6. Vollendet, Grenze, Bestimmtheit, Privation

[308] Vollendet nennt man einmal das, zu dem man auch nicht das kleinste Teilchen von außen hinzuzunehmen braucht; so ist die Zeit eines jeden[308] Gegenstandes dann vollendet, wenn man zu ihr kein weiteres Zeitteilchen außer ihr hinzuzufügen hätte, das noch als Teil zu dieser Zeit gehörte. Weiter aber heißt vollendet auch das, was in bezug auf Tüchtigkeit und rechte Beschaffenheit ein noch Höheres in seiner Gattung nicht zuläßt; so ist einer ein vollendeter Arzt und ein vollendeter Flötenspieler, wenn er an der eigentümlichen Tüchtigkeit in seinem besonderen Fach nichts zu wünschen übrig läßt. So können wir dann den Begriff auch auf das Schlechte übertragen. Wir sprechen von einem vollendeten Denunzianten und einem vollendeten Dieb, wie wir ja auch solchen Leuten ihre Art von Tüchtigkeit zuschreiben und z.B. einen als Musterdieb und Musterdenunzianten bezeichnen; solche Tüchtigkeit ist eben auch eine Art Vollkommenheit. Denn jegliches Ding ist dann vollendet, und jedes begriffliche Wesen ist dann vollendet, wenn je nach der besonderen Art der hier in Betracht kommenden rechten Beschaffenheit an der der Natur der Sache entsprechenden Größe kein Teilchen fehlt.

Weiter wird das vollendet genannt, was einem bil ligenswerten Zwecke dient. Denn die Bezeichnung vollendet teleion erhält etwas nach dem Endzweck telos, dem es dient. Da nun dieses, der Endzweck, ein Äußerstes ist, so übertragen wir das auch auf das Schlechte und sagen, etwas sei vollkommen zugrunde gerichtet, vollkommen vernichtet, wenn an der Vernichtung und an dem Unheil gar nichts fehlt, sondern das Äußerste wirklich eingetreten ist. Deshalb wird in übertragenem Sinne auch der Tod als ein Endziel bezeichnet, weil beide ein Letztes sind. Endziel bedeutet aber weiter auch den letzten Zweck.

Was also als an sich vollendet bezeichnet wird, das meint man in diesen verschiedenen Bedeutungen, das eine deshalb, weil es an der rechten Beschaffenheit nichts vermissen läßt und kein Überbieten oder Hinzunehmen von außen zuläßt, das andere deshalb, weil jedesmal in dieser Gattung überhaupt darüber hinauszugehen und von außen etwas hinzuzufügen nicht möglich ist. Das andere aber wird demgemäß als vollendet deshalb bezeichnet, weil es solches wie das Bezeichnete bewirkt oder an sich hat oder damit zusammenstimmt oder irgendwie mit dem was ursprünglich als vollendet bezeichnet wird im Zusammenhange gedacht wird.

Grenze heißt was jedesmal am Gegenstande das Letzte ist, also das Erste, außerhalb dessen kein Teil des Gegenstandes gefunden werden kann, und das Erste, innerhalb dessen alles was zum Gegenstande gehört gefunden wird. Grenze heißt ferner dasjenige, was die Form der Ausdehnung[309] oder dessen was eine Ausdehnung hat, bildet; sodann das Ziel eines jeden Gegenstandes, also ein solches, in der Richtung auf welches hin, nicht von welchem her, die Bewegung und die Tätigkeit sich vollzieht, bisweilen aber auch beides zusammen, Ausgangspunkt und Zielpunkt zugleich; ferner der Zweck, und das was jedesmal das Wesen des Gegenstandes, seine bleibende begriffliche Bestimmtheit bildet. Denn dieses macht die Grenze der Erkenntnistätigkeit, und wenn die der Erkenntnistätigkeit, auch die des Gegenstandes aus. Es leuchtet somit ein, daß das Wort Grenze in ebenso vielen Bedeutungen gebraucht wird wie das Wort Anfang, Prinzip, ja in noch mehreren. Denn Prinzip, Ausgangspunkt, heißt Grenze, Grenze aber nicht immer auch Prinzip.

Der Ausdruck sofern wird in vielen Bedeutungen gebraucht. Er bezieht sich zunächst auf die Form und Wesenheit eines Gegenstandes; man sagt z.B. sofern der Gute gut ist, und meint damit das Gute selbst. In anderem Sinne bezieht sich der Ausdruck auf das Ursprüngliche, woran die Erscheinung ihrer Natur nach vorkommt, wie z.B. die Farbe an einer Fläche auftritt. Das Insofern, das wir an erster Stelle genannt haben, bedeutet die Form, das an zweiter Stelle genannte die jedesmalige Materie des Dinges, und sein ursprüngliches Substrat. Überhaupt kommt das Insofern in ebensovielen Bedeutungen vor wie der Begriff des Grundes. So fragt man: in welchem Sinne ist er gekommen, und meint damit: zu welchem Zwecke ist er gekommen; oder: inwiefern ist ein falscher oder auch ein richtiger Schluß gezogen worden, und meint damit: was ist der Grund des richtigen oder des falschen Schließens gewesen. So gebraucht man den Ausdruck auch, wo von der räumlichen Lage eines Gegenstandes die Rede ist: sofern einer steht oder geht, alles Ausdrücke, die sich auf Lage oder Ort beziehen.

Darum wird denn auch der Ausdruck »an und für sich« notwendigerweise mehrere Bedeutungen haben. Das an und für sich ist in dem einen Sinne die begriffliche Wesensbestimmtheit des Gegenstandes, wie Kallias an und für sich Kallias und dies die Wesensbestimmtheit des Kallias ist; dann aber ist es auch das als Merkmal in dem Wesensbegriff Enthaltene; so ist Kallias an und für sich ein lebendes Wesen, weil lebendes Wesen zu sein in seinem Begriffe liegt und Kallias sein Sein als lebendes Wesen hat. Ferner kommt dem Gegenstande das an und für sich auch dann zu, wenn er das Ursprüngliche ist, was etwas in sich oder in dem was zu ihm gehört aufgenommen hat; so ist eine Oberfläche an und für sich weiß, und der Mensch hat an und[310] für sich Leben. Denn die Seele ist des Menschen Bestandteil, und sie ist das Ursprüngliche, was Leben hat. Und so ist auch das an und für sich, was auf keinen weiteren Grund zurückführt. Denn daß einer Mensch sei, dazu kommen viele Bestimmungen zusammen: lebendes Wesen, mit zwei Beinen versehen; dennoch ist der Mensch ein Mensch an und für sich. Endlich ist an und für sich das was dem Gegenstande, und ihm allein, zukommt und sofern es ihm allein zukommt, weil damit der Gegenstand als ein gesondert Existierendes an und für sich charakterisiert wird.

Diathese, Disposition diathesis heißt bei dem, was Teile hat, die Anordnung, teils in räumlichem Sinne, teils der Bedeutsamkeit, teils der Form nach. Zugrunde liegt dabei eine Position, ein Gesetztsein thesis wie schon der Name diathesis zeigt.

Unter Habitus hexis dagegen versteht man einerseits eine Wirksamkeit, wie die wo das eine etwas hat, das andere Gegenstand dieses Habens ist; so bei einer Tätigkeit oder Bewegung; denn wo das eine hervorbringt, das andere hervorgebracht wird, da gibt es dazwischen eine Tätigkeit des Hervorbringens, und ebenso zwischen dem der ein Kleidungsstück hat und dem Kleidungsstück das er hat, ein Verhältnis des Habens. So viel nun ist klar, daß man diese Art von Verhältnis des Habens nicht wieder haben kann; denn wenn man jedesmal wo man etwas hat, auch das Haben wieder haben könnte, so geriete man in den Fortgang ins Unendliche, in anderem Sinne heißt Habitus die Beschaffenheit, der zufolge ein Eingerichtetes wohl oder übel eingerichtet ist, und dies entweder an und für sich oder in bezug auf anderes. So ist die Gesundheit ein Habitus: denn sie ist eine Beschaffenheit von der bezeichneten Art. Endlich gebraucht man das Wort Habitus, hexis, auch für das, was einen Bestandteil einer derartigen Beschaffenheit bildet. In diesem Sinne bedeutet auch die vorzügliche Beschaffenheit der Bestandteile einen Habitus.

Unter Bestimmtheit pathos versteht man einmal eine Eigenschaft, Affektion, in bezug auf welche der Gegenstand einer Veränderung ausgesetzt ist, z.B. weiß und schwarz, süß und bitter, schwer und leicht, und dergleichen mehr; dann aber versteht man darunter auch die wirklichen Vorgänge und die in diesen Beziehungen eingetretenen Veränderungen, insbesondere diejenigen Veränderungen und Bewegungen, welche dem Gegenstande schädlich sind, und am häufigsten die Schädigungen von schmerzlicher Art. Endlich werden mit dem gleichen Worte auch Unfälle und schmerzliche Erfahrungen von besonderer Größe bezeichnet.[311]

Von Privation, Entbehren, Beraubtsein sterêsis spricht man erstens da, wo ein Gegenstand das nicht hat, was von Natur dazu geeignet ist, daß ein Gegenstand es habe, und das auch dann, wenn nicht der Gegenstand selbst es eigentlich haben sollte; so sagt man von der Pflanze aus, sie entbehre esterêsthai der Augen. Ferner aber auch da, wo der Gegenstand, und zwar entweder er selbst, oder die Gattung, zu der er gehört, das nicht hat, was er seiner Natur nach haben sollte; so entbehrt der blinde Mensch des Augenlichtes in anderem Sinne als der Maulwurf, der letztere wegen der Gattung, der er angehört, jener als dieser einzelne. Ferner aber auch dann, wenn der Gegenstand nicht hat, was zu haben zu seiner Natur gehört und zu der Zeit, wo es zu seiner Natur gehört. Denn Blindheit ist eine Privation, blind aber ist einer nicht in jedem Lebensalter, wo er das Augenlicht nicht hat, sondern in dem, wo er es eigentlich haben sollte. Ebenso ist es mit dem Orte wo, mit dem Teile an dem, mit der Beziehung in welcher, mit der Art in der, etwas nicht hat, was zu seiner Natur gehört. Und so wird ferner auch die gewaltsame Entziehung eines Besitzes eine Privation genannt. In ebenso vielen Bedeutungen, wie man die Negation mit Hilfe der Vorsilbe »un« oder der Endsilbe »los«, mit α privativum, ausdrückt, spricht man auch von Arten der Privation. So heißt ungleich etwas davon, daß es die Gleichheit nicht hat, die zu seiner Natur gehört, unsichtbar auch davon, daß es schlechterdings keine oder doch nur eine undeutliche Farbe hat, und fußlos auch davon, daß es überhaupt keine Füße oder solche von schlechter Beschaffenheit hat. Und so bezeichnet die Privation überhaupt auch dies, daß der Gegenstand etwas nur in kümmerlicher Weise hat; z.B. kernlos heißt ein Granatapfel, der Kerne von dürftiger Art hat; oder sie bezeichnet, daß man etwas nicht leicht oder nicht gut an dem Gegenstande vornehmen kann; so heißt unzertrennlich nicht bloß das was gar nicht zu zertrennen ist, sondern auch was sich nicht leicht oder nicht gut zertrennen läßt. Endlich bezeichnet die Privation, daß dem Gegenstande etwas schlechterdings fehlt. So heißt blind nicht der Einäugige, sondern wer auf beiden Äugendes Lichtes beraubt ist. Darum gilt es nicht, daß jeder Mensch entweder gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht wäre, sondern es gibt auch Zwischenstufen.

Mit dem Worte haben, halten, bezeichnet man mehrere Verhältnisse. Erstens heißt es soviel wie seiner eigenen Natur oder seinem inneren Triebe gemäß einen Gegenstand treiben, ihn in einen Zustand versetzen. So sagt man wohl, das Fieber habe den Menschen und der Herrscher den Staat, und das Kleidungsstück habe der, der es trägt. Andererseits bezeichnet haben, daß[312] etwas an einem dafür Empfänglichen vorhanden ist, wie das Erz die Form der Bildsäule und der Leib die Krankheit hat. Dann bedeutet »haben« auch das Verhältnis des Umfassenden zum Umfaßten. Man sagt, dasjenige habe etwas, was dieses in sich enthält, wie das Gefäß die Flüssigkeit, die Stadt die Bewohner, das Schiff die Mannschaft, und so auch das Ganze die Teile. Dann aber sagt man auch von dem, was etwas daran hindert, sich seinem eigenen Triebe gemäß zu bewegen oder zu betätigen, es habe, halte eben dieses, wie eine Säule die darauf ruhende Last, oder wie Atlas bei den Poeten den Himmel hält, der sonst auf die Erde herabstürzen würde; eine Vorstellung übrigens, die man ähnlich auch bei Naturphilosophen finden kann! In demselben Sinne sagt man auch von dem was zusammenhält, es habe, halte, weil ihrem eigenen Triebe gemäß die Dinge auseinanderfallen würden. In demselben Sinne nun und im Anschluß an die Bedeutung des Wortes »haben« sagt man dann auch, etwas sei in einem anderen.

Quelle:
Aristoteles: Metaphysik. Jena 1907, S. 308-313.
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