Schlußbetrachtung.

[80] Sagen wir noch ein letztes Wort über die Bedeutung Mozart's in der Geschichte des Geistes. Wir nannten die Musik die Kunst der Seele und fanden in ihr den ganzen Seelengehalt ausgesprochen, der seit einem Jahrtausend in die Welt gekommen und unsere Zeit von jeder vorhergehenden unterscheidet. Wir fanden diesen Gehalt sich äußern als Liebe, wie er sich seinem Wesen nach zunächst nicht anders äußern kann, als in dieser höchsten Art der Empfindung. Wir finden, daß auch bei Mozart, wie das ganze letzte Jahrtausend hindurch, die Frauen als die eigentlichen Träger dieses Seelengehaltes erscheinen: seine bedeutendsten Schöpfungen sind wie die seines Zwillingsbruders Goethe, Frauengestalten. Wir sehen in diesen beiden größten Künstlern der heutigen Welt die letzte und höchste Blüthe jenes Frauendienstes, der das ganze Mittelalter durchzieht. Aber mit dieser schönsten Blüthe ist der Baum, der sie trieb, abgestorben. Das Weib ist der bevorzugten Stellung, zu der sie das Christenthum aus der Unterordnung hervorgezogen hatte, entsetzt. Der Mann ist wieder an die Spitze der Welt getreten. Schiller und Beethoven ließen in ihren ersten Werken wieder die Stimme des Mannes ertönen. Dann kamen die großen Philosophen und sprachen fortan dem Geiste die Stelle zu, welche bis dahin seit der Zeit der Alten die Seele, das Gefühl gehabt hatte. Die Menschheit kam zum Selbstbewußtsein. Wissenschaft und Staatsleben[80] traten ein, wo kurz vorher Kunst und Privatleben geherrscht hatten. Die Kunst und am meisten die Musik muß darben, sie findet im Drängen und Werden der Gegenwart keinen Platz, wo die ruhige Empfindung blüht; die Zeit ihres Schaffens ist vorüber, wir zehren an dem, was sie geleistet hat. Aber der Mann, der rechte Mann der Gegenwart, der an dem großen Werke der Zukunft mit seiner ganzen Kraft arbeitet, der mitten in dem Ringen des Geistes nach Verwirklichung der neuen Weltanschauung im Gebiete des praktischen Lebens steht, er sucht die Kunst und vor Allem die Musik. Er kann der Tiefen der Empfindung nicht entbehren, die sie der modernen Menschheit enthüllt hat.

Die Mozart'sche Musik hat die Aufgabe zum ersten Male rein und vollkommen gelöst, die der Musik überhaupt gegeben war. Sie ist der erste vollkommen reine Ausdruck dessen, was wir an dem Menschen als Gefühl, als Empfindung bezeichnen, das wir oben ein durchaus eigenartiges, durch nichts zu ersetzendes Gebiet des menschlichen Geistes nannten. Sie ist das reine Spiegelbild des menschlichen Innern, soweit in ihm die ganze Welt der Erscheinungen ahnungsweise vorgebildet liegt, der reinste Abglanz des Eindruckes, den die Dinge, die Objecte aus die menschliche Empfindung machen. Und eben weil sie dieser Sphäre des menschlichen Geistes den vollen Ausdruck gegeben hat, weil in ihr das Seelenhafte des Menschen zur reinen Erscheinung gekommen ist, behält sie für ewige Zeiten die Aufgabe, der Menschheit als eine Leuchte zu dienen, sich aus allem Irren, durch welches der Weg zur Wahrheit führt, heraus wieder zum Ursprünglichen und Göttlichen zurechtzufinden; sie ist der Born, in dem sich das Gemüth reinigt und stärkt, die Quelle, aus der sich der Character, der[81] die Welt beherrschen soll, die Fülle und Tiefe des Seelenlebens schöpft, die zur vollen Entfaltung des menschlichen Wesens unentbehrlich ist. Und wenn vielleicht schon nach hundert Jahren nur der Forscher und wer sich für die Entwicklung des Geistes in der Geschichte der Kunst interessirt, nach Beethoven und seinen Werken fragt, wird Mozart wie schon jetzt Raphael in Aller Herzen leben. Denn wenn uns das, wofür Beethoven streiten hilft und was diesen Propheten jetzt zum Manne des Tages macht, dereinst errungen sein wird, wenn wir im Besitze des unendlichen Gehaltes sind, der die großartigen Ansätze bildet zu dem Neuen, welches dereinst vielleicht auch einer Kunst einen Inhalt geben wird, der so weit über dem der Mozart'schen Musik steht, als dieser über dem Gehalte der Raphaelischen Madonnen; wenn die Menschheit nach unendlichen Kämpfen sich dereinst diesen neuen Gehalt mühevoll erstritten haben wird, dann wird sie den vergessen, der ihr werden half, – ewig ist nur das, worin das Göttliche wirklich geworden ist, nicht das, worin es im Werden begriffen ist, wo es nur werden will, wie in Beethoven's Werken; aber Mozart wird selbst den spätesten Geschlechtern das leisten, was das Echte und Göttliche leistet, er wird das Herz der Menschen reinigen und ihr Inneres gesund machen durch die einfache Reinheit und Wahrheit seines Empfindens.

Quelle:
Ludwig Nohl: W.A. Mozart. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst, Heidelberg 1860, S. 80-82.
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