Sechstes Kapitel

[37] Bei Gegenständen, denen nothwendig eine von zwei Bestimmungen einwohnen muss, w.z.B. dem Menschen die Krankheit oder die Gesundheit, kann man, wenn man in Bezug auf die eine Bestimmung den bejahenden oder verneinenden Satz leicht begründen kann, es auch leicht in Bezug auf die andere. Dieses Mittel ist für das Begründen eben so brauchbar, wie für das Widerlegen; denn[37] wenn man dargelegt hat, dass die eine Bestimmung in dem Gegenstande enthalten ist, so wird man auch dargelegt haben, dass die andere nicht in ihm enthalten ist, und hat man bewiesen, dass die eine nicht in ihm enthalten ist, so hat man zugleich bewiesen, dass die andere in ihm enthalten ist. Es erhellt also, dass dieses Mittel zu beiden benutzt werden kann.

Auch lässt sich mitunter ein Angriff ausführen, wenn man statt des Namens des Gegenstandes seinen Begriff einführt, weil er den Gegenstand besser ausdrücke als der Name nach seinem gegenwärtigen Gebrauch; so ist der Tapfere nicht wohlgemuth in dem Sinne, wie man dies letztere Wort gemeiniglich gebraucht, sondern er hat ein sich wohl verhaltendes Gemüth; ebenso ist das »hoffnungsvoll« in das »Gutes hoffende« umzuwandeln, und das »glücklich« ist in das »dessen Dämon gut ist« umzuwandeln, denn Xenokrates sagt, dass nur der glücklich sei, welcher eine gute Seele habe, denn die Seele sei eines Jeden Dämon.

Da von den Dingen manches nothwendig ist, anderes meistentheils sich so verhält und wieder anderes so wie es sich trifft, so giebt der Gegner immer eine Gelegenheit zum Angriff, wenn er etwas Nothwendiges als ein meistentheils Eintretendes behauptet, oder wenn er das nur meistentheils Eintretende als ein Nothwendiges behauptet, sei es das meistentheils Eintretende selbst, oder dessen Gegentheil. Denn wenn er das Nothwendige als ein meistentheils Eintretendes aussagt, so erkennt er damit an, dass es nicht in allen hierher gehörenden Dingen enthalten ist, obgleich es doch als ein nothwendiges in allen enthalten sein muss, und er hat somit gefehlt. Stellt er aber das meistentheils Eintretende als ein Nothwendiges auf, so behauptet er, dass es in allen enthalten sei, obgleich es nicht in allen enthalten ist. Ebenso verhält es sich, wenn er das Gegentheil von dem meistentheils Eintretenden für nothwendig erklärt, denn das Gegentheil desselben gilt immer für noch wenigere Fälle; sind z.B. die Menschen meistentheils schlecht, so sind der guten Menschen weniger als der schlechten, und der Gegner hat dann noch gröber gefehlt, wenn er die Menschen für nothwendig gut erklärt. Ebenso verhält es sich, wenn er das Zufällige für nothwendig, oder für meistentheils[38] eintretend erklärt, denn das Zufällige ist weder ein nothwendiges, noch ein meistentheils Eintretendes. Auch kann man, wenn der Gegner nicht bestimmt hat, ob er seinen Satz als einen nothwendigen oder nur als einen meistentheils gültigen behauptet, derselbe aber in Wahrheit nur ein meistentheils gültiger ist, gegen ihn so auftreten, als hätte er den Satz wie einen nothwendigen aufgestellt; z.B. wenn er ohne solche Unterscheidung die enterbten Söhne für schlecht erklärt, so kann man die Erörterung gegen ihn so führen, als hätte er den Satz wie einen nothwendigen aufgestellt.

Auch muss man darauf achten, ob jemand in einem Satze von Etwas dasselbige Etwas als ihm zukommend aussagt, indem er meint, es sei verschieden, weil es als Prädikat einen anderen Namen hat. So theilte Prodikos die Lust ein in die Freude, das Vergnügen und in den Frohsinn; allein dies sind alles Namen desselben Gegenstandes, nämlich der Lust. Wenn daher jemand sagt, dass dem Frohsinn die Freude als ein Nebensächliches einwohne, so würde er damit behaupten, dass etwas sich selbst nebensächlich einwohne.

Quelle:
Aristoteles: Die Topik. Heidelberg 1882, S. 37-39.
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