Es ist Zeit, dem Arbeitsfelde näher zu treten, für welches Bach in Cöthen ausschließlich berufen war. Der Orgel zunächst stand damals der Flügel: sein beseelungsunfähiger Ton, der nur durch mehre übereinanderconstruirte Claviere in gemeinsamen und festbemessenen [641] Stärkegraden abzuschattiren war, wies wie bei jener auf innere Verlebendigung durch Polyphonie und reiche Harmonik, auf stetig und wahrhaftig fortschreitende Melodiebildungen, und, da ihm auch die Klangdauer fehlte, überdies auf gesteigerte Beweglichkeit der Tonreihen. Von jeher hatte deshalb Bach beide Instrumente neben einander cultivirt und ihre Stilgebiete durch gegenseitigen Austausch zu bereichern gesucht. Denn wie er einerseits das von der Orgel gebieterisch erheischte gebundene Spiel mit allen seinen Consequenzen dem Cembalo zu eigen gab, so hat er andrerseits unverkennbar so vieles von der Agilität des Clavierstiles auf die Orgel übertragen, wie mit deren Wesen nur vereinbar ist. Daher entwickelte sich, obgleich die Orgel ihrer Bedeutung gemäß stets überwog, auf beiden Instrumenten seine Kunst ganz gleichmäßig, und in demselben Jahre, in welchem er die Periode seines Organistenthums schloß, war er auch dahin gelangt, den Vergleich mit einem der größten französischen Claviermeister siegreich aushalten zu können. Wenn bis jetzt auf die Claviercompositionen aus den späteren Jahren des weimarischen Aufenthalts keine Rücksicht genommen ist, so geschah es, um das Bild der Gesammtwirksamkeit, welche nach einer andern Richtung drängte, nicht zu verwirren. Wir holen in raschen Zügen das Versäumte nach und gewinnen dadurch zugleich eine Brücke, welche in das Land der cöthenischen Clavier- und sonstigen Kammermusik hinüberführt.
Bei Gelegenheit der Cantate »Nach dir, Herr, verlanget mich« war geäußert worden, das Fugenthema des ersten Chors habe in einer Clavier-Toccate aus Fis moll seine Fortbildung empfangen. Das Thema ist allerdings ein häufig wiederkehrender Lieblingsgedanke Bachs, trotzdem die Uebereinstimmung im Ganzen und Einzelnen, Innern und Aeußern derart, daß eine instrumentale Wiederaufnahme des Chors eben so fest stehen darf, wie die weitere Ausführung des Gedankengehalts der Ouverture zu »Tritt auf die Glaubensbahn« in der schönen A dur-Orgelfuge. Daß nicht der Chor das Spätere und die Toccate das Frühere sei, beweist die viel größere musikalische Vollendung der letzteren und in zweiter Linie ihre Ueberlegenheit über die drei früher besprochenen Claviertoccaten in D moll, G moll und E moll, von denen sie sich auch in der Form durchgreifend unterscheidet. Sie steht aber eben so wie jene in ihrer [642] Eigenart nicht allein; nach seinem alten Grundsatze hat Bach auch dieses Mal wenigstens zwei Exemplare geliefert und uns somit das Recht zur Aufstellung einer neuen Toccaten-Gattung gegeben1. Die wesentliche Vervollkommnung derselben besteht nun in der Einführung eines organisch durchgebildeten langsamen Satzes und darin, daß die früheren zwei Fugen auf eine reducirt werden, sei es im vollen Wortverstande, oder doch wenigstens in Hinsicht auf den thematischen Stoff. Die ganghaften Partien am Anfang sind geblieben und haben sich auch in der Mitte noch einen gewissen Raum zu verschaffen gewußt. Der langsame Satz folgt gleich auf das einleitende Laufwerk, aus den Themen
und
mit großer Kunst und tiefer Empfindung herausgesponnen, und bereitet mittelst Halbschlusses auf die Fuge vor, welche dort nach 61, hier nach 47 Takten schließt. Der Fortgang ist in beiden Werken nur scheinbar verschieden. In der Fis moll-Toccate dient ein motivischer Takt zur Ausführung eines freien Zwischenstückes, dem trotz mehrfacher Umbildungen des Motivs doch, gleich dem zweiten Theil des Clavierpraeludiums in A moll, etwas weitschweifiges und ermüdendes nicht abzusprechen ist. In der C moll-Toccate begnügt sich der Componist mit einigen Takten voll brillanter Passagen, dann hebt die Fuge wieder an, wird aber durch Zufügung eines zweiten Gedankens zur Doppelfuge, während Bach in der Fis moll-Toccate nun auf das Thema des langsamen Satzes zurückgreift und daraus eine ganz neue, auch in der Taktart verschiedene Fuge bildet. Warum das hier geschah, läßt sich aber sehr wohl aus dem Vorbilde der Cantate erklären, denn auch dort tritt das Thema zuvörderst breit und sehnsuchtsvoll auf und nach einem buntbewegten Zwischensatze erst aufgeregt und in künstlicherer Verflechtung. Beide Toccaten überragen die zu der älteren Gruppe gehörigen nicht nur an formeller Concentrirtheit, sondern auch an Bedeutsamkeit des Gedankengehalts, einzig die E moll-Toccate vermag [643] in ihrer träumerisch sehnsüchtigen Eigenart neben ihnen zu bestehen. Das flache Zwischenstück der Fis moll-Toccate drückt diese im Werth etwas unter die aus C moll, obwohl man es bei dem vorherrschend phantastischen Charakter derselben ohne sonderliche Störung erträgt. Denn wenn nach den wie zur eignen Sammlung hingeworfenen Einleitungs-Gängen das Adagio seine tiefe Klage ausgetönt hat, ist es als ob unzählige Geister entfesselt würden: wispernd und kichernd quirlt es auf und nieder, neckt sich, hascht sich, gleitet still und ebenmäßig auf spiegelklarer Fluth, verstrickt sich zu seltsamen Nebelgestalten – dann ist mit einem Male der Spuk verschwunden, gleichmüthig wie alltäglich ziehen die Stunden des Daseins vorüber, aber das alte Treiben wird von neuem lebendig, nun freilich von der Erinnerung an einen tiefen Schmerz unaufhörlich durchklungen. Ganz anders die zweite Toccate. Nach dem stürmischen Anfange versinkt das Adagio in ernstes Nachsinnen, aus dem die Fuge hervorgeht mit jener so originellen Wiederholung der ersten Thema-Periode, die auch in allen Durchführungen kräftig hervortritt und den Gesammtcharakter bestimmt; ein trotziger schöner Jüngling, der im vollen Strom des Lebens schwimmt und sich nicht sättigen kann im Wonnegefühl eigner Kraft. Man halte dagegen die Schlußfuge der E moll-Toccate und staune über des Meisters gestaltenschöpferisches Vermögen!
Neben die beiden Toccaten tritt noch eine dreistimmige Fuge aus A moll, der eine kurze arpeggirende Einleitung vorausgeschickt ist2. Es ist die längste Clavierfuge, welche Bach vollendet hinterlassen hat: sie zählt 198 Dreivierteltakte, außerdem herrscht unaufhörliche Sechzehntelbewegung, so daß sie als ein anderes Perpetuum mobile dem bekannten Weberschen Sonatensatze an die Seite gesetzt werden kann. Man weiß nicht, was man an diesem Meisterwerke mehr bewundern soll, die immer fesselloser hervorbrechende Phantasiefülle, oder den sicheren Aufbau solcher Verhältnisse, oder die Spielfertigkeit und Ausdauer, welche es voraussetzt. Das sechstaktige Thema erscheint nur zehnmal, mehr als zwei Drittel der Composition sind aus seinem Stoff frei motivisch entwickelt, und je mehr [644] es dem Schlusse zugeht, desto weniger wird das Thema regelrecht gehört, während der letzten hundert Takte nur noch dreimal. Der kräftige Schwung, welcher die anfänglichen Partien trägt, steigert sich, natürlich ohne Tempobeschleunigung und nur durch innere Mittel, allmählig zu einem Sturmflug, der dem Hörer fast den Athem benimmt. Erfährt man nun, daß Bach die Tempi seiner Compositionen sehr lebhaft zu nehmen pflegte3, was für das Clavier dessen Charakter gemäß ganz besonders Geltung gehabt haben muß, so ist hier zugleich eine Höhe der Fingertechnik angezeigt, für welche die schwierigsten Aufgaben andrer Tonsetzer ein Kinderspiel sein mußten. Daß er sie erreichte, verdankte aber Bach nicht nur seinem eisernen Fleiße, sondern auch der Productionskraft des Genius, der ihn die Mittel finden lehrte, durch welche für die in ihm wogende Ideenwelt eine adäquate Erscheinungsform möglich gemacht wurde.
Im Anfange des 17. Jahrhunderts verhielt man sich gegen die Applicatur der Tasteninstrumente noch ziemlich gleichgültig. Ein in jeder Hinsicht hervorragender Musiker, der braunschweigische Capellmeister Michael Praetorius, verhöhnte gar diejenigen, welche es ernster damit nahmen, und meinte, wenn die Tongänge überhaupt nur präcis und anmuthig zu Gehör kämen, so sei es ganz gleichgültig, wie es geschehe, und sollte selbst die Nase zu Hülfe genommen werden müssen4. Später wurde man wohl allgemeiner auf die Vortheile, ja die Unerläßlichkeit eines geregelten Fingersatzes aufmerksam, aber erst mit Beginn des 18. Jahrhunderts griff ein gründliches und methodisches Verfahren Platz. Bisher war der Daumen vom Gebrauch so gut wie ausgeschlossen und die Anwendung des fünften Fingers wenigstens eine zurückhaltende gewesen. Der Grund lag in der augenfälligen Verschiedenheit beider von den drei mittleren Fingern, welche sie zu gleicher Thätigkeit ungeeignet erscheinen ließ. Da aber doch Bedacht genommen werden mußte, die Töne, namentlich der Orgel, an einander zu binden, so schob man die Mittelfinger über und unter einander; der Daumen hing einfach herunter. Es ist wohl unzweifelhaft, daß die Schule Sweelincks und was mit ihr zusammenhängt, also mehr oder weniger die gesammte [645] nordländische Organistengruppe, da sie für Erhöhung der Spielgeläufigkeit so viel that, auch in der Regelung des Fingersatzes sich große Verdienste erwarb5. Gleichwohl gebrauchte selbst sie den Daumen nicht anders als im Nothfalle. Denn wenn Sebastian Bach seinem Sohne Philipp Emanuel erzählte, als Jüngling große Männer gehört zu haben, die sich nur bei weiten Spannungen zur Herbeiziehung dieses verpönten Fingers entschlossen hätten6, so kann darunter kaum jemand anders verstanden werden, als die Nordländer und der ihnen nahe stehende Böhm. Ihm selbst war jedoch das Unnatürliche einer solchen Beschränkung bald einleuchtend. Er fing an, den Daumen zu gleichen Diensten wie die andern Finger anzuhalten, und mußte nun rasch bemerken, daß dadurch eine vollständige Umwandlung der Spielart herbeigeführt werde. Während das unbetheiligte Herunterhängen des Daumens eine gestreckte Fingerhaltung zur Folge gehabt hatte, bedingte das Eintreten dieses so viel kürzern Fingers naturgemäß ein Einziehen der übrigen. Durch das Einziehen wurde zugleich alle Steifheit beseitigt, schlaff und elastisch waren die Finger zu allen Dehnungen und Verschränkungen in jedem Augenblicke bereit und trafen schnell und bestimmt die Tasten, über denen sie in möglichster Nähe schwebten. Nun wurden sie durch eifriges Ueben in beiden Händen zur größten Gleichmäßigkeit in Kraft und Beweglichkeit und zur völligen Unabhängigkeit von einander gebracht7. Scharfsinn und Compositionstalent vereinigten sich, um hierzu die sichersten und schnellsten Wege zu finden. Jeder Finger mußte ihm zu jeder Verrichtung gleich brauchbar werden, Triller und andre Manieren lernte er mit dem fünften und vierten Finger eben so rund und egal herausbringen, wie mit andern, auch [646] ward es ihm leicht, unterdessen mit derselben Hand eine Melodie fortzuführen. Wegen seiner natürlichen Bewegung nach der Handhöhlung zu wurde der Daumen ein vorzügliches Werkzeug zum Untersetzen und Ueberschlagen. Die wichtigste aller Tonreihen, die Tonleiter, erhielt durch Bach eine neue Applicatur, indem er die Grundregel aufstellte, daß der Daumen der rechten Hand im Aufsteigen nach den beiden Halbtönen der Tonleiter, im Absteigen vor denselben eingesetzt werden müsse und umgekehrt bei der linken Hand8. Um die Taste zu verlassen, wurde die Fingerspitze weniger gehoben als nach einwärts gezogen, dies war zur Gleichmäßigkeit der Spielart nöthig, weil das Ueberschieben eines Mittelfingers über einen der nebenstehenden sich nur durch Einziehen desselben ermöglichte, und förderte außerdem ein gesangreiches und bei schnellen Passagen ein deutliches Spiel auf dem Clavichord. Hieraus folgte nun, daß Bach mit einer kaum merkbaren Bewegung der Hände spielte, die Finger schienen die Tasten kaum zu berühren und doch kam alles mit vollendeter Klarheit und perlenrund zur Erscheinung9. Auch sonst blieb seine Körperhaltung eine durchaus ruhige, selbst bei den schwierigsten Pedalstellen am Cembalo oder an der Orgel; die Fußtechnik war eben so leicht und ungezwungen, wie die der Finger10. Aeußere Hindernisse wußte er mit der ihm eignen Erfindsamkeit zu beseitigen: bei über einander gebauten Clavieren liebte er kurze Tasten, um leichter von einem zum andern zu kommen, und die Obertasten hatte er gern oben etwas schmäler als unten, weil er dann unmerklicher ohne Fingerwechsel herabgleiten konnte11.
Auf den ausgedehnteren Gebrauch des Daumens war unter den Musikern seiner Zeit Bach nicht allein verfallen, die gesammte sich üppig entfaltende Orgel-und Clavierkunst drängte zur Herbeiziehung reichlicherer Darstellungswerkzeuge. In Frankreich brach François Couperin (1668–1733), Organist zu St. Gervais in Paris, durch [647] seine »Kunst das Clavier zu spielen«12 einer verständigeren Fingersetzung die Bahn. Johann Gottfried Walther, Bachs Altersgenosse und zeitweiliger College in Weimar, hat einige mit Applicatur versehene Orgelchoräle hinterlassen, in welchen der Daumen verschiedenartige Anwendung findet13. Der oben erwähnte Heinichen fordert zur Ausführung seiner Vorschriften über das Generalbassspiel durchgängig die Application aller fünf Finger14. Auch Händel zog den Daumen in stetige Mitthätigkeit, es folgt dies nothwendig aus seiner von Augenzeugen beschriebenen gebogenen Fingerhaltung15, durch welche er ganz von selbst mit auf die Tasten kommt. Aber methodisch ausgenutzt ist das neue Mittel weder von Couperin noch Walther. Bei der Tonleiter schreibt Couperin wohl auf die erste Note den Einsatz des Daumens vor, nicht aber im Fortgange auch den Daumenuntersatz, er gebraucht den Daumen sehr gern zum Umwechseln auf einem und demselben Tone, ferner bei Spannungen, wo er ihn ungenirt auch auf die Obertasten treten läßt, übrigens aber fast nur so, daß er unter den zweiten Finger gesetzt oder von diesem überschlagen wird. Einzige zwei Fälle kommen unter der reichen Auswahl von Beispielen und Probestücken seiner »Kunst das Clavier zu spielen« vor, in denen anders verfahren wird. Von ihnen betrifft der eine die linke Hand, deren Daumen merkwürdiger Weise schon früh eine häufigere Anwendung erfahren zu haben scheint16; hier wird denn auch mehrfach das Uebersetzen des Mittelfingers vorgeschrieben. Der andre aber ist mit dieser Fingervorschrift:
das entscheidendste Zeugniß [648] für die unfertige Technik des Daumens; durch das Einsetzen desselben nach der Bachschen Regel, d.h. hier auf , läuft die Passage wie von selbst. Walther verschränkt in den drei Orgelchorälen nur zweimal den dritten Finger mit dem Daumen und zwar in der linken Hand, sonst immer nur den zweiten. Von Händels Applicatur wissen wir nichts näheres, einen gewissen Ersatz kann jedoch Mattheson bieten, der es ja, wie oben erzählt wurde, als Clavierspieler mit jenem aufnehmen zu können vermeinte; derselbe kennt im wichtigsten Falle, bei der Tonleiter, das Untersetzen des Daumens nicht, sondern schiebt nach alter Manier beim Aufsteigen der rechten Hand den dritten über den vierten, beim Absteigen den dritten über den zweiten18.
Philipp Emanuel Bach, selbst einer der bedeutendsten, wenn nicht der bedeutendste unter den Clavieristen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, hat in einem vortrefflichen und grundlegenden Werke seine Ansichten über die Methode des Clavierunterrichts niedergelegt. Bei der Lehre von der Fingersetzung spricht er (§. 7) über ihre Erweiterung und Vervollkommnung durch seinen Vater, so daß man alles mögliche nunmehr leicht herausbringen könne, und erklärt dann, die Lehre desselben seinen nachfolgen den Entwicklungen zu Grunde legen zu wollen. Es ist allgemein angenommen worden, daß Emanuel Bachs Methode eben diejenige des Vaters sei und wohl nicht nur in der Fingersetzung, sondern auch den übrigen Abschnitten des Lehrstoffes, obgleich kein Ausspruch des Buches dazu genügend berechtigt. Nun haben sich aber zwei kleine von Sebastian Bach eigenhändig und durchgängig mit Applicatur versehene Stücke finden lassen19. Ihre Vergleichung mit Emanuels Regeln ergiebt, daß sie wesentlich von ihnen abweichen. Diese verbieten (§. 28) das Ueberschlagen des dritten Fingers über den zweiten, Sebastian schreibt es im fünften Takte des ersten und vom 22. auf den 23. Takt des zweiten jener beiden Stücke vor und stimmt hierin, wie das oben angeführte Beispiel zeigt, mit Couperin überein. Emanuel will nicht den vierten über den kleinen Finger gesetzt wissen, Sebastian fordert[649] es für die linke Hand von Takt 38 auf 39 des zweiten Stücks. Emanuel beschränkt das Geschäft des Untersetzens auf den Daumen, Sebastian läßt es vom fünften unter den vierten geschehen von Takt 34 auf 35 desselben Stückes. Für das Uebersetzen des kleinen Fingers über den Daumen, was Emanuel ebenfalls untersagt, findet sich in den Stückchen Sebastians zufällig kein Beispiel, dagegen aber wohl in einem der Waltherschen Choräle. Noch mehr aber: obgleich die Regel Sebastians vom Daumeneinsatze nach den Halbtönen der Tonleiter auf das nachdrücklichste bezeugt ist20, hat er sie doch am Anfang des ersten Stückes selbst nicht befolgt, sondern die alte Manier vorgeschrieben und im dritten Takte schreitet die linke Hand allerdings mittelst Ueberschlagens über den Daumen fort, benutzt aber gleichfalls nach älterer Weise nur den zweiten Finger dazu. Wenn nun seine Fingersetzung sich Vorgängern und Zeitgenossen gegenüber durch den methodischen Gebrauch des Daumens auszeichnet, von der Praxis des Sohnes aber wiederum durch Eigenthümlichkeiten verschieden ist, die ihr mit der älteren Spielweise theils nachweislich gemeinsam sind, theils aus ihr mit leichter Mühe gefolgert werden können, so ist die Beschaffenheit der Seb. Bachschen Applicatur wohl ziemlich klar. Dieselbe nahm sämmtliche durch den Daumengebrauch ermöglichten Combinationen in Anspruch, ohne aber auf eine nach dem früheren Fingersatze allseitig ausgebildete Technik irgendwo zu verzichten; nur so viel ist, da sich Bach überall durch die von der Natur gewiesenen Wege leiten ließ, zu muthmaßen, daß er das Ueberschieben eines kleineren Fingers über einen größeren, wie des zweiten oder des vierten über den dritten thunlichst vermied. Daraus ergab sich ihm eine so unbegränzte Fülle der Möglichkeiten, daß es nun vollständig begreiflich wird, weshalb für ihn keine Schwierigkeiten mehr existirten. Aber als hätte er in allen Dingen seiner Kunst auf einsamer Höhe stehen sollen, so ist er auch unter den Koryphäen des Clavierspiels der einzige geblieben, der sich in den Besitz so colossaler technischer [650] Mittel gesetzt hatte. Alle die vor ihm waren, alle die nach ihm kamen, wirtschafteten mit einem viel geringeren Apparate; auf einer Wasserscheide zweier Gebiete stehend herrschte er allein frei über das vorwärts wie rückwärts gelegene Land. Schon sein Sohn, der den eigentlichen Ausgangspunkt des modernen Clavierspiels bildet, hat den Fingersatz des Vaters ganz erheblich vereinfacht; von den Verschränkungen der mittleren Finger läßt er nur die des dritten über den vierten zu (§. 62) und hat vorzugsweise den Daumengebrauch weiter cultivirt. Er bedurfte für seine viel homophonere und leichtere Compositionsart keiner so reichen Mittel und alles überflüssige ist in der Kunst vom Uebel. Mit der Verbreitung des Pianoforte aber, welche von da ab begann, wurde der älteren Fingersetzung ganz das Thor verschlossen, indem die Hammermechanik den elastisch von oben herabfallenden Schlag verlangt und den schrägen Druck eines übergeschobenen Mittelfingers abweist. So konnte denn auch in neuester Zeit, die sich doch einer souveränen Herrschaft über die gesammte Claviertechnik rühmt, die Sebastian Bachsche Spielweise höchstens bis zu dem Grade wieder hergestellt werden, der sich bei Philipp Emanuel noch vorfindet und unerläßlich ist, wenn die Ausführung von Sebastians Compositionen überhaupt möglich werden soll. Als Ganzes wäre sie für uns verloren, auch wenn wir bis ins Einzelne darüber Bescheid wüßten. Die abnormen Schwierigkeiten der Compositionen aber haben zum großen Theile hierin ihren Grund, denn was die moderne Zeit nach der einen Seite hin gewann, mußte sie andrerseits durch die Natur des Instruments gezwungen aufgeben. Es kann deshalb nicht geleugnet werden, daß die moderne Technik trotz alledem diejenige Bachs nicht überragt, da er jedenfalls viele Schwierigkeiten leichter überwand. Was für das Clavier gilt, gilt noch mehr für die Orgel, deren Wesen ja Bach dem Claviere einprägte, wenn auch unbeschadet der Deutlichkeit seines natürlichen Charakters. Hier, wo constructive Hindernisse nicht vorhanden sind, wäre jedoch eine Erweiterung der Technik nach den dargelegten Grundzügen nicht unmöglich; bedeutete dies Instrument erst einmal wieder etwas mehr in unserm Kunstleben, so würde der Versuch auch wohl gemacht werden.
Eine Vervollkommnung des Fingergebrauchs war für Bach schon deshalb nothwendig, weil er nur auf gleichschwebend temperirten [651] Clavieren zu spielen pflegte und dann auch alle 24 Tonarten nach Belieben benutzen wollte. Die Herstellung einer gleichschwebenden Temperatur durch gleichmäßige Vertheilung des ditonischen Kommas d.h. der durch Summirung von 12 Quinten gegen die Octave sich ergebenden Differenz auf die zwölf innerhalb einer Octave liegenden Tonstufen war am Ausgange des 17. Jahrhunderts ersonnen worden und fand bald allgemeine Aufnahme. Theoretisch hatten sich zwei schon mehrfach genannte Musiker, Andreas Werkmeister (1645–1706) und Johann Georg Neidhardt (gest. 1740), um dieselbe verdient gemacht, praktischen Nutzen konnten jedoch diese Untersuchungen kaum haben, da es sich um so kleine Tonunterschiede handelt, daß darüber endlich doch nur das Gehör entscheiden kann. Die Wege zur Temperatur, welche die Praxis einschlug, waren zuerst freilich wunderlich genug. Man pflegte noch ums Jahr 1739 folgende drei Grundregeln aufzustellen: 1) Die Octaven, kleinen Sexten und kleinen Terzen müssen allenthalben rein sein. 2) Den großen Sexten und den Quarten giebt man etwas zu. 3) Den Quinten und großen Terzen nimmt man etwas ab21. Wie gut oder übel das geklungen haben mag, ist ungefähr daraus zu ermessen, daß nur die Bestimmungen über Octave, Quarte und Quinte in der Natur der Sache ihre Begründung haben; alle Intervalle, die, wie große und kleine Sexten und kleine Terzen, in complicirteren Verhältnissen zum Grundtone stehen, dulden bekanntlich stärkere Abweichungen von der reinen Stimmung, und wie man die großen Terzen hat unter sich schweben lassen können, ist ganz unbegreiflich, da schon die Summe von drei rein gestimmten der Octave nicht gleichkommt, was doch die gleichschwebende Temperatur verlangt. Es ist erfreulich nachweisen zu können, daß Bach auch hierin seine Zeit weit überholt und sich bereits in den Besitz derjenigen Stimm-Methode gesetzt hatte, die jetzt allgemein befolgt wird. Ausdrücklich wird berichtet, er habe alle großen Terzen scharf genommen d.h. sie etwas über sich schweben lassen, wie es nothwendig ist, um die sogenannte große Diesis auszugleichen22. Da er nun unmöglich nach lauter großen Terzen [652] gestimmt haben kann, so wird er es gemacht haben wie heutzutage, nämlich durch vier an einander hängende Quinten fortgeschritten sein, deren jede etwas abwärts schweben mußte und dann den äußersten Quintton als geschärfte Terz mit Grundton und erster Quinte zum Dreiklang verbunden haben. Von den mancherlei Kunstgriffen, welche die Anwendung dieses Verfahrens erleichtern, ist ihm jedenfalls auch der bekannt gewesen, die Schwebung der Quinte durch Mitanschlagen der Octave, der Unterquarte des Grundtons, zu prüfen und von da ab wieder in die Quinte aufzusteigen23. Daß er aber auf alles dies aus eignem Nachdenken und nicht durch Nachlesen in theoretischen Abhandlungen gekommen ist, wäre, feststehend, wenn es nicht auch Zeitgenossen bezeugten24. Und mit solcher Sicherheit und Schnelligkeit handhabte er seine Methode, daß nie mehr als eine Viertelstunde über dem Stimmen eines Flügels oder Clavichords verstrichen sein soll25. In welch großartiger Weise er das hiermit erst zugänglich gemachte gesammte Tongebiet des Claviers schöpferisch ausnutzte, werden wir bald sehen. Zu einem ausschweifenden Modulationswesen ließ er sich aber nicht verleiten, dies stand mit seinem Stile zu sehr in Widerspruch. Nur bei besonderen Veranlassungen bewies er einige Male, wie fein sein Ohr für den inneren Zusammenhang der Tonarten geschärft war und wie [653] wohl er auch enharmonische Ausweichungen zu benutzen wußte, wenn er wollte. Ein Beispiel ist das oben besprochene Praeludium zu der hamburgischen G moll-Fuge, ein anderes die sogenannte chromatische Fantasie, auf die später zurückzukommen sein wird. Ob ein Stück, »das kleine harmonische Labyrinth« genannt, das sich durch einen Introitus voll enharmonischer Irrgänge zum Centrum einer kleinen Fuge durcharbeitet und von dort auf ähnlichem Wege wieder zum Tageslicht von C dur seinen Exitus nimmt, Bach angehört, mag ich wegen seiner schwachen Beglaubigung nicht entscheiden. Den kettenartigen Zusammenhang der 24 Tonarten hatte Heinichen, der Begleiter des Fürsten Leopold in Italien, zuerst klargelegt und auch praktisch angewendet. Von derartigen Versuchen Bachs wissen wir nichts: dem freien Schwunge seines Geistes widerstrebte jedes mechanische Verfahren26.
Den Ton des Cembalo haben wir beseelungsunfähig genannt und insofern dem Orgelton ähnlich. Gleichwohl war es feinen Ohren nicht unbemerkt geblieben, daß er unter den Händen des einen sich wohlthuender bildete, als unter denen des andern. Es ist daher nicht ganz ungereimt, auch von einer subjectiven Vortragsart auf dem Flügel zu reden. Ihre Möglichkeit ruht einestheils in der undefinirbaren Besonderheit des Anschlages, dann in der noch unbeschreiblicheren Kunst, jene complementären Empfindungen hervorzulocken, die zum vollständigen Erfassen einer Kunstidee von jedem Genießenden hinzugebracht werden müssen, die aber die Claviermusik in ungewöhnlicher Stärke verlangt. Wir nehmen mit Grund an, daß Bach diese Kunst besessen habe – ein eigenthümlicher Reiz des Anschlags verstand sich bei seiner neuen Spielweise von selbst – und auch sein Spiel auf dem Cembalo, das er sich immer selbst bekielte, in gewisser Weise ein seelenvolles gewesen sei. Als den einzigen Weg, hierzu zu gelangen, bezeichnet sein Sohn Philipp Emanuel die fleißige Tractirung des Clavichords27, und grade dieses war Sebastians Lieblingsinstrument. [654] Besaß es auch nur geringe Stärke, so war der Ton doch außerordentlich schattirungsfähig und verhältnißmäßig andauernd. Man konnte singen darauf und das gesangreiche Spiel legte Bach aller Clavierkunst zu Grunde. Gegenüber dieser unbestreitbaren Thatsache fällt die hier und da verbreitete Meinung, daß Bach keinerlei Farbengebung beim Vortrage seiner Clavierstücke beabsichtigt habe und die Anwendung von Licht und Schatten eine eigenmächtige Modernisirung sei, als ungerechtfertigtes Vorurtheil zu Boden. Nirgends läßt sich überzeugender darthun, wie große Geister die Ziele geschichtlicher Entwicklungen im eignen Thun beschlossen tragen und prophetisch oft über Jahrhunderte hinwegblicken, als hier. Das Idealinstrument, das Bach für seine Inventionen und Sinfonien, Suiten und Clavierfugen vorschwebte, war nicht ganz das Clavichord: zu wuchtig lasteten die aus der erhabenen Alpenwelt des Orgelreiches herabgebrachten Gedanken auf dem zarten Baue desselben. Aber die Orgel war es auch nicht. Aus ihrem Gebiete emanirte eben das Bedürfniß nach reicherem Gefühlswechsel, das in der Kammermusik Befriedigung suchte, ähnlich wie das Streben nach Gefühlsbestimmtheit aus dem Orgelchoral den Kern der Kirchencantate hervorgehen ließ: aus der erhabenen Ruhe und träumereichen Einsamkeit trieb es herunter in blühende Thäler und zu redenden Menschen. Das Cembalo konnte die Ausgleichung nicht herstellen; erst ein Instrument, das die Klangfülle der Orgel mit der Ausdrucksfähigkeit des Clavichords in richtigen Verhältnissen vereinigte, war im Stande, dem Erscheinung zu geben, was in des Meisters Phantasie erklang, wenn er für Clavier componirte. Daß unser moderner Flügel dieses Instrument ist, sieht ein jeder. Nichts kann verkehrter sein, als zur Ausführung Bachscher Clavierstücke sich das Clavichord zurückzuwünschen, oder gar das Cembalo, das für Bachs Kunstübung überhaupt die wenigst selbständige Bedeutung gehabt hat; dies mag für Kuhnau, für Couperin und Marchand passen, Bachs Gestalten verlangen ein wallendes Tongewand, seelenvollen Blick und sprechende Mienen. Wenn in neuester Zeit [655] die Beschäftigung mit seinen Clavierwerken mehr und mehr zugenommen hat, so ist neben andern auch dies ein Grund und keiner der unkräftigsten, daß man fühlte, mit den großen Mitteln dem Inhalte nun endlich gerecht werden zu können. Es versteht sich, daß einem virtuosenhaften Aufputz nicht das Wort geredet wird. Die Gefahr von dort her ist aber auch nicht allzu drohend; so fest ist die Textur dieser Tonstücke, so melodisch überall die Stimmführung, daß bei nur einiger Versenkung in ihren Organismus jedes eigenmächtige Hervorzerren einzelner Glieder sich sofort als unmöglich erweist. Wo ein Glied sich herausheben soll, hat der Componist von innen her schon gesorgt, daß es geschieht. Die echoartigen Gegensätze von forte undpiano, auf welche die mehrclavierigen Cembalos führten, sind fast immer angemerkt und wo nicht, sehr leicht erkennbar; sie beziehen sich stets nur auf volle Perioden. Was aber außerdem der Vortragende zu thun hat, wird ihm unfehlbar klar werden, sowie er sich gewöhnt, dem Gange der einzelnen Stimmen und ihrem symphonischen Zusammenwirken innerlich singend zu folgen. Dann wird er die in ihnen verkörperten Gefühlsbewegungen nach Maßgabe ihres Steigens und Sinkens beleben, nach ihrem zustimmenden oder widersprechenden Verhältnisse zur jedesmaligen Grundharmonie mit weniger oder mehr Tonfülle ausstatten. Dann wird er auch jene Melodie vernehmen, die wie eine innere Stimme den Harmoniengang jedes Bachschen Stückes durchtönt und sich von ihren Schwingen tragen lassen, wenn sie anschwillt zu Sturmesgewalt und dann wieder säuselt wie Maienhauch, unsichtbar, unerfaßlich und doch überall zugegen. Bachs Claviercompositionen sind eine Erbschaft, die erst unsere Zeit in ihrem vollen Umfange antreten sollte, ein unschätzbares Geschenk für eine Periode, deren musikalischer Quell nicht mehr in früherer Ergiebigkeit fließt, ein unerschütterlicher Fels in dem trüben Gewoge leidenschaftlicher Verirrungen, für alle die noch hören können eine ernste Mahnung, nicht die Würde der Kunst zu vergessen. Die Anfänge des Pianoforte erlebte der Meister noch und hat sie durch seine strenge Kritik gefördert. Gottfried Silbermann in Freiberg baute im vierten Jahrzehnt des Jahrhunderts, vermuthlich nach der Erfindung des Florentiners Cristofali, zwei Claviere mit Hammermechanik. Bach spielte eins davon, lobte sehr den Klang und tadelte nur die schwere Spielart [656] und die Schwäche des Tons in der Höhe. So empfindlich Silbermann durch diesen Tadel berührt wurde, so ließ er sich doch die Ausstellungen gesagt sein, arbeitete jahrelang an der Verbesserung seines Hammerclaviers und erlangte schließlich Bachs uneingeschränktes Lob28. Es ist nicht wahrscheinlich, daß dieser sich selbst in den Besitz eines solchen Instruments gesetzt hat. da es sonst sein Schüler Agricola, durch den wir überhaupt um die Sache wissen, wohl erwähnt haben würde. Der Grund ist auch klar: die Hammermechanik fügte sich nicht willig genug allen Künsten der Bachschen Fingersetzung. Aber die Freude über Silbermanns Instrument zeigt wieder deutlich, welcher Richtung seine Clavierkunst zustrebte. Um wenigstens einem Hauptmangel des Cembalo, der Tonkürze, nachzuhelfen, ersann er gegen das Jahr 1740 ein Lautenclavicymbel, welches der Orgelbauer Zacharias Hildebrand nach seiner Angabe ausführte. Die größere Tondauer wurde durch Darmsaiten hervorgebracht, deren es zwei Chöre besaß, ihnen war ein Chor von Messingsaiten im 4 Fuß-Ton beigefügt. Wenn der helle Klang des letzteren durch einen Tuchdämpfer gehemmt wurde, machte sich das Instrument beinahe wie eine wirkliche Laute, während es ohne das mehr den dunkeln Theorbencharakter hatte. In der Mensur war es kürzer als ein gewöhnliches Cembalo29. Die Einsicht in den Instrumentenbau, welche Bach hierdurch an den Tag legt, und die früher nachgewiesene Erfahrenheit auf dem Gebiete der Orgelstructur bildet mit der Geschicklichkeit des Temperirens, der erfinderischen Vervollkommnung des Fingersatzes die äußersten Consequenzen seines technischen Talents. Seine gewaltige Natur ruhte nach beiden Seiten unmittelbar über dem Urgrunde alles Künstlerthums, einem unermeßlichen Schachte der Phantasie und der durchdringendsten, bis in die Gebiete nüchternster Mechanik hinausreichenden Kraft, deren kostbares Metall würdig zu gestalten. Es bedarf wohl nur der Erinnerung an Johann Michael und Johann Nikolaus Bach, um von neuem die Thatsache zu constatiren, daß Sebastian alle productiven Fähigkeiten des Geschlechtes in sich zusammenfaßte30.
[657] Bewundernd ruft einmal ein trefflicher Kunstkenner des vorigen Jahrhunderts aus, in dem unsterblichen Joh. Seb. Bach seien die verschiedenen guten Talente von hundert andern Musikern vereinigt gewesen31. Nicht nur das Rüstzeug des künstlerischen Schaffens war ihm in denkbarst vollständiger Weise eigen, er war auch ein ausgezeichneter Lehrer der Musik. Unter allen großen deutschen Musikern ist Bach der einzige, um den sich eine nennenswerthe Anzahl von Schülern schaart, Schülern, die nicht den größeren Theil ihres Rufes dem Meister verdanken. Von den Söhnen ganz abgesehen, sind Ziegler, Agricola, Altnikol, Ernst Bach, Homilius, Kirnberger, sind Goldberg, Müthel, Kittel, Transchel, Vogler und vor allem Joh. Ludwig Krebs Künstler von unleugbarer, zum Theil sehr hoher Bedeutung gewesen. Wurde als Componist keiner von ihnen bahnbrechend, so lag der Grund in der isolirten Höhe des Meisters selbst, an welche sich schwer anknüpfen ließ, und darin, daß das schöpferische Talent sich niemand geben, noch von einem andern empfangen kann. Die Stärke der Bachschen Schüler beruhte vorwiegend in der ausübenden Kunst, wo Fleiß und richtige Leitung die Hauptsache sind. Daß Bach ihnen diese angedeihen lassen konnte, verdankt er vor allem der sittlichen Größe seines Charakters, die ihn bewog, in selbstloser Entsagung das eigne Können für seine Nebenmenschen nutzbar zu machen. »Dem höchsten Gott allein zu Ehren, Dem Nächsten draus sich zu belehren«, schrieb er auf das Titelblatt seines köstlichen Orgelbüchleins, und danach handelte er auch. Es ist in gleichem Maße ehrfurchtgebietend und herzerquickend, diesen Mann, dessen titanische Phantasie jetzt nach dem höchsten Ideale die Hand ausstreckte, in der nächsten Stunde sich zu einem seiner Schüler niedersetzen zu sehen, schüchternen Organisten- und Cantorensöhnen aus einfachsten Verhältnissen, unverdrossen ihnen die Mechanik des Fingergebrauchs erklären, theilnehmend dem Ungeschick durch Niederschreibung besonderer Uebungsstücke zu Hülfe kommen, mit pädagogischer Einsicht durch eigne Musterausführungen sie zu höhern Zielen anspornen. So hatte er in Mühlhausen begonnen, [658] so trieb er es vierzig Jahre später noch, dem Greisenalter nahe. Der alt-Bachische, der idealdeutsche Geist erfüllte ihn mit seiner ganzen Tiefe und Bescheidenheit. Dann aber kam ihm auch als Lehrer der eigne Bildungsgang zu Statten. Gewiß ist ein Grund, weshalb die meisten großen Musiker zur Unterweisung mehr oder weniger ungeeignet waren, in der Ungeduld zu suchen, andern verstandesmäßig klar zu machen, was sie selbst instinctartig eingesogen hatten, ein eben so sicherer aber auch darin, daß sie sämmtlich ein bereits Begonnenes nur fortsetzten und vollendeten und ihnen deshalb jene lebendigste Erfahrung fehlte, die auch an den einfachsten Elementen Interesse hat. Auf dem Gebiete der Orgel ist auch Bachs Stellung keine andre. Aber grade die Clavierkunst hatte er nicht nur als Erbschaft seiner Vorgänger angetreten, sondern ihr aus dem Fonds der Orgelmusik soviel zugebracht, daß sie ein ganz verändertes Aussehen gewann; in demselben Verhältnisse hatte er deren Vehikel, die Fingertechnik, durch einsichtig erfundene Neuerungen dermaßen umgebildet, daß sie von Grund aus eine andre geworden war. Hier fühlte er sich auch den elementarsten Anfangsgründen gegenüber als Schöpfer, hier hatte er durch eigne unermüdliche Versuche die beste Bildungsmethode gründlich erprobt. Vom Claviere aber mußte, der Lage der Dinge nach, die Unterweisung ihren Ausgang nehmen. Es bewährte sich nun das alte schon vom Sokrates gesprochene Wort, daß in der Sache, die er kenne, ein jeder beredt sei. Und wie hätte dieser Beredtsamkeit die überzeugende Kraft fehlen können, wenn die Schüler sahen, zu welchen Resultaten Bachs Methode an ihm selbst geführt hatte, wie er neben dem genauesten Kennen auch das höchste Maß des Könnens besaß! Denn darin beruhte nun eine dritte Seite seiner Lehrbegabung, daß er in angemessenen Unterbrechungen den durchdringend klaren Verstand vor dem Schwunge des Genius zurückweichen lassen und in der vollen Entwicklung des eignen Vermögens den Schülern das Ziel zeigen konnte, dem an seiner Hand sie sich zu nähern begonnen hatten. Dadurch erfrischte und belebte er ihren Muth und wenn er einerseits den strengsten Arbeitsernst forderte, so bereitete er ihnen dann auch wieder Stunden, die sie eingestandenermaßen zu den glücklichsten ihres Lebens zählten32. [659] Ueber die Art seines Lehrganges sind wir ungefähr unterrichtet. Zuerst ließ er nur Uebungen im Anschlag, in der Fingersetzung und in der gleichmäßigen und unabhängigen Ausbildung der einzelnen Finger beider Hände vornehmen. Hierbei hielt er die Schüler wenigstens einige Monate fest, versüßte ihnen aber die bittre Kost durch anmuthige Tonstückchen, in denen er jedesmal eine bestimmte technische Aufgabe zum Motiv nahm. Auch die Verzierungen, die sogenannten Manieren, mußten sie von Anfang an in beiden Händen ausdauernd üben. War nun in diesen Elementen eine gewisse Fertigkeit erreicht, so ging er grundsätzlich gleich zu schwereren Stücken über, vorwiegend seinen eignen. Vor Beginn des Einstudirens spielte er sie vor und wußte den Schülern dergestalt Lust und Eifer zu erwecken, daß die günstigen Resultate nicht leicht ausblieben33. Auf den Fleiß legte er das höchste Gewicht, nur hierin stellte er sich ihnen selbst als Muster vor. »Ich habe fleißig sein müssen; wer es gleichfalls ist, wird eben so weit kommen«, pflegte er wohl zu sagen. Seiner wunderbaren Gaben schien er nicht zu gedenken.
Durch ein günstiges Geschick ist es auch möglich geworden, gleichsam einen praktischen Lehrcursus Bachs zu belauschen, wenigstens soweit sich derselbe neben rein mechanischen Uebungen an abgerundeten Musikstücken entwickelte. Als sein ältester Sohn das neunte Jahr überschritten und eine hohe musikalische Begabung gezeigt hatte, ging der Vater daran sie auszubilden. Am 22. Januar 1720 legte er ein »Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach« an34, in das er, mit den ersten Elementen beginnend, nach und nach Compositionen von progressiver Schwierigkeit eintrug, hier und da auch den Knaben selber eintragen ließ. Auf dem ersten Blatte werden die musikalischen Schlüssel und die hauptsächlichsten Manieren erklärt35. Dann folgt das kleinere der schon erwähnten mit Fingersatz versehenen Stückchen, Applicatio genannt und durch die fromme Aufschrift: In Nomine Jesu geziert. Hier sind tonleiterartige [660] Gänge mit Manieren in Verbindung gebracht, besonders ist es, wie Takt 2, 6 und 8 beweisen, auf das Trillern des vierten und fünften Fingers der rechten Hand abgesehen. Das zweite Stück, ein 18taktiges Praeambulum in C dur, übt in Ausführung von Verzierungen die linke Hand, die rechte dagegen in gleichmäßiger Sechzehntelbewegung und im präcisen Ablösen der linken36. Nun kommt, für Bachs Stellung zur Clavierkunst bedeutsam, sogleich der dreistimmige Choral »Wer nur den lieben Gott läßt walten« mit Verzierungen in beiden Händen reichlich ausgestattet. Es ist in gefeilter Form derselbe Satz, den er in früheren Jahren mit Vor-, Zwischen- und Nachspielen versehen zum kirchlichen Gebrauche gefertigt hatte37; seitdem war er von einer so überladenen Begleitung des Gemeindegesanges zu rück- und zu der Einsicht gekommen, daß dergleichen nur zu Studienzwecken auf dem Claviere dienlich sei. Um ihn glatt und rund auszuführen, ist schon eine weit mehr als anfängerhafte Gewandtheit nöthig. Die vierte Lection besteht aus einem etwas längern Praeludium in D moll, ruhig gehende Achtel, zum Schluß eine Sechzehntel-Cadenz mit Ablösung der Hände38. Takt 9 und 13 haben einen jedesmal in den folgenden Takt hinüber reichenden Bogenstrich. Es konnte aber das eigentliche Legato auf dem Clavichord nur durch vergrößerten Druck, also auch erhöhte Tonintensität hervorgebracht werden, die Bogen bedeuten deshalb zugleich eine Schattirung des Vortrags, um so mehr, als sie keine vollständige Phrase umfassen, sondern im folgenden Takte sich gleichsam verlieren, d.h. also: Anfang forte, dann diminuendo bis zum piano – ein praktischer Wink, wie Bach auf ausdrucksvollen Vortrag hielt! An fünfter Stelle befindet sich wieder ein dreistimmiger Choral: »Jesu, meine Freude«, colorirt und verziert, wie der vorige; er ist aber nicht vollständig zu Ende geschrieben39. In ermunternder Abwechslung schließen sich zwei leichte Allemanden aus G moll an, deren zweite jedoch ebenfalls Fragment blieb. Dann folgen drei Praeludien aus F dur, G moll, dieses mit vollständigem Fingersatze versehen, und [661] nochmals aus F dur40. Die ersteren beiden zielen wieder auf ebenmäßige Geläufigkeit und glatten Fluß in Sechzehnteln und Achteln, worauf Bach augenscheinlich sehr viel gab, das dritte aber gehört schon ganz in die Kategorie jener schwereren Stücke, an welche die Schüler nach kurzem geführt wurden. Die in allen Stimmen herrschende, specifisch Bachsche Polyphonie, verbunden mit der eben so charakteristischen Beweglichkeit der Tongedanken setzt eine nicht unbedeutende Selbständigkeit und Geläufigkeit der Finger voraus. Der polyphone Satz übersteigt nicht die Dreistimmigkeit und wendet auch diese nur erst mit Vorsicht an, macht trotzdem aber an gebundenes Spiel, Dehn- und Spannkraft der Hände immerhin einige Ansprüche. Den Praeludien entsprechen eben so viele Menuette (in G dur, G moll, G dur)41, in welchen die Studien des polyphonen Spiels ihre Fortsetzung finden, im dritten wird auch eine der Deutlichkeit des Anschlags höchst nützliche rhythmische Figur unablässig durchgeführt. Man kann hier eine Station erkennen, das folgende Uebungsmaterial repräsentirt eine höhere Unterrichtsstufe. Es besteht zunächst aus elf Praeludien, welche später in mehr oder weniger veränderter Fassung im »wohltemperirten Clavier« wiederkehren. Ihre Anordnung beweist, daß die Absicht ganz methodisch zuerst auf erhöhte Geläufigkeit, Ausdauer und Ebenmäßigkeit, sodann auch auf gesangreiches und polyphones Spiel hinging. Die Reihenfolge ist nämlich: C dur, C moll, D moll, D dur, E moll (dieses nur als Uebung für die linke Hand entworfen), darauf E dur, F dur, Cis dur, Cis moll, Es moll, F moll. Die Praeludien sind nicht alle bis ans Ende eingetragen; auf ihr Verhältniß zur Gesammtgestalt des wohltemperirten Claviers, sowie auf ihren künstlerischen Werth kommen wir natürlich zurück. Nach ihnen begegnet uns zum ersten Male eine nicht-Bachische Composition in Gestalt einer Allemande aus C dur von J.C. Richter42, die nachfolgende Courante mag desselben Verfassers [662] sein. Aus einigen Geringfügigkeiten und Fragmenten heben sich dann heraus ein D dur-Praeludium und eine dreistimmige Fuge in C dur43. Bei der Fuge ist als technischer Zweck unter anderm die Ausbildung des vierten und fünften rechten Fingers deutlich erkennbar, für das Praeludium aber wird nur im allgemeinen die Bachsche Spielweise in Anspruch genommen; der frühere Zweck ist jetzt zum Mittel geworden, der Schüler auf einer neuen Stufe der Reife angelangt. Dies bestätigt vollauf der Rest des Büchleins, welcher fast ausschließlich mit den »Inventionen und Sinfonien« angefüllt ist, dem ersten jener drei großen Meisterwerke für Clavier, welche der Cöthener Periode ihr Dasein verdanken. Nur zwei kleine Suiten bleiben noch, die eine, dreisätzig aus A dur, zeigt zwar nicht Seb. Bachs Handschrift, mag jedoch seine Composition sein, die andre, viersätzig aus G moll, ist von dem gothaischen Capellmeister G.H. Stölzel; Bach hat sich den Spaß gemacht, zu dem Menuett derselben ein eben so reizendes wie gediegenes Trio hinzuzufügen44. Alle die genannten Originalcompositionen erfüllen nicht nur vollständig ihre instructiven Zwecke, sondern sind auch Musterleistungen nach der Seite ihres künstlerischen Werthes, ein bunter, duftiger Blumenstrauß, in dem neben Rosen, Lilien, Nachtviolen freilich auch allerhand wilde Anemonen und Schlüsselblumen wohlgemuth ihren Platz eingenommen haben, von denen aber doch keine des echten Reizes entbehrt. Die Formen sind zuerst ganz einfach, werden mit den gesteigerten technischen Anforderungen allmählig breiter, bis die Fugenform erreicht ist. Von der eigenthümlichen Gestalt der »Inventionen und Sinfonien« ist hier noch nicht die Rede, den letzteren nahe steht bis auf die Vierstimmigkeit das schöne D dur-Praeludium.
Aehnliche vorwiegend zu Uebungszwecken geschriebene Stücke giebt es von Bach noch manche, wenngleich die Ueberzahl sich mit seinen Schülern zerstreut und verzettelt haben wird. Vorzüglich ist ein kleines C moll-Praeludium, das harfenartig lispelnd von einer Harmonie zur andern träumt und die wundersame Romantik des Bachschen Geistes ahnungsvoll emporsteigen läßt45. Auch Fugen [663] sind noch vorhanden, mit und ohne Praeludien, die, wie oben, zu Prüfsteinen für die Fortschritte der Unterwiesenen gedient haben werden, dreistimmige Fugen von wahrhaft beglückender Vollendung nach Form und Inhalt und von jener Concentrirtheit der Fassung, die keine überflüssige Note duldet, kein Wort zu viel sagt und die ein Merkmal aller cöthenischen und späteren Fugen ist. Die Praeludien sind eben so kunstvoll als tief, besonders das ernst melancholische aus D moll, in welchem man ein Orgelstück erkennen möchte, wenn es Bach nicht eigenhändig mit einer offenbaren Clavierfuge zusammengeschrieben hätte46.
Die Verfolgung der mechanischen und Lehr-Talente Bachs hat uns somit wieder zu seinem Kunstschaffen zurückgeleitet. Es ist eine großartige Einheit in dieser Natur. Alle ihre verschiedenen Eigenschaften durchdringen sich gegenseitig zu völliger Untrennbarkeit. Wie jedes Uebungsstück nach seinem Gehalte ein echtes Kunstwerk, so ist umgekehrt auch jede freie Composition im höchsten Grade technisch instructiv. Er hat kein Clavierstück geschrieben, das nicht zur heilsamsten Fingergymnastik diente, eben so wenig aber auch eins, das keinen andern Zweck erfüllte, als diesen. Grade mit einigen seiner tiefsinnigsten Meisterwerke wendet er sich direct an die »lehrbegierige Jugend«, ihre Förderung und Heranbildung zum Kunstverständniß war ihm ein Gegenstand wärmsten Interesses, ein Impuls zu schöpferischer Begeisterung. Wie er sich so in seinen Schülern durch geduldig ausharrenden Fleiß allmählig sein Publikum heranbildete, darin ist er ein leuchtendes Vorbild für jeden Künstler, der, wie billig, den Wunsch hegt, seinen Ideen Eingang zu verschaffen. Fern ab lag jede Vornehmthuerei, jedes Befriedigtsein durch verständnißlose Bewunderung. Die Segnungen der Kunst der Instrumentalmusik wollen mehr noch, als die jeder andern, durch ein gewisses Verstehen, durch einen höheren Grad musikalischer [664] Cultur verdient sein; der Einzelne muß besonders zu ihnen erzogen werden, sonst verwandeln sie sich in einen Fluch, ein verweichlichendes, entsittlichendes Luxusmittel. Das wußte Bach sehr wohl. Auch sein Lehreifer ist im Grunde nur ein Ausfluß jenes einzig wahren Künstlerthums, in dessen Hand der Menschheit Würde gegeben ist, und das zwischen schön und gut keinen Unterschied kennt. Als er im Anfange des Jahres 1723 die »Inventionen und Sinfonien« zu der Form eines selbständigen Werkes redigirte, gab er ihnen folgenden Titel: »Auffrichtige Anleitung, Wormit denen Liebhabern des Clavires, besonders aber denen Lehrbegierigen, eine deutliche Art gezeiget wird, nicht alleine (1) mit 2 Stimmen reine spielen zu lernen, sondern auch bey weiteren progressen (2) mit dreyen obligaten Partien richtig und wohl zu verfahren, anbey auch zugleich gute inventiones nicht alleine zu bekommen, sondern auch selbige wohl durchzuführen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen, und darneben einen starcken Vorschmack von der Composition zu überkommen«47. Hier haben wir noch einmal das vollständige Glaubensbekenntniß des musikalischen Pädagogen. »Anleitung« – der lehrhafte Zweck wird aufs klarste ausgesprochen; »aufrichtige« – der wirklichen Kunst ist mit keinem Scheinwesen gedient. »Den Liebhabern des Claviers« – d.h. des Clavichords, der Grundlage des Bachschen Unterrichts, auf dem allein auch eine »cantable« – eine gesangreiche, ausdrucksvolle Art des Vortrags möglich ist; »besonders aber den Lehrbegierigen« – der strebsamen Jugend, deren Verständniß gewinnen muß, wem die Zukunft gehören soll. Stücke mit zwei, hernach mit drei obligaten Stimmen werden vorgelegt – die Ausbildung des polyphonen Spiels ist der höchste Zweck; von diesem wiederum wird Reinheit, Richtigkeit und Anmuth verlangt. Das musikalische Gedankenmaterial soll die Phantasie des Lernenden befruchten und ergiebig machen sowohl für das Extemporiren (inventiones), wie für das gesammelte und bedächtige Künstlerwerk (Composition). An der Durchführung der Gedanken endlich soll er den Organismus eines Tonstücks studiren. Wie wenig Bach der Ansicht war, ein Clavierschüler brauche nur zum Fingerkünstler abgerichtet [665] zu werden – Clavier-Ritter pflegte er solche zu nennen –, wie er vielmehr den Spielenden zugleich zum Eindringen in Construction und Stimmung des Gespielten angeleitet, ja durch Erweckung des eignen Gestaltungsvermögens zur lebendigsten Reproduction veranlaßt wissen wollte, wird hieraus recht klar. Die Fassung des Programms erscheint auf den ersten Blick etwas wirr, doch ist es wohl nicht allzu schwer, die sich darin kreuzenden Gedankenrichtungen zu sondern. Er wollte ein Uebungswerk liefern zunächst für Clavierspieler, aber mit dem mechanischen sollte durch dasselbe auch das künstlerische Vermögen gefördert werden und zwar sowohl nach Seiten der für das damalige Generalbassspielen so wichtigen extemporirenden Erfindung, als auch der wirklichen Composition. Als einstiger Primaner der Michaelisschule zu Lüneburg hatte er aber seine Rhetorik noch nicht so weit vergessen, um nicht zu wissen, daß zur Erfindung (inventio) die Anordnung(collocatio) und der Ausdruck (elocutio) gehören, daher hinter der Bemerkung von den guten inventiones sogleich die Erwähnung von deren Durchführung(collocatio) und cantablem Vortrag (elocutio), während sonst eine andre Gliederung näher gelegen hätte. Die antike Rhetorik spielt auch noch an einer zweiten Stelle hinein, wenn er bei den zweistimmigen Stücken das Reinspielen, bei den dreistimmigen aber »richtig und wohl zu verfahren« lehren will, da doch gewiß die dreistimmigen nicht weniger rein, als die zweistimmigen richtig und wohl vorgetragen werden sollen. Ganz offenbar ist dies das emendatum (richtig),perspicuum (rein, d.i. sauber) und ornatum (wohl, d.i. gewinnend, anmuthig) der altrömischen Rhetoren, die drei Haupterfordernisse einer guten Darstellung. Es ist schon recht interessant zu sehen, daß Bach trotz seiner musikalischen Beschäftigungen in Lüneburg doch kein so ganz schlechter Lateinschüler gewesen sein muß, da er diese Dinge nach zwanzig Jahren noch gegenwärtig hatte und richtig anzuwenden wußte. Aber viel wichtiger ist es, daß er überhaupt darauf kam, das Clavierspiel mit der menschlichen Rede zu vergleichen. Er konnte dies unmöglich, wenn er nicht eben in der Tonkunst eine vollständig ausgebildete Sprache des Gefühls sah, in den Tonreihen seiner polyphonen Stücke gleichsam die Aeußerungen bestimmter Individuen, in dem Componisten eine Art von dramatischem Dichter. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er diesen Vergleich selber oft angewandt, um [666] den Schülern das innere Leben seiner Musikstücke zu erschließen48. Wie unter der Vorstellung eines solchen Bildes der Vortrag sich gestalten mußte, braucht nicht nochmals ausgeführt zu werden. Und auch das läßt sich nun begreifen, durch welche Ideen-Association er dahin kam, die zweistimmigen Stücke Inventionen zu nennen, nachdem ihm der Name »Praeambulum«, mit dem sie noch in Friedemanns Buche bezeichnet sind, nicht gefallen zu haben scheint. Etwas praeludienhaftes ist, etwa mit zwei Ausnahmen, in diesen strengen und einheitlichen Formen allerdings nicht zu erkennen, aber besonders passend ist der Name »Invention« auch nicht eben, dafür sind die Stücke zu wenig bloß erfunden, zu sorgfältig durchgeführt und höchstens im Gegensatz zu den nachfolgenden Sinfonien (so wurden diese glücklich aus »Fantasien« umgetauft) als leichter hingeworfene, unmittelbarer erzeugte Gebilde zu acceptiren49.
Betrachtet man nun dieses Werk, das wie kein andres den instructiven Zweck betont, auf seinen künstlerischen Werth, so ist es die glänzendste Illustration des Satzes, daß mit der Entschiedenheit der lehrhaften Absichten bei Bach in gleichem Verhältnisse sich der Schwung seiner Productionskraft steigerte. Den beiden Theilen des wohltemperirten Claviers und der »Kunst der Fuge« steht es nur in seinem bescheideneren Umfange und in den durch die Sparsamkeit der Mittel hervorgerufenen Beschränkungen, sonst aber wahrlich in keinem Punkte nach. Ja, in einer Hinsicht überragt es jene und mit ihnen alle spätere Claviermusik Bachs, in der vollständigen Neuheit der Form. Der Meister hatte wohl Grund, nach passenden Namen für die Stücke zu suchen, da es in der gesammten Clavierkunst jener Tage nichts ähnliches gab. Nicht nur die bei strengster Zwei- und Dreistimmigkeit keinen Augenblick unterbrochene Polyphonie, welche trotzdem immer die Harmonie mit ganzer Deutlichkeit und Fülle zu Tage treten läßt, nirgends durch abgebrauchte Wendungen das Interesse erkältet, niemals durch Wiederholungen ermüdet, sondern mehr noch die ganze Art der Entwicklung jedes Tonbildes, die mit[667] souveräner Freiheit geübten Künste des Canons, der Fuge, der freien Imitation, des doppelten und dreifachen Contrapuncts, der motivischen Gedankenbildung, der Umdrehung der Themen, welche alle in Formen von nur mäßiger Ausdehnung mit und neben einander wirken, ohne irgendwo ihre Existenz zu verrathen, machen die Inventionen und Sinfonien zu einem Unicum der gesammten Clavierlitteratur. Eine leichte Anlehnung an die Formen der damaligen italiänischen Musik ist wohl zu erkennen, etwas entschiedener noch bei den Sinfonien als den Inventionen. Aber hauptsächlich ist doch aus Bachs eignen Orgel- und Clavierstücken diese wunderbar feine Blüthe gleichsam als Quintessenz alles Errungenen hervorgestiegen. Und es läßt sich noch beobachten, welche Anstrengungen er gemacht hat, sie zu zeitigen. Denn neben den je funfzehn zweistimmigen Inventionen und dreistimmigen Sinfonien finden sich in seiner Hinterlassenschaft noch mehre Stücke desselben Stiles, welche beweisen, daß er aus dem reichlichen Er trag ernster Arbeit nur das gab, was ihm als das Beste oder doch für das Werk Angemessenste erschien. Nach der Idealform der Inventionen scheint er am längsten gerungen zu haben. Eine sogenannte zweistimmige Fuge in C moll ist der halb aus der Puppe geschlüpfte Schmetterling, Fuge eigentlich nur die ersten sechs Takte hindurch, hernach in der thematischen und motivischen Freiheit immer mehr Invention. Eine andre Seite des Entwicklungsprocesses enthüllen drei kleine Stücke aus D moll, E dur und E moll, von denen besonders das erste schon in hohem Maße jenes reizende Spiel mit Verkehrung und doppelter Contrapunctirung zeigt, das den Inventionen wie Sinfonien charakteristisch ist. Aber sie stehen sämmtlich in der zweitheiligen Liedform, die Bach bei Zusammenstellung des Gesammtwerks, bis auf eine Ausnahme, ausschloß, weil sie den hinströmenden Zug polyphoner Entwicklung unterbrach. Vollständig erreicht ist aber das Ziel in einem andern Stücke aus C moll, nur die Bezeichnung schwankt noch zwischen »Fantasia« und »Invention«50. Können die übrigen nur als Studien gelten, so ist dieses ein Paralipomenon, das seiner formellen Vollendung nach in das Ganze hätte aufgenommen werden dürfen. Ebendas muß von zwei zweistimmigen und zwei dreistimmigen Compositionen [668] gesagt werden, die aber ein andres Werk zu zieren für würdig befunden wurden, es sind die Praeludien aus Cis dur, Fis dur und A dur und aus B moll im ersten und im zweiten Theile des wohltemperirten Claviers. Ob das letzte auch schon in dieser Zeit entstanden ist, darüber kann man freilich zweifelhaft sein, doch finden sich nachweislich im zweiten Theile mehre Arbeiten aus früheren Jahren. Von den übrigen ist es wegen der bekannten Entstehungszeit des wohltemperirten Claviers an seinem ersten Theile gewiß. Daß Bach, was an andrer Stelle Sinfonia hieß, hier Praeludium nannte, – wir lernten jetzt schon drei verschiedene Namen für denselben Gegenstand kennen – zeigt wieder, wie unvergleichbar der darin entfaltete Stil war. Hingegen ist ein andres dreistimmiges Stück wieder als Studie anzusehen, man möchte gradezu sagen als Studie zu der ersten Sinfonie in C dur, mit der es auch die Tonart theilt. Es führt ebenfalls den Titel Praeludium51.
Wie über die Benennung, so war Bach auch über die Anordnung der zweimal funfzehn Stücke mit sich im Zweifel. Dies zu beobachten ist deshalb interessant, weil man sieht, daß immer nur instructive Rücksichten über dieselbe entschieden. In drei verschiedenen Autographen liegt das Werk vor. In Friedemanns Clavierbüchlein sind die Inventionen von den Sinfonien getrennt, das Princip der Anordnung ist aber dasselbe, da diese, soweit es Zahl und Tonart der Stücke erlauben, durch die Tonleiter auf- und wieder abwärts steigt52. In derselben Reihenfolge bietet die Stücke ein zweites Autograph, das ebenfalls in Cöthen geschrieben zu sein scheint, nur folgt auf je eine Invention gleich die Sinfonie derselben Tonart. Das dritte dagegen läßt den Grundsatz hervortreten, nach Maßgabe der Tonarten allmählig in der Tonleiter nur aufwärts zu steigen, hier sind zuerst sämmtliche Inventionen gegeben, dann erst die Sinfonien in der nämlichen Reihenfolge53. Heutzutage würde man eine solche Anzahl von Clavierstücken [669] nach ihrem inneren Charakter gegensätzlich anmuthig zu gruppiren suchen. Ein solcher Gedanke scheint Bach nie gekommen zu sein, brauchte es auch nicht, denn jedes ist so sehr anders, als alle übrigen, daß gar keine Permutation möglich ist, welche der erfrischenden Wirkung des Contrasts entbehrte.
Der den Inventionen zu Grunde liegende Plan ist meistens ein dreitheiliger und erinnert von weitem an die Form der italiänischen Arie. Der erste Theil pflegt sich durch eine entschiedene Cadenz auf der Dominante oder Obermediante deutlich abzutrennen, er kehrt mehr oder weniger verkürzt am Schlusse wieder. Nur die sechste Invention hat zweitheilige Liedform mit Repetition, doch wird auch hier am Ende des zweiten Abschnitts der erste im wesentlichen wiederholt, ein ausgebildeter Sonatensatz in der Verkleinerung! Die erste und siebente Invention sind dreitheilig, doch ohne cyklisch zu sein. In diesem Gehäuse entfaltet sich nun eine staunenswerthe Vielgestaltigkeit musikalischen Lebens. Die erste Invention wächst imitatorisch aus diesem Keime hervor:
schon vom dritten Takte dient dessen Umkehrung einem längeren motivischen Gebilde, und wird auch im Verlauf der rechten Bewegung im abwechselnden Spiele entgegen gestellt. Unter allen funfzehn besitzt sie den kühlsten und reservirtesten Charakter, schon das Thema hat etwas conventionelles und offenbart erst allmählig seinen Gehalt. Ganz anders Nr. 2 (C moll). Ein leidenschaftlich suchender Gang stürzt hastig herein, sein Ebenbild folgt ihm sogleich auf demselben Wege, und so fliehen die Gestalten vor einander her, bald vorwärts, bald rückwärts gewendet. Es ist ein Canon in der Octave, bis Takt 10 zwischen Ober- und Unterstimme im Abstande von zwei Takten, dann kehrt sich das Verhältniß um: die Unterstimme ist voran, die obere folgt (bis Takt 20), nun eine taktweise Imitation – gleichsam ein Ausweichen nach rechts und links, und dann wieder die erste Richtung bis in den Schlußtakt hinein. Frei imitirend gaukelt die [670] heitere Nr. 3 (D dur) vorüber, verdüstert schießt mit bald rechtem bald verkehrtem Thema Nr. 4 (D moll) dahin. Es dur (Nr. 5) tritt von Anfang an zweistimmig auf, macht im doppelten Contrapunct der Octave seinen Lauf über B dur, C moll, F moll, durch motivische Erweiterungen in die Grundtonart zurück – ein stolz-graziöses Stück. Voll von anmuthiger Schalkhaftigkeit ist E dur (Nr. 6), in dem auch sogleich zweistimmig begonnen wird und der doppelte Contrapunct und die motivische Bildung eine hervorragende Rolle spielen. Formelle Verwandtschaft mit Nr. 1 zeigt Nr. 7 (E moll), der Ausdruck aber ist anders: drängend, flehend, und trotz der aufgeregten Bewegung die melodische Schönheit außerordentlich. Dagegen ist F dur (Nr. 8) ganz und gar harmlose, drollige Vergnügtheit; es beginnt canonisch, wird vom 12. Takte an freier und treibt allerliebste motivische Bildchen hervor. Das Gegenstück im entsprechenden Moll (Nr. 9), das der Form nach an Nr. 5 mahnt, aber an motivischen Gestaltungen reicher ist, bringt wieder trübe und leidenschaftathmende Weisen zu Gehör, die in den Takten 21–26 zu großer Eindringlichkeit gesteigert werden. G dur (Nr. 10) beginnt fugenartig, läßt sich aber dadurch keine Fesseln schmieden: hier imitirend, dort motivisch bewegt flattert es fröhlich auf und nieder. Ganz übermüthig lustig macht es sich, wenn bei der Rückkehr zum Anfang (Takt 27) die Oberstimme das Geschäft des Führers und Gefährten zusammen besorgt. Des folgenden Stückes (G moll) Charakter besteht in quälender Ruhelosigkeit. Ein chromatisches Contrasubject, vom Beginn dem zweitaktigen Hauptgedanken angeheftet, treibt im vierten Takte mittelst Umkehrung ein peinlich bohrendes Motiv hervor, das mit dem ursprünglichen Contrapunct abwechselnd, Takt 14 wiederkehrt. Die Perioden zählen je sechs Takte, die beiden letzten nur fünf und einen halben, sie zweigen sich ohne beruhigende Cadenzen in einander hinüber (Takt 12 auf 13, und Takt 18) – die Aufregung steigert sich von Pulsschlag zu Pulsschlag. Eine treuherzige, deutsche Lustigkeit kennzeichnet Nr. 12 (A dur), die Form entspricht Nr. 5 und 9. A moll und B dur, die beiden nächsten Inventionen, haben gemeinsam etwas praeludienartiges, indem Motive wie Entwicklungen sich fast nur in harmonischen Gängen bewegen; die zweite verräth sogar eine ganz nahe Verwandtschaft mit dem Praeludium der B dur-Partita im ersten Theile der »Clavierübung«. Die [671] Dreigliederung ist aber auch hier fest gehalten; in der B dur-Invention tritt der Hauptsatz bei seiner Wiederkehr (Takt 16, Mitte) canonisch auf, ihre Haltung strebt frisch in die Höhe, die der ersteren ist träumerisch mit wehmüthigem Zuge. Ernst, nicht ohne eine gewisse würdevolle Grazie zieht die letzte Invention auf, fugenartige Durchführungen wechseln mit motivischen Zwischensätzen ab, welche aus dem Contrapunct hervorwachsen. Auffällig bleibt, daß das Thema nicht allein anhebt, sondern sich harmonisch auf kurze Bassnoten stützt.
In einer andern der Inventionen geschieht dies nicht, durchweg dagegen in den Sinfonien, und ich glaube, daß diese hier eine Rückwirkung ausgeübt haben. Die Form der Sinfonien in ihren äußersten Umrissen ist durch das italiänische Instrumentaltrio bestimmt worden, welches, durch Corelli festgestellt, durch Albinoni, Vivaldi und viele andre fleißig cultivirt, auch in Deutschland die allgemeinste Verbreitung gefunden hatte. Wie Bach für seine Zwecke die italiänischen Formen auszunutzen wußte, ist schon früher dargethan. Hierin auch jetzt noch fortzufahren, lag um so näher, als in Cöthen der Kammermusik seine Hauptbeschäftigung galt. Die fugirten Sätze der gewöhnlich durch zwei Violinen, Streichbass und Continuo gebildeten Trios wurden gern so gestaltet, daß die themavorspielende Stimme nicht allein, sondern über einem stützenden Generalbass auftrat, der mit den zugehörigen Harmonien von einer vierten Person, einem besondern Accompagnateur, angeschlagen wurde. Nachher wurde der Generalbass mit in das fugirte Gewebe hineingezogen, und die harmonische Begleitung hatte sich den andern Stimmen unterstützend anzuschließen, um sofort wieder füllend einzutreten, wo die Gänge der andern Instrumente eine harmonische Lücke zeigten. An dieser Manier er kennt man, daß Bach von der Trioform ausgegangen sein muß. Aber wie sehr die Einwirkung nur eine äußerliche war, erhellt daraus, daß eigentlich außer einem spärlichen Reste in den jedesmaligen Anfangstakten von dem stützenden Continuo nichts geblieben ist; und auch hier tritt derselbe nicht als Grundlage einer accompagnirenden Accordreihe, sondern als freie, selbständige Stimme auf und erobert sich bald in der polyphonen Entwicklung sein volles und eigenthümliches Recht. Eine weitere Vergleichung ist deshalb völlig unstatthaft; das Bachsche Claviertrio ist etwas so durchaus originelles, [672] daß man überhaupt zweifeln muß, ob er wohl an das italiänische Instrumentaltrio geradezu gedacht habe und nicht vielmehr an seine eignen Arbeiten dieser Art, die wir alsbald dem Leser vorzuführen haben werden. Der dort herrschende Stil hat wenigstens eine allgemeine Aehnlichkeit mit dem der Sinfonien, wenn auch die Ausführung viel breiter und kühner ist. Hier wie dort aber war der speisende Urquell die Orgel. Die Polyphonie ist meistens fugenartig, seltener (Nr. 2, 5, 15) canonisch angelegt, obgleich weder von Canons, noch von wirklichen Fugen hier die Rede sein kann. Weiter noch etwas allgemeines über die Form der Sinfonien zu sagen ist schwer. In freiester Weise und doch mit einem staunenswürdigen Ordnungssinne werden alle Mittel polyphoner Thematik und Motivik zur Verwendung gebracht, jedes Stück ist ein künstlerischer Mikrokosmus, ein aufs kostbarste geschliffenes Krystallgefäß vom reinsten, goldigsten Inhalte erfüllt. Zur Erhöhung der Wirkung dient es, die entsprechende Invention jedesmal vorhergehen zu lassen. Denn daß der Componist je ein solches Paar zusammengedacht hat, ist unzweifelhaft. In Nr. 15, 12 und 6 stimmen sogar die Themen, wenn nicht Note für Note, so doch in den Hauptzügen ganz überein. Nicht weniger passen die Stimmungen zu einander, und auch in formeller Hinsicht lassen sich Zusammenhänge erkennen. C dur hat dasselbe glänzend polirte, kühl zurückhaltende Wesen, wie die Invention dieser Tonart, verwendet eben so meisterlich das Thema in seiner geraden, wie verkehrten Bewegung:
C moll läßt auf die fieberhafte Unruhe der Invention eine von tiefster Sehnsucht erfüllte Sinfonie folgen, die aber von zuckenden Bewegungen bis ans Ende unterbrochen wird, die Imitationen sind canonisch wie dort, werden aber in der zweiten Hälfte zurückgedrängt durch motivische Entwicklungen schönster Art. D dur setzt dreistimmig die glückselige Heiterkeit des zweistimmigen Vorspiels fort, es mischt sich etwas von zärtlichem Kosen ein; wenn irgend etwas so ist diese Sinfonie eine goldne Frucht in silberner Schale. Welch ein entzückendes Thema:
[673] dem, wenn es die zweite Stimme in A dur imitirt, sofort als zweites Thema entgegentritt das anmuthvoll gleitende:
während beide mit innigem Gesange übertönt:
Und nun geht es im dreifachen und doppelten Contrapunct weiter mit göttergleicher Leichtlebigkeit, zwischenhinein lugen motivische Schelmengesichter und verschwinden – fast über jeden Takt ließe sich etwas sagen! So wird der Spieler bei allen Nummern den innern Zusammenhang zwischen Invention und Sinfonie: wie das dort Angedeutete hier mit festeren Strichen ausgeführt, das Feste in mildere Contouren aufgelöst, das leicht Angeregte vertieft, das Unstete beruhigt und befestigt, zuweilen auch die bange Klage zum tiefsten Weh und schneidendsten Schmerze gesteigert wird, unmittelbar erkennen. Ich hebe nur noch heraus die schmeichelnde, fast mozartische Süßigkeit der Es dur-Sinfonie nach der stolzen Grazie der Invention, ein Stück, das auch in seiner Form – die Oberstimmen gehen frei canonisch, während im Bass dieselbe Figur Takt für Takt wiederkehrt – vor allen andern sich hervorthut. Dann die ergreifende Klage der E moll-Sinfonie, die dennoch so voll Ethos ist gegenüber dem Pathos der Invention, und von einer organischen Schönheit, wie sie nur Bach schaffen konnte. Verwandt in der Stimmung, auch in dem Gegensatze zur Invention ist die G moll-Sinfonie, doch zieht hier unablässig eine kostbare Melodie breitathmig und langtönend über den Unterstimmen einher, wie man es bei einem so polyphonen Stücke kaum für möglich halten sollte, auch hat die Form etwas arienhaftes. Wie herrlich ist der Stimmungsfortgang zu der A moll-Sinfonie, deren Thema und Durchführung (die Terzen- und Sexten-Gänge) an die schöne A dur-Orgelfuge deutlich erinnern! Eigenthümlich entwickelt die H moll-Sinfonie das Thema der Invention weiter: canonisch, dann mehr bloß motivisch, wie in Nr. 2,[674] dazwischen aber fahren heftige Zweiunddreißigstel auf- und abwärts, fangen einander auf und kreuzen sich sogar in Gegenbewegung, nebenbei eine schwierige Fingeraufgabe für das Clavichord, das keine zwei Claviere kennt. Ganz in Qual und Leid getaucht ist endlich die Sinfonie aus F moll, aber als gebührendes Gegengewicht gegen diese excentrische Stimmung ist die Form so central, wie nur möglich, richtiger noch: die Stimmung ist erst durch die Form zu solcher Intensität gelangt, und die Form erst durch die Stimmung zu ihrer staunenswerthen Geschlossenheit, beide Factoren wirken unzertrennlich in und durch einander. Das Stück ist im dreifachen Contrapunct aus drei Themen gewoben, deren keines dem andern an Bestimmtheit des Ausdrucks nachsteht, die aber obgleich äußerlich contrastirend, dennoch alle den nämlichen Gefühlszustand wiederspiegeln:
Das erste Mal treten nur Thema I und II zusammen auf, dann aber noch neun Mal alle drei zusammen in vier Permutationen und verschiedenen, doch nahe liegenden Tonarten. Unterbrechung bringen fünf Zwischensätze, der erste ist frei gebildet, die andern aber sind motivisch aus dem ersten Thema gewoben; gerade Bewegung, verkehrte und Vergrößerung wirken mehre Male in complicirtester Verschlingung zusammen. Von den Durchführungen der Themen schließen sich bald zwei an einander, ehe ein Zwischensatz eingefügt wird, bald steht eine allein; aber es geschieht dies ebensowohl nach einem bestimmten Plane, als die Zwischensätze ihrer Form nach in Corresponsion stehen. Zur Erkenntniß der kunstvollen Periodisirung diene folgendes Schema, in dem durch die arabischen Ziffern die Zahl der jedesmaligen Durchführungen, durch die römischen die verschiedenen Zwischensätze angedeutet werden:
[675] Nur der erste Zwischensatz (Takt 5 und 6) steht allein und beziehungslos; er befreit für einen Augenblick das Ohr aus der Spannung, in die es gleich durch die ersten Takte gebracht wird, und läßt es über die gehörten Themen zum Bewußtsein kommen. In der Entwicklung wird an kühnen Intervallenschritten, Wechselnoten, Querständen das Aeußerste gewagt, allein man hüte sich, darin gezwungene Künstlichkeit finden zu wollen. Grade in den Sinfonien liefert Bach die Beweise, wie er die unglaublichste Kunst mit dem schmeichlerischesten Wohllaut zu verbinden weiß. Nicht reflectirender Eigensinn führte in der F moll-Sinfonie die Feder, sondern ein wirkliches Phantasiebild gewann Gestalt. Es wird nachempfunden werden können, wenn man sich durch den verzerrten Eindruck, den vielleicht die meisten bei der ersten Bekanntschaft erhalten, nicht abschrecken läßt, in den Gesang der einzelnen Stimmen sich nachdenklich versenkt, und beim Spiel sie als lebendige Individuen zum Zusammenwirken zu bringen sucht. Dann wird es den Empfänglichen vielleicht schauernd überlaufen, daß ein solcher Abgrund von Leid sich in einer Menschenbrust aufthun kann, aber er wird des wohlthuenden Gefühles genießen, daß auch über ihn noch der in der Form wirkende sittliche Wille triumphirend seine Brücke schlägt. Kirnberger, der theoretisirende Schüler Seb. Bachs, betrachtete die F moll-Sinfonie als ein bis zum Unverständlichen kühnes Experiment des doppelten Contrapuncts und führte sie als Beleg an, wie Bach das Verbot der unvorbereiteten Einführung des tieferen Quartentons im Basse, des sogenannten Quartsextaccordes, übertreten habe54. Die Stellen, wo sich der Meister diese Freiheit nahm (Takt 4, 14, 19, 27, 32), klingen allerdings befremdend und zuerst unbefriedigend; ihre Rechtfertigung finden sie in seiner Gesammtanschauung von dem Wesen der Stimmenführung, welche nicht mehr im polyphonen,[676] sondern im harmonischen System wurzelte. Hierüber ist an einer andern Stelle zu reden.
1 B.-G. III, S. 311 und S. 322. – P.S. I, C. 4, Nr. 4 und 5. S. Anhang A. Nr. 36.
2 B.-G. III, S. 334. – P.S. I, C. 4, Nr. 2. Handschriftlich bei Andreas Bach.
3 Mizler, S. 171.
4 Praetorius, Syntagma musicum II, S. 44.
5 Unmittelbar ergiebige Quellen giebt es für diesen Gegenstand so gut wie gar keine. Wenige Applicaturen für Scalen und Passagen aus dem 17. Jahrhundert hat C.F. Becker (Hausmusik in Deutschland S. 60 und 61) mitgetheilt und Hilgenfeldt S. 173 und 174 wiederholt. Einen wirklichen Einblick in die Spielweise könnten nur mit Fingersatz versehene Tonstücke gewähren. Bis diese gefunden sind, muß man sich mit Vermuthungen und Rückschlüssen begnügen.
6 Karl Philipp Emanuel Bachs Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. 3. Auflage, Leipzig, 1787. I, S. 12. Die erste Auflage des ersten Theils erschien 1753.
7 Mizler, S. 171 und 172.
8 Kirnberger, Grundsätze des Generalbasses S. 4, Anmerk. 2. Vrgl. Ph. Em. Bach, a.a.O. S. 18.
9 Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. 3. Aufl. 1789. S. 232; Forkel, S. 12 ff. Vrgl. Ph. Em. Bach, S. 13. – S. Anhang A. Nr. 37.
10 Scheibe, a.a.O. S. 840.
11 Adlung, Musica mechanica II, S. 24.
12 L'art de toucher le clavecin. Paris, 1717. fol.
13 Im Königsberger Autograph. Es sind Bearbeitungen von »Allein Gott in der Höh«, »Wir glauben all an einen Gott«, »Wo soll ich fliehen hin« (Vers 3).
14 J.D. Heinichen, Der General-Bass in der Composition. Dresden, 1728. S. 522.
15 Chrysander, Händel III, S. 218; nach Burney.
16 Vrgl. die Mittheilungen aus Elias Nikolaus Ammerbachs »Orgel oder Instrument Tabulatur« bei Becker a.a.O. S. 59.
17 L'art de toucher le clavecin S. 66 letztes System. Aus dem 2. Buche der pièces de clavecin; in der neuen Ausgabe von J. Brahms (Denkmäler der Tonkunst IV) S. 121.
18 Kleine Generalbassschule (Hamburg, 1735) S. 72.
19 In dem Clavierbüchlein für Friedemann Bach, mitgetheilt als Beilage 3 a und b.
20 Außer Kirnberger kann auch noch Mizler dafür angeführt werden, der (Musikal. Biblioth. II, S. 115) auf einige Tonleitergänge diese Applicatur anwendet und wenn auch nicht Schüler so doch ein guter Bekannter von Bach und lebhafter Anhänger seiner Kunst war.
21 Mattheson, Vollkommener Capellmeister. S. 55.
22 F.W. Marpurg, Versuch über die musikalische Temperatur. Berlin, 1776. S. 213: »Der Herr Kirnberger selbst hat mir und andern mehrmal erzählet, wie der berühmte Joh. Seb. Bach ihm, währender Zeit seines von demselben genoßnen musikalischen Unterrichts, die Stimmung seines Claviers übertragen, und wie dieser Meister ausdrücklich von ihm verlanget, alle große Terzen scharf zu machen.«
23 Hiervon sowie vom Tieferstimmen der Quinten und Probiren der Terzen spricht auch Phil. Em. Bach a.a.O. Einl. §. 14, der in der Temperatur schwerlich Veranlassung hatte, vom Verfahren seines Vaters abzuweichen.
24 Mattheson war ein abgesagter Feind gewisser Leute, die aus der Musik einen Zweig der mathematischen Wissenschaft machen wollten, und wußte sich hier mit Bach in Uebereinstimmung. Zu der Autobiographie Mizlers in der »Ehrenpforte« fügt er S. 231 bei Erwähnung von dessen Umgange mit Bach die Anmerkung: »Dieser hat ihm gewiß und wahrhafftig eben so wenig die vermeinten mathematischen Compositions-Gründe beigebracht, als der nächstgenannte [Mattheson]. Dafür bin ich Bürge.« Was von der Composition gesagt wird, gilt natürlich auch von den übrigen Zweigen der Kunst. »Unser seel. Bach ließ sich zwar nicht in tiefe theoretische Betrachtungen der Musik ein, war aber desto stärker in der Ausübung.« Nekrol. S. 173.
25 Forkel, S. 17.
26 Heinichen, a.a.O. S. 837 ff.; zuvor schon in dem 1711 erschienenen kleineren Werke über den Generalbass. Das Probestück S. 885–895 ist in einem Manuscript auf der königl. Bibl. zu Berlin (sign. P. 295) fälschlich als Bachsche Composition aufgeführt. Ebenda findet sich auch das »kleine harmonische Labyrinth«.
27 Ph. E. Bach, a.a.O. Einl. §. 15: »Spielt man beständig auf dem Flügel, so gewöhnt man sich an, in einer Farbe zu spielen, und der unterschiedene Anschlag, welchen blos ein guter Clavicord-Spieler auf dem Flügel herausbringen kann, bleibt verborgen.«
28 Adlung, Musica mechanica II, S. 116 f.
29 Adlung, a.a.O. II, S. 139.
30 Bitter behauptet in seinem Buche über J.S. Bach I, S. 141, derselbe habe eine Spieluhr für das Cöthener Schloß gefertigt, die sich jetzt noch auf dem Schlosse zu Nienburg a.d. Saale befinde. Herr Pfarrer Albert daselbst hat auf meine Bitte die Uhr untersucht, sie trägt auf einer Scheibe im Innern die Worte: Johann Zacharias Fischer Fecit. a. Halle.
31 Marpurg, a.a.O. S. 234.
32 So Heinrich Gerber. S. Gerber, Lexicon I, Sp. 492.
33 »Mein seliger Vater hat in dieser Art glückliche Proben abgelegt. Bey ihm mußten seine Scholaren gleich an seine nicht gar leichte Stücke gehen.« Ph. E. Bach, a.a.O. I, S. 10. – Forkel, S. 38, 39 und 45.
34 S. darüber erstes Buch, I, Anmerk. 23. Das Format ist klein Querquart.
35 Die zu diesem Zwecke aufgestellte kleine Tabelle über die Manieren ist mitgetheilt B.-G. III, S. XIV.
36 P.S. I, C. 9, Nr. 16, I.
37 S. zweites Buch, IV, Anmerk. 3.
38 P.S. I, C. 9, Nr. 16, V.
39 Das Fragment ist mitgetheilt P.S. V, C. 5, hinter den Varianten.
40 P.S. I, C. 9, Nr. 16, VIII. XI. IX. Genau genommen sind die beiden ersten Praeambulen genannt; ein Unterschied jedoch zwischen einem solchen und einem Praeludium ist nicht erkennbar.
41 P.S. I, C. 13, Nr. 11, I-III.
42 Vermuthlich der spätere Hoforganist in Dresden Johann Christoph Richter, s. Gerber, N.L. III, Sp. 855 f. Ueber eine Verbindung zwischen ihm und Bach ist sonst nichts bekannt.
43 P.S. I, C. 9, Nr. 16, IV und Nr. 9.
44 P.S. I, C. 9, Nr. 16, X.
45 P.S. I, C. 9, Nr. 16, III. Andre sind ebenda II, VI, VII, XII.
46 Es sind vier Fugen mit zwei Praeludien, veröffentlicht P.S. I, C. 9, Nr. 4, 5, 8, 11. S. dazu die Vorrede Griepenkerls. In demselben Bande stehen noch zwei andre Fugen, aus D moll und A moll (Nr. 12 und 6), die zu den andern jedoch nicht passen. Anhaltepunkte über Entstehung und Zweck fehlen gänzlich, nur daß sie nicht später als jene componirt sind, dürfte ihre innere Beschaffenheit unzweifelhaft machen. Werthlos sind sie keineswegs, die A moll-Fuge neigt zum Orgelmäßigen hinüber.
47 B.-G. III, Vorwort. Ich habe dieses Autograph nicht selbst gesehen.
48 Da Forkel S. 24 ganz dasselbe sagt, was sich uns aus der Prüfung von Bachs Worten unmittelbar ergab, so zweifle ich nicht, daß seiner Aeußerung eine Mittheilung von Friedemann oder Philipp Emanuel Bach zu Grunde liegt.
49 Daß Bach den Namen »Invention« für ein Musikstück überhaupt zuerst gebraucht hat, ist unwahrscheinlich. S. darüber Anhang A. Nr. 41.
50 P.S. I, C. 7, Nr. 2; Nr. 1, III, V, VI; C. 9, Nr. 10.
51 P.S. V, C. 8, Nr. 7. Es steht hier unter den Orgelsachen und scheint auch für dieses Instrument benutzt zu sein. Seinen Zusammenhang mit den Sinfonien wird es jedem näher prüfenden Blicke verrathen.
52 Nämlich: C dur, D moll, E moll, F dur, G dur, A moll, H moll, B dur, A dur, G moll, F moll, E dur, Es dur, D dur, C moll. Uebrigens sind von der D dur-Sinfonie nur 12 Takte vorhanden, und die C moll-Sinfonie fehlt ganz.
53 Das zweite Autograph ist ein Büchlein in klein Querquart auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Die Schrift ist noch nicht die Leipziger, sondern schärfer und spitzer, aber auch von der Art wie Bach in Weimar zu schreiben pflegte, wesentlich verschieden. Das dritte Autograph habe ich, wie gesagt, nicht selbst gesehen; da manche Fehler des zweiten darin verbessert sind, dürfte es das späteste sein. Nach ihm ist die Ausgabe der B.-G. besorgt.
54 Kunst des reinen Satzes II, 2, S. 39 ff. Es werden hier alle sechs möglichen Permutationen der drei Themen vorgeführt. Die zweite und sechste hat aber Bach in der Sinfonie nicht angewendet.
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