4. Das freie Wollen

[52] Da den eigentlichen Inhalt des Wollens der Zweck bildet, das was man beschließt und im Vorsatz erfaßt aber die Mittel zum Zweck betrifft, so ergibt sich, daß die daraus entspringenden Handlungen einem Vorsatz entsprechen[52] und mithin frei gewollt sind. Gerade solche Handlungen nun bilden das Gebiet der Sittlichkeit. Das Sittliche liegt demnach ebenso wie das Unsittliche in unserer Macht. Denn da wo das Handeln bei uns steht, steht bei uns auch das Unterlassen, und umgekehrt, wo das Unterlassen, da steht auch das Handeln bei uns. Liegt es also in unserer Gewalt zu tun was edel ist, so liegt es auch in unserer Gewalt zu unterlassen was verwerflich ist, und steht es bei uns zu unterlassen was edel ist, so steht es auch bei uns zu tun was niedrig ist Haben wir aber die Gewalt, das Edle und das Verwerfliche zu tun und ebenso es zu unterlassen, / und das hieß doch so viel wie gut oder schlecht zu sein, / so steht es also auch in unserer Gewalt, edel und niedrig gesinnt zu sein. Wenn es also heißt:


»Mit Willen schlecht ist keiner, noch ungern beglückt,«


so darf man das erste als falsch, und nur das zweite als wahr bezeichnen. Denn glücklich ist in der Tat niemand wider seinen Willen; aber Schlechtigkeit stammt aus dem freien Wollen. Sonst müßte man das eben Erörterte in Zweifel ziehen und dürfte nicht sagen, daß der Mensch der Ursprung und Urheber seiner Handlungen ist, wie er der Erzeuger seiner Kinder ist. Ist das nun ausgemacht, und geht es nicht an, unsere Handlungen auf andere Ursachen zurückzuführen als die in uns liegenden, so wird das, dessen Ursachen in uns liegen, auch selbst in unserer Macht stehen und Sache des freien Wollens sein.

Dafür, scheint es, zeugt denn auch die eigene Erfahrung eines jeden einzelnen wie das Verfahren der Gesetzgeber. Diejenigen die Böses tun straft und züchtigt man, sofern sie nicht durch Zwang oder Irrtum unverschuldet auf Abwege geraten; dagegen ehrt und belohnt man diejenigen, die recht handeln, beides doch in der Absicht, die einen anzufeuern, die anderen abzuschrecken. Und doch feuert man niemand an, das zu tun, was nicht in unserer Macht noch in unserem freien Willen steht, offenbar weil es zu nichts dienen würde jemanden zu überreden, er möchte doch Wärme, Frost, Hunger oder sonst etwas dergleichen nicht empfinden: denn solche Empfindungen würde er darum doch nicht weniger haben. Selbst für einen Irrtum erleidet einer Strafe, wenn sein Irrtum verschuldet erscheint; so setzt man auch wohl für Handlungen, die in der Trunkenheit begangen worden sind, die Strafe doppelt so hoch an, weil der Täter die Schuld an der Trunkenheit selbst trägt. Denn er wäre Herr genug gewesen, die Trunkenheit zu vermeiden; diese aber ist dann zur Ursache seines Irrtums geworden. So bestraft man auch die Unkenntnis gesetzlicher Bestimmungen,[53] die einer kennen muß und deren Kenntnis ohne Schwierigkeit zu erlangen war. Das gleiche geschieht auch sonst da, wo die Unkenntnis durch Fahrlässigkeit verschuldet ist, sofern es in der Macht der Menschen stand die Unkenntnis zu meiden; denn sie waren Herren darüber sich sorgfältig danach umzutun.

Nun sagt man ja vielleicht: es hat aber einer nun einmal die Natur, daß er keine Sorgfalt darauf verwendet. Dann aber ist er eben schuld daran, daß er durch sorgloses In-den-Tag-hinein-leben diese Natur angenommen hat. Wenn die Menschen ungerecht oder ausschweifend geworden sind, so haben sie es selbst verschuldet, die einen dadurch, daß sie fremdes Recht verletzten, die anderen dadurch, daß sie ihre Tage mit Trinkgelagen und ähnlichen Vergnügungen verbrachten. Denn wie der Mensch sich im einzelnen Fall benimmt, danach gestaltet sich sein Charakter. Dafür dienen als Zeugnis diejenigen, die sich für einen Wettkampf oder sonst ein Geschäft einüben; solche Leute bleiben unausgesetzt bei derselben Tätigkeit. Nur ein völlig einsichtsloser Mensch kann die Tatsache verkennen, daß Fertigkeit sich in jedem Fache nur als Frucht der Übung ergibt.

Ebenso hat es keinen Sinn, daß wer ungerecht handelt nicht den Willen ungerecht zu sein, und wer Ausschweifungen begeht, nicht den Willen ausschweifend zu sein haben soll. Ist es aber so, daß einer die Handlungen, durch die er ein ungerechter Mensch wird, nicht ohne sein Bewußtsein vollbringt, so ist es doch wohl auch Sache seines freien Willens, daß er ein ungerechter Mensch ist; andererseits wird er nicht gleich sobald er es nur will imstande sein seine Ungerechtigkeit abzulegen und dafür die Eigenschaft der Gerechtigkeit anzunehmen. Es ist damit wie bei einem Kranken. Der Kranke wird auch nicht flugs gesund, wenn er es will, auch wenn er, was ganz wohl der Fall sein kann, durch seinen freien Willen, durch ein unenthaltsames Leben und durch Ungehorsam gegen den Arzt sich die Krankheit zugezogen hat. Damals also hätte es noch bei ihm gestanden, nicht krank zu werden; später, als er seine Gesundheit schon vergeudet hatte, nicht mehr; geradeso wenig wie es demjenigen, der einen Stein geschleudert hat, möglich ist ihn wieder zurückzuholen. Und doch stand es bei ihm, den Stein zu schleudern oder ihn ruhen zu lassen; denn der Ursprung der Bewegung lag in ihm. Geradeso stand es auch dem Ungerechten und dem Ausschweifenden ursprünglich frei diese Eigenschaften nicht anzunehmen, und darum sind sie was sie sind durch ihren freien Willen; nachdem sie aber einmal so geworden sind, steht es ihnen nicht mehr frei, nicht so zu sein.[54]

Es sind aber nicht bloß die Fehler geistiger Art, die aus dem freien Wollen stammen; es kommt auch bei leiblichen Uebeln vor, und dann machen wir sie in der Tat den Menschen zum Vorwurf. Entstellungen, die die Natur verursacht, wirft man niemand vor, wohl aber solche, die aus der Unterlassung körperlicher Übung und aus Vernachlässigung stammen; und das gleiche gilt von Krankheit und Gebrechen. Niemand wird einem seine Blindheit vorhalten, wenn sie durch die Natur veranlaßt ist, etwa als Folge einer Krankheit oder einer Verwundung; in solchem Falle gewährt man vielmehr sein Bedauern. Hat sich dagegen einer die Blindheit durch Trunksucht oder durch sonstige Ausschweifungen zugezogen, so rechnet es ihm jedermann zum Vorwurf an. Also auch was körperliche Gebrechen anbetrifft, hält man uns diejenigen vor, an denen wir schuld sind, aber nicht diejenigen, an denen wir keine Schuld tragen. Ist dem aber so, so wird auch sonst die Umkehrung gelten, daß diejenigen Fehler, die man uns zum Vorwurf macht, von uns verschuldet sind.

Nun könnte wohl eingewandt werden: gewiß, jeder mann strebt nach dem, was ihm gut scheint: aber man hat eben keine Macht darüber, was einem als gut erscheint; sondern jedem stellt sich das Ziel dar je nach der Beschaffenheit, die er nun einmal hat. Darauf ist zu erwidern: Ist jeder der Urheber der gesamten geistigen Haltung, die er angenommen hat, so ist er eben auch der Urheber der Vorstellungen, die in ihm leben. Oder nehmen wir einmal an, es wäre nicht so, und es trüge keiner die Schuld an seinen schlechten Handlungen sondern wenn er dergleichen begeht, so geschähe es, weiter über den Zweck eine falsche Vorstellung hegte; er lebte eben in dem Glauben, daß ihm dadurch der schönste Preis zuteil werden würde; das Ziel des Strebens aber wäre nicht frei gewählt, sondern angeboren, wie der Gesichtssinn es ist, durch den man zum richtigen Urteil und zur Wahl des wahrhaft Guten befähigt ist; es wäre also die günstige Naturausstattung, durch die jemand diese Gabe erlangte; denn das Größte und Herrlichste, das was man von keinem empfangen noch lernen kann, das könnte man dann nur so besitzen, wie man es von Natur bekommen hat, und daß einem dies von Natur in hervorragender Trefflichkeit zuteil geworden wäre, darin bestände die vollkommene und wahrhafte Gunst der Naturausstattung. Also angenommen es verhielte sich in Wahrheit so: wie könnte dann die Sittlichkeit irgend in höherem Grade Sache des freien Wollens sein als die Unsittlichkeit? Steht doch beiden, dem Guten wie dem Schlechten, gleichmäßig das Ziel von Natur oder sonst auf irgendeine Weise fest und ist ihm gegeben, und man handelt so oder[55] anders, indem man das übrige danach einrichtet. Ganz gleich also, ob sich einem das Ziel nicht von Natur in irgendwelcher bestimmten Beschaffenheit darstellt, sondern zum Teil in des Menschen Wollen liegt, oder ob es wirklich von Natur gegeben und sittliches Handeln nur insofern Sache des freien Willens ist, als der sittlich Gebildete das übrige frei wollend tut: in beiden Fällen wird ein schlechter Charakter genau ebenso aus dem freien Wollen stammen wie ein sittlicher Charakter. Denn der Schlechte hat genau ebenso die Gewalt, in seinen Handlungen sich selbst zu entscheiden, auch wenn er solche Gewalt in bezug auf das Ziel nicht besitzt. Ist nun, wie man doch annimmt, die Sittlichkeit Sache des freien Wollens, / denn von der befestigten Beschaffenheit, die wir besitzen, sind wir selber in gewissem Sinne die Miturheber, und weil wir diese bestimmte Beschaffenheit haben, darum setzen wir uns dieses so beschaffene Ziel, / so würde also auch die Unsittlichkeit Sache des freien Wollens sein; denn das Verhältnis ist beide Male ganz das gleiche.

Indessen, ganz dieselbe ist bei unseren Handlungen die Macht der freien Willensentscheidung doch nicht wie bei unseren Willensrichtungen. Denn über unsere Handlungen sind wir Herren vom Anfang bis zum Ende, sofern wir nur die Einzelheiten der Situation kennen; über unsere Willensrichtungen aber sind wir es nur im Anfang, während die weitere Fortbildung sich durch unsere einzelnen Handlungen ganz unmerklich vollzieht, ganz ähnlich wie es bei Erkrankungen der Fall ist. Nur sofern es an unserer Macht stand so oder nicht so zu verfahren, sind aus diesem Grunde auch sie Sache des freien Wollens.[56]

Quelle:
Aristoteles: Nikomachische Ethik. Jena 1909, S. 52-57.
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