühlung mit dem mächtigen Tongenius zu erhalten, der, wo immer die Musik in deutschen oder fremden Landen ihre Feste feiert, herbeigerufen wird als der edelsten Festgäste einer.
Und ein Deutscher blieb er auch inmitten des fremden Volkes, das ihm eine Heimat gab. Ja, nach einer fast 30jährigen Wirksamkeit unter demselben erwog er, durch die beständig sich wiederholenden Anfeindungen und die Ungunst der englischen Zeitverhältnisse (1741) müde gemacht, allen Ernstes den Gedanken der Rückkehr in sein altes Vaterland. Auf Berlin, wo Friedrich der Große der Musik einen neuen Schutzort begründet hatte, richtete sich sein Blick. Aber eine andere Kunst als die seine sollte auf deutschem Boden ihre Blüten treiben. Sein Stern hielt ihn in England zurück. Ohne Letzteres, das ist gewiß, wäre weder der Händel, der im Kreise unserer gefürsteten Tonhäupter in vorderster Reihe steht, noch die Krone seines Schaffens: das Oratorium, denkbar. Dem Volke, das sich durch eine freie Verfassung und sein Parlament zuerst in Europa auf sich selbst gestellt und in sich selbst gegliedert, sich überdies durch politisch-religiöse Kämpfe neuerlich energisch hindurch gekämpft hatte, dankte er für den eigenen Kunstzweig wesentliche Anregungen und Anschauungen. Doch in so inniger Beziehung seine Oratorien, in denen sich der beste Lebensinhalt seiner Zeit verkörperte, zu England stehen und von welch unermeßlichem Einfluß sie auch für die Kräftigung des britischen Volksthums wurden, ihre Bedeutung liegt nicht nur in nationalen Grenzen beschlossen. Händel's Sendung war eine größere, und aller blos nationalen Musik gegenüber verhielt er sich ablehnend. Das Erwachen des siegreichen germanischen Geistes zeigten seine Thaten an. In England[180] selbst aber bereiteten sie einer neuen Volksmuse den Boden. Die Nationalhymnen Rule Britannia und God save the king wurden durch Händel angeregt, und die sie sangen: Arne und Carey, waren seine begeisterten Verehrer.
Inzwischen kämpfte er weiter als tapferer Streiter. Aber auch die alte Opposition ruhte nicht. Ihr fiel selbst der »Messias« bei seiner ersten Aufführung (1741) zum Opfer; denn – so berichtet Burney »zum ewigen Vorwurf der Nation« – dieselbe ward weder zahlreich besucht noch sonderlich aufgenommen. Erst nach mehrfachen Wiederholungen eroberte das erhabene Werk sich die gebührende Schätzung des Publicums, das nun durch um so eifrigere Theilnahme das begangene Unrecht zu sühnen trachtete. Zahllose wohlthätige Zwecke hat der »Messias« seitdem fördern helfen, und mit Recht durfte Burney von ihm rühmen, daß er »die Hungrigen gespeist, die Nackenden bekleidet, die Waisen verpflegt« habe. Gegenwärtig bildet er nicht nur, wie Nohl bemerkt, »ein Stück ethischer wie künstlerischer Bildung der englischen Nation«, sondern Aller, deren Herz den hehrsten Wirkungen der Tonkunst offen steht. Nicht vom Standpunkte des Protestanten aus, der im Gegensatz zu dem des Katholiken steht, ist er geschaffen. Ein confessioneller Unterschied ist darin nirgend betont – es ist das Urchristenthum, das hier zur Erscheinung kommt. Eben hierin unterscheidet sich der »Messias« wesentlich von Bach's Matthäuspassion und hoher Messe. Bach erfaßt die gleiche Aufgabe: die kirchliche Gestaltung des Inhalts des Christenthums, unter dem dogmatischen und zwar specifisch protestantischen Gesichtspunkt, während Händel die seine unter den geschichtlichen stellt. Dem entsprechend leistete der Eine an Tiefe des Empfindungsgehaltes, der Andere an faßlicher Plastik der Darstellung das Höhere.[181] Die leichtere Eingänglichkeit hat Händel auch hier wieder vor Bach voraus. Die ihm eigene Klarheit, die ihn auch im höchsten Pathos, beim Gestalten der riesigsten Verhältnisse, bei aller Tiefe und Kunst nicht verläßt, die Freiheit bei aller Großartigkeit des Ausdruckes, welche mit einem Griff das Ganze erfaßt und dessen Kern darlegt – sie sichern seinen Werken eine durchgreifende Wirkung auf die Massen, wie sie der tiefsinnigere Bach selten erzielte. Seine Formen sind durchsichtiger, knapper, seine Mittel einfach. »Geht hin und lernt mit wenig Mitteln so große Wirkungen hervorbringen!« sagt Beethoven von ihm. Es ist, als sei diese Musik durch Naturnothwendigkeit entstanden.
Seiner Form nach zerfällt der »Messias« in drei Theile. Der erste behandelt die Verheißung der Ankunft des Herrn, seine Geburt und sein Wirken auf Erden. Der zweite schildert sein Leiden, seine Auferstehung und die Ausbreitung seiner Lehre. Der dritte endlich redet von den letzten Dingen. Die wunderherrlichen Arien und Chöre, die innerhalb dieses weiten Rahmens Platz finden – denn die epische Breite versteht sich bei Händel von selbst – haben uns dies Werk des Meisters vor anderen lieb gemacht. Es ist wol auch das verbreitetste von allen. Am berühmtesten unter seinen einzelnen Sätzen ist das den zweiten Theil abschließende »Halleluja« geworden. Händel selber bekannte später vertrauten Freunden, er habe sich während der Composition desselben in einem Zustande befunden, den er in diesem Grade niemals, weder vor- noch nachher erfahren, von dem er jedoch keine Rechenschaft zu geben vermöge. Er hatte wol recht, sein »Halleluja« für ein Erzeugniß ganz besonderer prophetischer Begeisterung zu halten. Hallt es nicht frommen Klanges durch die Jahrhunderte?[182]
Auf eine Einladung des Vicekönigs von Irland schlug Händel im November 1741 auf der grünen Insel für neun Monate seine Wohnung auf, um eine Reihe seiner Oratorien, unter ihnen auch den »Messias«, in Dublin mit großem Beifall zu Gehör zu bringen und unter verbesserten Verhältnissen im August 1742 wieder nach London heimzukehren. Der »Samson«, den er darauf zur Aufführung brachte (18. Februar 1743) wurde begeistert aufgenommen und behauptete alsbald im Herzen des englischen Volkes die nächste Stelle neben dem »Messias«. Dann folgten Jahr auf Jahr neue Gaben: das große Dettinger Te Deum (November 1743) und die Oratorien: »Semele« (1743), »Herakles«, »Belsazar« (1744), das »Gelegenheits-Oratorium« zur Feier des Sieges bei Culloden, »Joseph«, »Judas Maccabäus« (1746), »Josua«, »Alexander Balus« (1747), »Salomo«, »Susanna« (1748) und »Theodora« (1749). Ein musikalisches Zwischenspiel »Die Wahl des Herkules« (1750), sowie endlich die oratorischen Werke »Jephtha« (1751) und »Der Sieg der Zeit und Wahrheit« (1757) beschlossen die lange Reihe seiner Thaten, deren materielle Fülle uns nicht minder als ihr ideeller Werth mit Staunen füllt.
Allmälig verstummten auch seine Gegner. Im Kampfe mit Reichthum und weltlicher Macht, mit aller Ungunst des Geschickes und der Zeitlage hatte sein Genius gesiegt. Während er früher oft vor einem leeren Hause, wenn auch unter beständiger Antheilnahme seines Königs, seine Oratorien aufgeführt hatte, drängte man sich jetzt zu seinen Concerten, und jedes einzelne derselben mehrte seinen Ruhm und sein Vermögen. Fleißig und arbeitsam von Natur, ganz der Ausübung seiner Kunst hingegeben, zog er sich mit dem zunehmenden[183] Alter, Vergnügungen und selbst freundschaftlichem Umgang entsagend, mehr und mehr in sich selbst zurück. Seine Besuche in den Häusern der Großen wurden selten, nur die königliche Familie sah ihn noch bei sich. Im Uebrigen war er fast allein in der Kirche und bei der Aufführung seiner Oratorien noch sichtbar. Er setzte die letzteren unbehindert fort, selbst als ihn, indeß er am »Jephtha« beschäftigt war, gleich seinem großen Kunstverbündeten Bach das harte Los des Erblindens traf. »Tiefdunkle Nacht«, wie um seinen »Samson«, war es nun auch um ihn geworden. Hatte er die ergreifende Klage, die er nie ohne tiefe Bewegung zu hören vermochte, wol in Vorahnung seines eigenen Jammers gesungen? Seinem Schüler Smith überließ er jetzt die Direction; er selber aber setzte sich an die Orgel, um mit ungeschwächter Kraft, wie in den Tagen der Jugend, alle ihre Geister zu entfesseln. Zu einer Tondichtung aus der Zeit seines Lebensfrühlings: »Der Sieg der Zeit und der Wahrheit«, griff er nun am Lebensende wiederum zurück. Der blühenden Jugendkraft reichte die tiefste Kunst- und Lebenserfahrung noch einmal die Hand. Es war das letzte Werk, das er vollendete und am 11. März 1757 in die Oeffentlichkeit einführte.
Noch acht Tage vor seinem Tode, am 7. April 1759, wo man ihn zum letzten Male auf der Orgel hörte, hatte seine Phantasie nichts von ihrem Feuer, ihrer Frische verloren. Mit der Aufführung seines »Messias« nahm er Abschied von der Welt. Am 13. April vor Mitternacht, an einem Charfreitag, ging er nach vollbrachtem Tagewerk hin in Frieden. Zum Tode bereit, hatte es ihn verlangt, »seinen Gott und Erlöser am Tage seiner Auferstehung zu sehen.« Sein Wunsch ward erfüllt.[184]
Unter den Größen ihrer Nation, in der Westminster-Abtei, haben die Engländer die sterbliche Hülle Händel's beigesetzt und ihn, dem Einer ihres Volkes schon bei Lebzeiten ein Denkmal in Vauxhall-Gardens errichtet hatte, mit einem Monument gefeiert. Auch seine Vaterstadt Halle blieb ihrem großen Sohn die pietätvolle Erinnerung nicht schuldig. Sein ehernes Standbild giebt dort kommenden Zeiten und Geschlechtern von ihm Kunde. Denn mag immerhin England ihn als sein Nationaleigenthum betrachten, auch wir Deutsche wollen den deutschen Meister nicht unter uns missen. Sein Herz, der Grund seines Wesens war deutsch, ob auch sein Wirken hinausging über die nationalen Schranken. Mit Deutschland haben auch Italien, Frankreich, England an seiner künstlerischen Entwickelung Antheil, und von keinem Anderen wol gilt es in höherem Grade als von ihm, daß er eine universale Sprache redete, welche diejenigen Saiten des Menschengemüths anzuklingen verstand, die, von Nationalität und Zeit unabhängig, immer dieselben sind und bleiben. Nordische Kraft und Gelehrsamkeit mit südlicher Formenschöne, kirchliche und weltliche Elemente zu vereinen und mit einander auszugleichen war sein Beruf und Werk. Wie alles Menschenwerk, so hat auch das seine seiner Zeit den Tribut zahlen müssen: es ist Manches daran hinfällig geworden, was einst in hellem Jugendglanze prangte. Aber das Ewige überwiegt mindestens in seinen Oratorien weithin das Zeitliche – und an das Ewige wollen wir uns halten. Was Großes und Unvergängliches in ihm war, das lebt nicht allein in seinen Oratorien fort, auch in Gluck's und seiner Nachfolger Werk ist viel von seinem Geist und Wesen eingedrungen und weht uns daraus mit seinem Odem und Flügelschlag an. Durch Händel[185] hindurch ging die Entwickelung der Oper, und ihre Meister, die nach ihm kamen, standen auf seinen starken Schultern. Das haben Gluck und Mozart neidlos anerkannt, und selbst Beethoven nannte ihn, sich selbst vergessend, den Meister der Meister. So wirkt die Macht seiner Kunst mittelbar und unmittelbar von Jahrhundert zu Jahrhundert![186]
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