Neuntes Capitel

[231] Daß aber unter den räumlichen Bewegungen die Kreisbewegung erste ist, ist klar. Alle Raumbewegung nämlich ist, wie wir auch vorhin sagten, entweder im Kreise, oder auf gerader Linie, oder gemischt. Früher aber als diese müssen jene sein; denn aus jenen besteht sie. Als die gerade aber, die im Kreise; denn einfacher ist sie und vollkommener. Unbegrenzt nämlich kann nichts nach gerader Linie sich bewegen. Denn ein solchergestalt Unbegrenztes giebt es nicht. Aber auch nicht, wenn es eines gäbe, bewegt sich etwas so. Denn nicht geschieht das Unmögliche. Zu durchgehen aber die unbegrenzte Linie ist unmöglich. Die Bewegung aber auf der begrenzten Geraden durch Umlenken zwar ist zusammengesetzt, und vielmehr zwei Bewegungen; ohne Umlenken aber, unvollständig und vergänglich. Vorangehende aber sowohl der Natur, als dem Begriffe, als auch der Zeit nach, ist das Vollkommene vor dem Unvollkommnen, und vor dem Vergänglichen das Unvergängliche. Und vorangehend ist, die ewig sein kann vor der, die es nicht kann. Die im Kreise nun kann ewig sein, von den andern aber weder eine Raumbewegung, noch irgend eine andere. Denn Stillstand muß eintreten; wenn aber Stillstand, so ist verschwunden die Bewegung.


Folgerecht aber ergab es sich, daß die im Kreise eine einige sei und stetige, und nicht die auf gerader Linie. Denn von der geradlinigen ist bestimmt sowohl Anfang, als Mittel, als Ende, und alles hat sie in sich. Also giebt es etwas, wovon die Bewegung beginnt, und worin sie endet. Denn bei den Grenzen ruht Alles, sowohl woher[231] als wohin. Bei der Kreisbewegung aber ist dieß unbestimmt. Denn warum sollte irgend etwas vorzugweise Grenze sein in dieser Linie? Auf gleiche Weise nämlich ist jedes sowohl Anfang, als Mitte, als Ende: so daß stets etwas ist am Anfang und am Ende, und niemals. Darum bewegt sich und ruht auf gewisse Art die Kugel: denselben Raum nämlich nimmt sie ein. Grund aber ist, daß alles dieses dem Mittelpuncte anhängt; denn sowohl Anfang, als Mitte der Ausdehnung, als auch Ende ist er. Also weil dieser außerhalb des Umkreises ist, so giebt es keinen Ort, wo das Bewegte ruhen kann, als sei es hindurchgekommen. Denn stets bewegt es sich um die Mitte, aber nicht nach dem Letzten. Darum steht still und ruht gewissermaßen das Ganze, und bewegt sich stetig. Es folgt aber dieses gegenseitig aus einander. Nämlich weil Maß der Bewegungen der Kreisumschwung ist, so muß er erste sein. Denn Alles wird gemessen durch das Erste. Und weil er Erstes ist, ist er Maß der anderen. – Ferner auch gleichmäßig kann allein die im Kreise sein. Das nämlich auf gerader Linie bewegt sich ungleichmäßig von dem Anfange aus, und nach dem Ende hin. Denn Alles, je weiter es sich entfernt von dem Ruhenden, desto schneller bewegt es sich. Von der aber im Kreise allein ist weder der Anfang noch das Ende in ihr enthalten; sondern außer ihr.


Daß nun die Bewegung im Raume erste der Bewegungen ist, bezeugen Alle, welche der Bewegung gedacht haben. Die Anfänge nämlich derselben schreiben sie demjenigen zu, was eine solche Bewegung hervorruft. Scheidung nämlich und Vereinigung sind Bewegungen im Raume. Auf diese Art aber bewegen die Freundschaft und die Feindschaft: denn die eine von ihnen scheidet, die andere vereinigt. Und auch von dem Gedanken sagt Anaxagoras, er schied, da er zuerst bewegte. Gleicherweise auch diejenigen, welche eine solche Ursache zwar nicht nennen, aber,[232] daß durch das Leere bewegt werde, sagen. Auch diese nämlich sagen, daß auf räumliche Art die Natur sich bewege. Denn die Bewegung durch das Leere ist Ortveränderung, und im Raume. Von der andern aber glauben sie, daß keine dem, was das Erste ist, zukomme, sondern nur dem, was aus diesem. Wachsthum nämlich und Abnahme und Umbildung geschehe, indem sich vereinigen und trennen die untheilbaren Körper, sagen sie. Auf dieselbe Weise auch diejenigen, welche aus Dichtigkeit und Dünne Entstehung und Untergang herleiten. In Verbindung nämlich und Scheidung lassen sie dieß geschehen. Ferner auch zu diesen die, welche die Seele Ursache der Bewegung sein lassen. Was nämlich sich selbst bewege, sagen sie, sei Anfang des Bewegten. Es bewegt aber das Thier, und alles das Beseelte die Selbstbewegung im Raume. Und eigentlich sagen wir nur, es bewegt sich, von dem, was in dem Raume sich bewegt. Sobald es aber in dem nämlichen Raume ruht, aber wächst oder abnimmt, oder vielleicht sich umbildet, sagen wir, es bewege sich gewissermaßen; daß es schlechthin sich bewege aber nicht. – Daß nun immer Bewegung war, und sein wird alle Zeit hindurch, und welches Anfang der ewigen Bewegung, ferner, welches erste Bewegung ist, und welche Bewegung allein nur ewig sein kann, und daß das zuerst Bewegende ein Unbewegliches, ist gesagt worden.

Quelle:
Aristoteles: Physik. Leipzig 1829, S. 231-233.
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