Sechzehntes Kapitel

[31] Diejenige Unwissenheit, welche nicht in einem blossen Nicht-Wissen, sondern in einem fehlerhaften Wissens-Zustande besteht, ist der durch einen Schluss herbeigeführte Irrthum. Sie kann in Fällen, wo etwas in einem Andern unvermittelt enthalten oder nicht-enthalten ist, in zwiefacher Weise vorkommen; entweder so, dass man einfach fälschlich annimmt, das Eine sei in dem Andern enthalten oder nicht-enthalten, oder so, dass man die Annahme auf[31] einen Schluss gründet. Bei der einfach falschen Annahme ist auch der Irrthum ein einfacher; geht er aber aus einem Schliessen hervor, so können verschiedene Fälle eintreten. So soll das A unvermittelt in keinem B enthalten sein; wenn nun hier vermittelst Annahme eines Mittelbegriffs C geschlossen wird, dass A in B enthalten sei, so ist der Irrthum durch ein Schliessen herbeigeführt. Nun können hier sowohl beide Vordersätze, wie auch nur einer falsch sein; denn wenn sowohl A in keinem C wie C in keinem B enthalten ist, aber dennoch für beide das Entgegengesetzte angenommen wird, so sind beide Vordersätze falsch; denn C kann sich so zu A und B verhalten, dass es weder unter dem A begriffen ist, noch in dem ganzen B enthalten ist. Denn B kann unmöglich ganz in dem Umfange eines Dritten enthalten sein, da A als unvermittelt nicht-enthalten in B gesetzt worden ist; und von A ist es nicht nothwendig, dass es in allem Seienden allgemein enthalten ist; mithin sind hier beide Vordersätze falsch.

Allein man kann auch dabei einen wahren Vordersatz benutzen; indess nicht beliebig einen von beiden, sondern nur den Satz A C; denn der Vordersatz C B ist immer ein falscher, weil B niemals in dem Umfange von C enthalten sein darf; aber der Satz A C kann wahr sein, z.B. dann wenn A sowohl in C wie in B unvermittelt enthalten ist; denn wenn ein und dasselbe von Mehreren unvermittelt ausgesagt wird, so wird von diesen letzteren keines in dem andern enthalten sein. Es macht hier selbst keinen Unterschied, wenn auch A in dem C nicht unvermittelt enthalten ist.

Die falsche Annahme, dass Etwas in einem Andern enthalten sei, wird nun blos durch solche Vordersätze und in dieser Weise veranlasst (denn in keiner andern Figur giebt es einen bejahenden allgemeinen Schluss); dagegen kann die falsche Annahme des Nichtenthaltenseins in der ersten und zweiten Figur geschehen.

Zunächst will ich angeben, auf wie viele Arten der Irrthum in der ersten Figur entstehen kann und wie dabei die Vordersätze sich verhalten müssen. Hier können beide Vordersätze falsch sein, z.B. wenn A sowohl in C wie in B unvermittelt enthalten ist; denn wenn man hier annimmt, dass A in keinem C, aber C in dem ganzen B[32] enthalten sei, so sind diese beiden Vordersätze falsch. Es braucht aber auch nur ein Vordersatz falsch zu sein und zwar gleichviel welcher von beiden. Denn der Vordersatz A C kann wahr sein, aber der mit C B falsch und zwar der Vordersatz A C wahr, weil A nicht in allem Seienden enthalten ist und der Satz C B falsch, weil es unmöglich ist, dass C in dem B enthalten ist, wenn A in keinem C enthalten ist; denn dann würde der Vordersatz A C nicht wahr sein und überdem müsste dann, wenn beide Vordersätze wahr wären, auch der Schlusssatz wahr sein.

Aber es kann auch der Satz C B wahr sein, insofern der andere Vordersatz dann falsch ist; z. B wenn B sowohl ganz in dem Umfange von C, wie in dem von A enthalten ist; dann ist nothwendig das eine unter dem andern begriffen, und nimmt man dann an, dass A in keinem C enthalten sei, so wird dies ein falscher Vordersatz sein. Hieraus erhellt, dass der Schlusssatz falsch sein kann, sowohl wenn einer von beiden Vordersätzen falsch ist, als auch, wenn sie beide falsch sind.

Dagegen können in der zweiten Figur beide Vordersätze nicht ganz falsch sein. Denn wenn A in dem ganzen B enthalten ist, so kann man keinen dritten Begriff aufstellen, der in dem ganzen einen Begriff des Satzes A B enthalten und in dem ganzen andern nicht enthalten ist; und doch müssen die Vordersätze dahin lauten, dass der dritte Begriff in dem Einen enthalten, in dem Andern nicht-enthalten ist, wenn ein verneinender Schluss in zweiter Figur herauskommen soll. Werden also die Vordersätze so falsch angenommen, so werden sie umgekehrt offenbar sich gegentheilig verhalten, d.h. wahr sein, was doch unmöglich sein kann, wenn der Schluss falsch sein soll. Dagegen ist es statthaft, dass beide Vordersätze theilweise falsch sind; z.B. wenn in Wahrheit C in einigen A und in einigen B enthalten ist. Wird hier angenommen, dass C in dem ganzen A, aber in keinem B enthalten ist, so sind diese Vordersätze beide falsch, aber nicht ganz, sondern nur zum Theil. Dasselbe gilt auch dann, wenn die Verneinung in den andern Vordersatz verlegt wird.

Auch ist es statthaft, dass nur einer der Vordersätze falsch ist und zwar gleichviel welcher. Denn das, was[33] im dem ganzen A enthalten ist, wird auch in dem ganzen B enthalten sein. Nimmt man nun an, dass C zwar in dem ganzen A enthalten, aber in dem ganzen B nicht enthalten sei, so wird der Satz C A wahr sein, aber der Satz C B falsch. Ferner wird das, was in keinem B enthalten ist, auch in dem ganzen A nicht enthalten sein; denn wäre es in dem ganzen A enthalten, so müsste es auch in B enthalten sein; allein in B sollte es nicht enthalten sein. Wird also angenommen, dass C zwar in dem ganzen A enthalten, aber in keinem B enthalten sei, so ist der Vordersatz C B wahr, aber der andere falsch. Dasselbe gilt, wenn die Verneinung in den andern Vordersatz verlegt wird. Denn das, was in keinem A enthalten ist, kann auch in keinem B enthalten sein. Nimmt man nun hier an, dass C zwar in dem ganzen A nicht enthalten, wohl aber in dem ganzen B enthalten sei, so ist der Vordersatz A C wahr, der andere aber falsch. Und wenn umgekehrt das, was in dem ganzen B enthalten, als in keinem A enthalten angenommen wird, so ist dies letztere falsch, denn wenn es in dem ganzen B enthalten ist, so muss es auch in einigen von A enthalten sein. Wird also angenommen, dass C in dem ganzen B enthalten sei, aber in keinem A, so wird der Vordersatz C B wahr sein, aber der Vordersatz C A falsch.

Hieraus erhellt, dass für unvermittelte Sätze ein täuschender Schluss entstehen kann, sowohl wenn beide Vordersätze falsch sind, als auch, wenn nur einer falsch ist.

Quelle:
Aristoteles: Zweite Analytiken oder: Lehre vom Erkennen. Leipzig [o.J.], S. 31-34.
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