4. Prius und Posterius, Vermögen und Unvermögen

[300] Ein Prius und Posterius, Vorausgehendes und Nachkommendes, Abgeleitetes, unterscheidet man das eine Mal, sofern in jeder Gattung ein Erstes und ein Ausgangspunkt angenommen wird, danach, wie etwas dem bestimmten Ausgangspunkt näher steht, sei es daß der Ausgangspunkt schlechthin und der Natur der Sache nach gegeben sei, oder daß er nur in relativem Sinne, räumlich oder nur auf jemandes Veranstaltung hin gelte. So ist etwas das Vorausgehende in räumlichem Sinne dadurch, daß es entweder einem durch die Sache selbst gegebenen bestimmten Orte, etwa der Mitte oder dem Rande, oder sonst einem beliebigen Orte näher liegt, und was weiter abliegt,[300] ist dann das Nachkommende. Anders unter dem Gesichtspunkte der Zeit. Da heißt vorausgehend, was dem gegenwärtigen Zeitpunkt ferner liegt; so bei Vergangenem. Den Perserkriegen gegenüber ist der trojanische Krieg als von der Gegenwart weiter zurückliegend das Vorausgehende. Oder auch das was der Gegenwart näher liegt; so bei zukünftigen Ereignissen. Den pythischen Spielen gegenüber sind die nemëischen, weil sie der Gegenwart näher liegen, das Vorausgehende, sofern man den gegenwärtigen Zeitpunkt zum Ausgangspunkt und Anfang nimmt. Wieder anders unter dem Gesichtspunkte der Bewegung. Denn hier heißt vorausgehend, was der ersten Ursache der Bewegung näher liegt, wie der Knabe im Vergleich mit dem Manne. Auch hier ist der Ausgangspunkt schlechthin gegeben. Anders wieder unter dem Gesichtspunkte des Vermögens. Denn hier heißt vorausgehend das was dem Vermögen nach das Überwiegende ist, das Mächtigere. Dahin gehört das, worauf nach ausdrücklichem Vorsatz das Ändere, das Nachkommende, notwendig folgen muß, so daß dieses keine Bewegung erfährt, wo nicht jenes es in Bewegung setzt, aber wohl, wenn jenes den Anstoß gibt. Der Ausgangspunkt ist hier der ausdrückliche Vorsatz. Anders wieder unter dem Gesichtspunkte der Ordnung. Hier handelt es sich um solches, was auf eine bestimmte Einheit bezogen von dieser einen verhältnismäßigen Abstand hat; so ist der Nebenmann der Vorausgehende im Verhältnis zum dritten Manne, und die vorletzte Saite das Vorausgehende im Verhältnis zur letzten Saite. Denn dort gilt der Chorführer und hier die mittlere Saite als Ausgangspunkt.

Dieses nun bedeutet das Prius in den bezeichneten Fällen. In anderem Sinne heißt etwas das Prius für die Erkenntnis, und wird dann als das genommen, was zugleich schlechthin das Prius ist; dabei ist es etwas anderes, ob es sich um begrifflichen Zusammenhang oder um sinnliche Wahrnehmung handelt. Denn wo es sich um begrifflichen Zusammenhang handelt, ist das Prius das Allgemeine; wo es sich um sinnliche Wahrnehmung handelt, ist es das Einzelne. Zugleich ist bei der Frage nach dem Begriff die dem Gegenstande zufallende Bestimmung das Prius für die ganze Aussage; so ist gebildet das Prius im Vergleich mit dem gebildeten Menschen. Denn die ganze Aussage würde nicht stattfinden können ohne den Teil. Freilich kann auch von gebildet nicht die Rede sein, wenn nicht irgend jemand da ist, der gebildet heißen darf.

Ferner werden als Prius auch die Beschaffenheiten bezeichnet, die dem was als Prius gilt zukommen; so ist das Geradesein das Prius für das Glattsein,[301] sofern jenes die Beschaffenheit der Linie als solcher, dieses die der Fläche ist.

Dies also wird als Prius und Posterius in diesem Sinne bezeichnet, anderes wieder im Sinne der Sache selbst und ihres Wesens, nämlich das was sein kann ohne das andere, während dieses ohne das andere nicht sein kann. Von dieser Unterscheidung hat Plato Gebrauch gemacht. Da aber das Sein viele Bedeutungen hat, so ist zunächst ein Prius das Substrat, mithin das selbständig Seiende, sodann in anderem Sinne ist ein Prius das Potentielle und das Aktuelle. Das eine Mal ist etwas das Prius der Potentialität nach, das andere Mal der Aktualität nach. So ist im Sinne der Potentialität die Hälfte das Prius für die ganze Linie, der Teil das Prius für das Ganze, die Materie das Prius für das selbständig Seiende; dagegen der Aktualität nach sind sie das Posterius. Denn erst wenn der Gegenstand sich aufgelöst hat, hat jenes ein Sein im Sinne der Aktualität.

In gewissem Sinne also läßt sich jedesmal die Bezeichnung von etwas als Prius und als Posterius auf diese letzte Bedeutung zurückführen. Denn wo es sich um Entstehung handelt, da kann das eine sein ohne das andere, so das Ganze ohne die Teile; und ebenso wo es sich um das Vergehen handelt, der Teil ohne das Ganze. Und ebenso ist es in den anderen Fällen.

Vermögen, Dynamis, nennt man den Grund der Bewegung oder Veränderung, die in einem anderen oder in dem was als ein anderes genommen wird, sich vollzieht. So ist die Baukunst ein Vermögen, das doch nicht in dem Bauwerk selbst vorhanden ist; die Heilkunst dagegen, die gleichfalls ein Vermögen ist, kann wohl in dem Patienten vorhanden sein, nur nicht in ihm sofern er Patient, sondern Arzt ist. Überhaupt wird als Vermögen bezeichnet einerseits der Grund der Veränderung oder Bewegung in einem anderen oder einem als anderes Genommenen; andererseits aber der Grund der Veränderung oder Bewegung durch ein anderes oder ein als anderes Genommenes. Denn auch, daß etwas eine Einwirkung erleidet, schreiben wir einem Vermögen zu, einerseits gleich viel, welches die Einwirkung sei, andererseits nicht bei jeder Art von Einwirkung, sondern nur wenn diese eine Vervollkommnung bedeutet. Ein Vermögen ist ferner die Fähigkeit, etwas in rechter Weise oder nach bewußtem Vorsatz zu vollbringen. Denn es kommt vor, daß wir, wenn einer bloß geht oder spricht, aber nicht in der rechten Weise oder so wie er es sich vorgenommen hat, einem solchen das Vermögen zu gehen oder zu sprechen nicht zuerkennen. Und das Gleiche gilt auch dem Erleiden einer Einwirkung gegenüber.[302]

Weiter werden Vermögen genannt die dauernden Beschaffenheiten, vermöge deren etwas einer Einwirkung oder Veränderung völlig unzugänglich oder doch der Veränderung zum Schlimmeren nicht leicht ausgesetzt ist. Denn zerbrochen, zerrieben, verbogen, überhaupt ruiniert wird etwas nicht infolge eines Vermögens, sondern eines Unvermögens und einer Mangelhaftigkeit. Was für solche Einwirkung nicht zugänglich ist, das erleidet sie kaum und in geringerem Grade, eben infolge seines Vermögens, seiner Macht und bestimmten Beschaffenheit.

Wenn nun in so vielfacher Bedeutung von Vermögen gesprochen wird, so wird auch mit Vermögen begabt in einem Sinne das heißen, was den Grund enthält für die Bewegung und Veränderung eines anderen oder als anderes genommenen; und ein solches ist dann auch das was Stillstand bewirkt. In anderem Sinne heißt etwas mit Vermögen begabt, wenn ein anderes solche Macht über es besitzt; wieder in anderem Sinne, wenn es das Vermögen hat, irgend welche beliebige Veränderung zu erleiden, sei es zum Schlimmeren, sei es zum Besseren; denn auch was zerstört wird gilt dafür, ausgestattet zu sein mit dem Vermögen zerstört zu werden. Es würde nicht zerstört werden, wenn es nicht das Vermögen dazu hätte; nun aber hat es eine gewisse Beschaffenheit, einen Grund und Ursache für das Erleiden einer solchen Einwirkung. Bald also ist es ein Besitzen, bald ein Ermangeln was den Grund dafür bildet, daß man einem Gegenstande ein Vermögen zuschreibt. Nimmt man aber das Nichthaben auch in gewissem Sinne für ein Haben, so würde jegliches mit Vermögen begabt sein durch ein Haben, und der gleiche Name für alles passen. Es hieße also etwas mit einem Vermögen ausgestattet deshalb, weil es eine dauernde Beschaffenheit und einen Grund in sich hat, und ebenso dadurch daß es das Nichthaben der Beschaffenheit und des Grundes an sich hat, sofern es möglich ist ein Nichthaben zu haben. Wieder in anderem Sinne heißt etwas mit Vermögen begabt deshalb, weil nichts anderes oder solches was als anderes genommen ist, die Macht oder den Grund enthält, jenes zu zerstören. Und weiter gelten alle diese Bedeutungen entweder sofern es sich überhaupt um ein Geschehen oder Nichtgeschehen, oder sofern es sich um ein Geschehen in rechter Weise handelt. Denn auch bei unbelebten Dingen gibt es ein Vermögen in diesem Sinne, so z.B. bei Instrumenten. Von der einen Lyra sagt man, sie habe das Vermögen des Klanges, von der anderen nicht, nämlich wenn sie nicht wohl lautet.

Unvermögen heißt das Nichthaben eines Vermögens und eines Grundes in dem eben bezeichneten Sinne, entweder schlechthin, oder bei einem[303] Gegenstande, der eigentlich seiner Natur nach das Vermögen haben sollte, oder auch in dem Zeitpunkte, wo er es eigentlich haben sollte. Man nennt zeugungsunfähig nicht im gleichem Sinne einen Knaben, einen Mann und einen Verschnittenen. Beiden Arten des Vermögens steht ein entsprechendes Unvermögen gegenüber, sowohl dem Vermögen des bloßen Bewegens wie dem des Bewegens in rechtem Sinne. Unvermögend nun heißt etwas entweder im Sinne dieser Bedeutung von Unvermögen, oder in anderer Bedeutung, so wie das Mögliche dem Unmöglichen gegenübersteht. Unmöglich ist das, von dem das Gegenteil notwendig wahr ist. So ist es unmöglich, daß die Diagonale der Seite kommensurabel sei, weil der Satz falsch ist, dessen Gegenteil, nämlich daß die Diagonale nicht kommensurabel ist, nicht nur tatsächlich wahr, sondern notwendig wahr ist. Daß sie kommensurabel sei, ist also nicht bloß falsch, sondern es ist notwendig falsch. Das Gegenteil davon, das Mögliche, ergibt sich dann, wenn das Gegenteil nicht notwendig falsch ist. So ist es möglich, daß ein Mensch sitze; denn daß er nicht sitze, ist nicht notwendig falsch. Also bedeutet das Mögliche in dem einen Sinne, wie gesagt, das nicht notwendig Falsche, in anderem Sinne das tatsächlich Wahre, und wieder in anderem Sinne das Wahrseinkönnen. In der Mathematik wird das Wort Dynamis für Potenz in übertragenem Sinne gebraucht.

Diese Bedeutungen des Wortes »möglich« haben keine Beziehung auf den Begriff des Vermögens. Wo aber die Beziehung auf das Vermögen gemeint ist, da meint man Vermögen immer in dem einen, dem ursprünglichen Sinne, d.h. als Grund der Veränderung in einem anderen oder einem als anderes genommenen Gegenstande. Denn das andere heißt vermögend entweder deshalb weil ein drittes ein solches Vermögen der Einwirkung besitzt, oder weil es dasselbe nicht besitzt oder es in dieser bestimmten Weise besitzt. Die gleiche Bedeutung hat es, wenn man etwas unvermögend nennt. Die Grundbedeutung des Vermögens in ursprünglichem Sinne ist also immer die des Grundes der Veränderung in einem anderen oder als anderes genommenen Gegenstande.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 300-304.
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