Die Zweckmäßigkeit in der Natur
(Teleologie)

[77] Die Zweckmäßigkeit ist erst vom reflektierenden Verstand in die Welt gebracht, der demnach ein Wunder anstaunt, das er selbst erst geschaffen hat.

Kant


Einer der wichtigsten Haltpunkte für die Ansicht derjenigen, welche die Entstehung und Erhaltung der Welt einer alles beherrschenden und alles organisierenden Schöpferkraft zuschreiben, ist von je die sogenannte Zweckmäßigkeit in der Natur gewesen und ist es noch. Jede Blume, die ihre schillernde Blüte entfaltet, jeder Windstoß, der die Lüfte erschüttert, jeder Stern, der die Nacht erhellt, jede Wunde, die heilt, jeder Laut, jedes Ding der Natur gibt den gläubigen Teleologen oder Zweckmäßigkeitsmännern Gelegenheit, die unergründliche Weisheit jener höheren Kraft zu bewundern. Die heutige Naturforschung hat sich von diesen leeren und nur die Oberfläche der Dinge beschauenden Zweckmäßigkeitsbegriffen ziemlich allgemein emanzipiert und überläßt es der Schullehrerweisheit, dergleichen unschuldige Studien mit den kindlichen Bewohnern ihrer Hörsäle fortzusetzen.

Die Kombinationen natürlicher Stoffe und Kräfte mußten, indem sie sich einander begegnend mannigfaltigen Formen des Daseins ihre Entstehung gaben, sich zugleich in einer gewissen Weise gegenseitig abgrenzen, bedingen und dadurch Einrichtungen hervorrufen, welche sich in einer gewissen zweckentsprechenden Weise einander begegnen und welche uns nun,[77] eben weil sie mit Notwendigkeit einander bedingen und entsprechen, bei oberflächlichem Anblick von einem bewußten Verstand auf äußerliche Weise veranlaßt scheinen. Unser reflektierender Verstand ist die einzige Ursache dieser scheinbaren Zweckmäßigkeit, welche weiter nichts ist, als die notwendige Folge des Begegnens natürlicher Stoffe und Kräfte. So staunt nach Kant unser Verstand ein Wunder an, das er selbst erst geschaffen hat. Wie können wir von Zweckmäßigkeit reden, da wir ja die Dinge nur in dieser einen gewissen Gestalt und Form kennen und keine Ahnung davon haben, wie sie uns in irgendeiner anderen Gestalt und Form erscheinen würden! Die Bäume wachsen nicht in den Himmel – nebenbei gesagt, aus sehr natürlichen Gründen. Welches Recht haben wir nun, zu sagen: es ist zweckmäßig, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen? Es könnte vielleicht sehr zweckmäßig sein, wenn sie dieses tun würden. Ja, unser Verstand hat es nicht einmal nötig, sich an der Wirklichkeit genügen zu lassen. Welche natürliche Einrichtung gäbe es, welche er sich nicht in einer oder der anderen Hinsicht noch zweckentsprechender vorstellen könnte? Wir staunen heute die Naturwesen an und denken nicht daran, welche unendliche Menge anderer Formen, Gestalten, Einrichtungen und Zweckmäßigkeiten im Schoße der Natur geschlummert hat, schlummert und schlummern wird. Es hängt von einem Zufall ab, ob sie ihr Dasein erreichen oder nicht. Sind uns nicht großartige Tier- und Pflanzengestalten, die wir nur aus ihren vorweltlichen Resten kennen, längst verloren gegangen? Wird nicht vielleicht in späterer Zukunft diese ganze schöne, zweckmäßig eingerichtete Natur einer Weltrevolution unterliegen, und wird es dann nicht vielleicht abermals einer halben Ewigkeit bedürfen, bis diese[78] oder andere schlummernde Daseinsformen aus dem Weltenschlamme sich entwickelt haben? – Eine Menge uns zweckmäßig erscheinender Einrichtungen in der Natur sind nichts anderes, als die Folge der Einwirkung äußerer natürlicher Verhältnisse und Lebensbedingungen auf entstehende oder entstandene Naturwesen, einer Einwirkung, von welcher niemals zu vergessen ist, daß sie Millionen Jahre zur Verfügung hatte, um sich geltend zu machen. Was wollen dagegen die Erfahrungen der kurzen Spanne Zeit, welche uns bekannt ist, über die Kraft jener Einwirkung sagen? Die Tiere im Norden haben einen dichteren Pelz als die im Süden, und ebenso bekleiden sich die Tiere im Winter mit dichteren Haaren und Federn als im Sommer. Ist es nicht natürlicher, ein solches Verhältnis als die Folge äußerer Einwirkung, in diesem Falle der Temperaturverhältnisse, anzusehen, als an einen himmlischen Zuschneider zu denken, der jedem Tiere für Sommer- und Wintergarderobe sorgt? – Wenn der Hirsch lange Beine zum Laufen hat, so hat er dieselben nicht deswegen erhalten, um schnell laufen zu können, sondern er läuft schnell, weil er lange Beine hat. Hätte er Beine, die zum Laufen ungeschickt sind, er wäre vielleicht ein sehr mutiges Tier geworden, während er jetzt ein sehr furchtsames ist. Der Maulwurf hat kurze, schaufelartige Füße zum Graben; hätte er sie nicht, es würde ihm nie eingefallen sein, in der Erde zu wühlen. Die Dinge sind einmal, wie sie sind; wären sie anders geworden, d.h. wäre es möglich gewesen, daß sie anders geworden wären, wir würden sie nicht minder zweckmäßig gefunden haben. Wie viele verunglückte Versuche zur Erzeugung beliebiger Formen von Naturwesen oder natürlicher Erscheinungsweisen mag die Natur oder mögen die mit Kräften begabten Stoffe bei[79] ihrer gegenseitigen millionenfachen Begegnung unter den verschiedensten Umstände gemacht haben! Sie verunglückten oder konnten nicht zum Dasein durchdringen, weil sich gerade nicht alle dazu notwendigen Bedingungen zusammenfanden. Diejenigen Formen, welche sich erhalten konnten, sehen wir jetzt in einer gegliederten Reihe, in gegenseitiger Bedingung und Begrenzung sowohl untereinander als gegen die umgebenden Naturkräfte, vor uns, und diese notwendige und durch natürliche Bedingungen hergestellte Ordnung erscheint uns nun zweckmäßig und gemacht. Was jetzt in der Welt vorhanden ist, ist nur ein Überrest unendlich vieler Anfänge. Mit dieser Auseinandersetzung begegnen wir vielleicht gleichzeitig einer Bemerkung des Herrn Dr. Spieß in Frankfurt a. M., welcher gegen die alte pantheistische Weltanschauung sich folgendermaßen äußert: »Wenn es nur ein zufälliges Begegnen der Elemente war, dem ursprünglich die Naturwesen ihr Dasein verdankten, so ist nicht einzusehen, warum nicht durch ähnliche Zufälligkeiten stets neue Kombinationen und damit auch ganz neue Naturwesen entstehen sollten!« Einen Zufall in der Weise, wie ihn hier Herr Spieß anzieht, gibt es nicht in der Natur; überall herrscht infolge der Unveränderlichkeit der Naturgesetze eine gewisse Notwendigkeit, die keine Ausnahme erleidet. Daher kann es auch nicht möglich sein, daß unter ähnlichen oder gleichen Verhältnissen der Zufall stets neue Kombinationen hervorbringen solle. Wo sich indessen diese Verhältnisse wesentlich ändern, da ändern sich natürlich auch mit ihnen die Erzeugnisse der Naturkräfte, und es wird Herrn Spieß nicht unbekannt sein, daß das, was er von dem zufälligen Begegnen der Elemente verlangt, in der Tat vorhanden ist, daß diese Erdschichte andere und verschiedene Kombinationen,[80] andere Naturwesen birgt. Ja, wollten wir so weit gehen, der Behauptung des berühmten Geologen Lyell beizupflichten, welcher annimmt, daß auch jetzt noch immerwährend neue Naturwesen entstehen, und daß die Erde fortdauernd von Zeit zu Zeit neue Tierarten erzeugt, welche von uns nicht als neu entstandene, sondern nur als neu entdeckte angesehen werden, so wären wir imstande, Herrn Spieß gerade die Speise anzubieten, welche er verlangt, um von seinem teleologischen Glauben bekehrt zu werden.

Wenn die Natur nicht nach selbstbewußten Zwecken, sondern nach innerem Notwendigkeitsinstinkt handelt, so liegt es in der Natur der Sache, daß sie bei solchem Handeln eine Menge äußerer Zwecklosigkeiten und Ungereimtheiten sich zuschulden kommen lassen muß. Wir sind imstande, solche Zwecklosigkeiten nicht nur überall und in Menge aufzudecken – sondern auch aufs evidenteste nachzuweisen, wie die Natur, wenn sie durch äußere Zufälligkeiten in ihrem Wirken gestört wird, allerorten die lächerlichsten Fehler und Verkehrtheiten begeht. Vor allem kann niemand leugnen, daß die Natur in ihrem unbewußten und notwendigen Schöpfungstrieb eine Menge Naturwesen und Einrichtungen erzeugt hat, von denen ein äußerer Zweck durchaus nicht eingesehen werden kann, und welche häufig die natürliche Ordnung der Dinge mehr zu stören als zu fördern geeignet sind. Daher ist denn auch die Existenz der sogenannten schädlichen Tiere den Teleologen und der religiösen Weltanschauung überhaupt von je ein Dorn im Auge gewesen, und man hat sich auf die komischste und mannigfachste Weise bemüht, die Berechtigung dieser Existenzen nachzuweisen. Wie wenig dies gelang, beweisen die Erfolge derjenigen religiösen Systeme, welche den Sündenfall oder die Sünde überhaupt als[81] Ursache jener Abnormität ansehen. Nach den Theologen Meyer und Stilling (Blätter für höhere Wahrheit) sind das schädliche Gewürm und die feindseligen Insekten Folge des Fluchs, der die Erde und ihre Bewohner traf. Ihre oft ungeheuerliche Zeichnung, Form usw. soll das Bild der Sünde und des Verderbens darstellen! Dazu nimmt man an, daß die Erzeugung dieser Tiere erst späteren, also nicht urschöpferischen Ursprungs sei, weil ihre Existenz an die Verzehrung von vegetabilischen und animalischen Stoffen gebunden sei! – Im altdeutschen Heidentum werden diese Tiere als böse Elben geschildert, von denen alle Krankheiten herstammen und die ihre Entstehung dem teuflischen Kultus in der ersten Mainacht verdanken. Diese sonderbaren Deutungsversuche beweisen, wie wenig man imstande war und ist, die Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit jener schädlichen, lästigen, widrigen Naturwesen zu erklären. Auf der andern Seite weiß man, daß sehr unschädliche oder sehr nützliche Tiere ausgestorben sind, ohne daß die nicht nach Zwecken handelnde Natur Mittel gefunden hätte, ihre Existenz zu erhalten. Solche in historischen Zeiten ausgestorbene Tiere sind z.B. der Riesenhirsch, die Stellersche Seekuh, die Dronte usw. Mehrere andere nützliche Tiere vermindern sich von Jahr zu Jahr und gehen vielleicht ihrem Untergange entgegen. Dagegen sind sehr schädliche Tiere (z.B. die Feldmäuse) mit einer solchen Fruchtbarkeit begabt, daß an ihr Aussterben nicht zu denken ist. Wozu, fragen wir mit Recht, das Heer der Krankheiten, der physischen Übel überhaupt? Warum diese Masse von Grausamkeiten, von Entsetzlichkeiten, wie sie die Natur täglich und stündlich an ihren Geschöpfen ausübt? Konnte es ein bewußter, gütiger Schöpfer sein, welcher der Katze, der Spinne[82] ihre Grausamkeit verlieh und den Menschen selbst, die sogenannte Krone der Schöpfung, mit einer Natur begabte, welche alle Greuel und Wildheiten fähig ist? – Die Farben der Blumen, sagt man, sind da, um das menschliche Auge zu ergötzen. Wie lange aber blühten Blumen, die nie ein menschliches Auge sah, und wie viele blühen noch heute, die nie ein Auge sieht! Seitdem die Taucherglocke erfunden ist, hören wir mit Staunen die Erzählungen der Taucher, welche uns von einer prächtigen, in den herrlichsten Farben prangenden Flora auf dem Grunde des Meeres, auf dem Meeresboden, sowie von einer nicht minder prächtigen Tierwelt daselbst berichten. Korallentiere von der zierlichsten Zeichnung und den schönsten schillernden Farben, sowie eine zahllose, wimmelnde tierische Bevölkerung erblickt man auf dieser unterseeischen Fläche. Wozu nun diese Farben und Schönheiten, wozu dieses Leben in einer Tiefe, in die nur das Auge des Tauchers dringt? – Die vergleichende Anatomie beschäftigt sich, wie schon früher angeführt wurde, hauptsächlich mit der Aufsuchung der übereinstimmenden Formen in dem körperlichen Bau der verschiedenen Tierarten und mit der Nachweisung des baulichen Grundgedankens in jeder einzelnen Art oder Gattung. Dementsprechend weist uns diese Wissenschaft eine Menge körperlicher Formen, Organe usw. auf jeder einzelnen Tierstufe nach, welche dem Tiere, das sie besitzt, vollkommen unnütz, also zwecklos sind und nur als Andeutungen jener baulichen Grundform oder als Rudimente einer Einrichtung, eines körperlichen Teiles vorhanden zu sein scheinen, welcher dagegen in andern Tiergattungen zu ausgedehnter Entwicklung gelangt und alsdann dem betreffenden Individuum einen bestimmten Nutzen gewährt. Die Wirbelsäule des Menschen läuft in eine[83] kleine Spitze aus, welche vollkommen nutzlos ist und von manchen Anatomen als Andeutung des Schwanzes der Wirbeltiere angesehen wird! Zwecklose Einrichtung lassen sich im körperlichen Bau der Tiere und Pflanzen in Menge nachweisen. Niemand weiß zu sagen, wozu der sogenannte Wurmfortsatz oder die Brustdrüse des Mannes da ist. Vogt erzählt, daß es Tiere gibt, die vollkommene Hermaphroditen sind, d.h. die ausgebildeten Organe beider Geschlechter besitzen, und sich dennoch nicht selbst begatten können; es sind zwei Individuen zur Begattung notwendig. Wozu, fragt er mit Recht, eine solche Einrichtung? – Eine der gewichtigsten Tatsachen, welche gegen das zweckbewußte Handeln der Natur sprechen, wird durch die sogenannten Mißgeburten geliefert. Der einfache Menschenverstand konnte die Mißgeburten so wenig mit dem Glauben an einen nach Zwecken handelnden Schöpfer vereinigen, daß man dieselben früher als Zeichen des Zornes der Götter ansah, und heute noch erblicken ungebildete Leute in ihnen nicht selten eine Strafe des Himmels. Ich habe in einem tierärztlichen Kabinett eine neugeborene Ziege gesehen, welche in allen Teilen auf das vollkommenste und schönste ausgebildet, aber ohne Kopf zur Welt gekommen war. Welche Verkehrtheit! welche Zwecklosigkeit! Ein Tier vollkommen auszubilden, dessen Existenz von vornherein unmöglich ist, und es zur Welt kommen zu lassen! Herr Professor Lotze in Göttingen, ein naturphilosophischer Gothaner und Rechtgläubiger, übertrifft sich selbst, indem er bei Gelegenheit des Mißgeburten sagt: »Wenn einem Fötus einmal das Gehirn fehlt, so wäre für eine freiwählende Kraft das einzig Zweckmäßige, ihre Wirkungen einzustellen, da sie diesen Mangel nicht kompensieren kann. Darin aber, daß die bildenden Kräfte[84] durch ihr Fortwirken dazu beitragen, daß ein so völlig unzweckmäßiges und elendes Geschöpf auf eine der Idee der Gattung widerstreitende Weise eine Zeitlang existieren kann, darin scheint uns im Gegenteil ein schlagender Beweis dafür zu liegen, daß die Zweckmäßigkeit des letzten Erfolgs immer von einer Disposition rein mechanischer, determinierter Kräfte herrührt, deren Ablauf, wenn er einmal eingeleitet ist, ohne Besinnung und Rücksicht auf sein Ziel genau soweit dem Gesetze der Trägheit nach vor sich geht, als ihm nicht ein Widerstand entgegengesetzt wird usw.«

Das ist doch wohl deutlich geredet, und es erscheint demgegenüber kaum begreiflich, wie derselbe Herr an einer anderen Stelle behaupten kann, »es habe die Natur, mißtrauisch gegen den Erfindungsgeist der Seele, den Körper mit gewissen mechanischen Bedingungen ausgerüstet«, welche z.B. bewirken, daß ein fremder Körper durch Husten aus der Luftröhre entfernt wird. Sollte es möglich sein, daß solche philosophische Anschauungsweisen, welche der Natur ein Mißtrauen zutrauen, allgemeiner geltend würden, so müßte jede wahre Naturforschung ein Ende haben und sich in einen untätigen Glauben auflösen. Daß aber derselbe und als Autorität angesehene Schriftsteller zwei einander so widersprechende philosophische Glaubenssätze in einem Atem aussprechen kann, beweist für die philosophische Haltungslosigkeit und Querköpfigkeit unserer Zeit3.[85] Wenn die Natur nach Lotze Grund hatte, dem Erfindungsgeist der Seele zu mißtrauen, so hätte sie noch weiter unendliche Gelegenheiten gehabt, vorsorgliche Einrichtungen für gewisse Eventualitäten zu treffen, sie hätte bewirken können, daß die Kugeln aus dem Körper wieder herausspringen, und daß die Schwerter treffen, ohne zu schneiden. Ein fremder Körper in der Luftröhre wird vielleicht durch Husten wieder entfernt, aber ein fremder Körper in der Speiseröhre kann durch Übertragung der nervösen Reizung auf den Kehlkopf Erstickung herbeiführen. Welche verkehrte Einrichtung! Und keine Spur von Mißtrauen gegen den Erfindungsgeist der Seele, welche Zangen und Schlundstoßer erfunden hat! – Täglich und stündlich hat der Arzt Gelegenheit, sich bei Krankheiten, Verletzungen, Fehlgeburten usw. von der Hilflosigkeit der Natur, von der so oft unzweckmäßigen, verkehrten oder erfolglosen Richtung ihrer Heilbestrebungen zu überzeugen; ja, es könnte keine Ärzte geben, handelte die Natur nicht unzweckmäßig. Entzündung, Brand, Zerreißung, Verschwärung und ähnliche Ausgänge wählt die Natur da und wird tödlich, wo sie auf einfacherem Wege zum Ziele und zur Genesung hätte kommen können. Ist es zweckmäßig, daß ein Fötus sich außerhalb der Gebärmutter, seinem ihm naturgemäß zukommenden Wohnorte, festsetze und entwickle? – ein Fall, welcher häufig genug als sogenannte Extrauterinalschwangerschaft vorkommt und den Untergang der Mutter auf eine elende Weise herbeiführt. Oder gar, daß bei einer solchen Extrauterinalschwangerschaft sich nach Ablauf der normalen Schwangerschaftsdauer Wehen, d.h. Bestrebungen zur Ausstoßung des Kindes in der Gebärmutter einstellen, während doch gar kein Auszustoßendes in derselben vorhanden ist? – Die Existenz[86] gewisser Heilmittel gegen gewisse Krankheiten hört man oft im Sinne teleologischer Weltanschauung als ein schlagendes Beispiel nennen. Heilmittel in dem Sinne aber, daß sie bestimmte Krankheiten mit Sicherheit und unter allen Umständen vertreiben und so als für diese Krankheiten zum voraus bestimmt angesehen werden können, gibt es gar nicht. Alle vernünftigen Ärzte leugnen heute die Existenz sogenannter spezifischer Mittel in dem angeführten Sinne und bekennen sich zu der Ansicht, daß die Wirkung der Arzneien nicht auf einer spezifischen Neutralisation der Krankheiten beruhe, sondern in ganz anderen, meist zufälligen oder doch durch einen weitläufigen Kausalnexus verbundenen Umständen ihre Erklärung finde. Daher muß auch die Ansicht verlassen werden, als habe die Natur gegen gewisse Krankheiten gewisse Kräuter wachsen lassen, eine Ansicht, welche dem Schöpfer eine bare Lächerlichkeit imputiert, indem sie es für möglich hält, daß derselbe ein Übel zugleich mit seinem Gegenübel geschaffen habe, anstatt die Erschaffung beider zu unterlassen. Solcher nutzlosen Spielereien würde sich eine absichtlich wirkende Schöpferkraft nicht schuldig gemacht haben. – Um noch einmal auf die Mißgeburten zurückzukommen, so wäre noch anzuführen, daß man künstliche Mißgeburten erzeugen kann, indem man dem Ei oder dem Fötus Verletzungen beibringt. Die Natur hat kein Mittel, diesem Eingriffe zu begegnen, den Schaden auszugleichen; im Gegenteil folgt sei dem zufällig erhaltenen Anstoß, bildet in der falsch erteilten Richtung weiter und erzeugt – eine Mißgeburt. Kann das Verstandeslose und rein Mechanische in diesen Vorgängen von irgend jemandem verkannt werden? Läßt sich die Idee eines bewußten und den Stoff nach Zweckbegriffen beherrschenden Schöpfers mit[87] einer solchen Erscheinung vereinigen? Und wäre es möglich, daß sich die bildende Hand des Schöpfers durch den von Willkür geleiteten Finger des Menschen in ihrer Tätigkeit aufhalten oder beirren ließe? Es kann hierbei nicht darauf ankommen, ob man das Wirken einer solchen Hand in eine frühere oder spätere Zeit versetzt, und es ist nichts damit geholfen, wenn man annimmt, die Natur habe nur den uranfänglichen Anstoß zu einem zweckmäßigen Wirken von außen erhalten, vollbringe nun aber dieses Wirken weiter auf mechanische Weise. Denn der zweckmäßige Anstoß müßte ja notwendig auch eine zweckmäßige Folge erzeugen. Überdem läßt sich nachweisen, daß auch schon in der allerfrühesten Anordnung irdischer Verhältnisse dieselben Fehler von der Natur begangen wurden. So hat dieselbe nicht einmal so viel Vorsicht besessen, die organischen Wesen jedesmal dahin zu versetzen, wo die äußeren Verhältnisse am besten für ihr Gedeihen sorgen. Im Altertume gab es in Arabien, wo heute bekanntlich die edelste Rasse dieses Tieres erzeugt wird, keine Pferde; in Afrika, wo das Kamel, das sogenannte Schiff der Wüste, allein menschlichen Aufenthalt möglich macht, gab es keine Kamele; in Italien gab es keinen Ölbaum und am Rhein keine Reben! Ist es zweckmäßig, um auch ein Beispiel aus der größeren Welt anzuführen, daß das Licht trotz seiner maßlosen Geschwindigkeit so langsam den Weltraum durcheilt, daß es viele tausend Jahre braucht, um von einem Sterne zum andern zu gelangen? Wozu diese unweise Beschränkung in den Äußerungen des schöpferischen Willens! – Eine Menge angeblicher Zwecke erreicht die Natur auf einem großen, mühsamen Umweg, während sich nicht leugnen läßt, daß diese Zwecke, wenn es bloß auf deren Erreichung ankam,[88] unendlich leichter und einfacher zu erlangen gewesen wären. Die größten Pyramiden Ägyptens und andere Riesenbauten daselbst sind aus Gesteinen errichtet, die den Kalkschalen kleiner Tiere ihre Entstehung verdanken. Der Quaderstein, aus dem fast ganz Paris erbaut wurde, besteht aus Schalen von Infusorien, deren man zweihundert Millionen in einem Kubikfuß zählt. Die Zeit, welche diese Gesteine zu ihrer Entstehung bedurften, muß nach Äonen gerechnet werden; sie sind dem Menschen heute nützlich und erscheinen ihm als Beweis zweckmäßiger natürlicher Vorsorge. Die Größe von Zweck und Mittel steht aber hier offenbar im schreiendsten Mißverhältnis. – Der Mensch ist gewohnt, in sich den Gipfelpunkt der Schöpfung zu sehen und die Erde und alles, was auf ihr lebt, so zu betrachten, als sei es von einem gütigen Schöpfer zu seinem Nutzen und Wohnsitz erschaffen worden. Ein Blick auf die Geschichte der Erde und auf die geographische Verbreitung des Menschengeschlechts könnte ihn Bescheidenheit lehren. Wie lange bestand die Erde ohne ihn! Und wie gering ist seine eigene Ausbreitung über dieselbe selbst jetzt noch, nachdem viele Jahrtausende hindurch sein Geschlecht nur ein winziges Häuflein bildete. Und wer behaupten wollte, die Erde könnte nicht wohnlicher für den Menschen eingerichtet sein, würde sich gewiß einer Lächerlichkeit schuldig machen. Mit welchen unendlichen Schwierigkeiten muß der Mensch kämpfen, bis er ein Fleckchen Erde zu seinem Wohnsitz tauglich macht, und wie große Strecken Landes sind durch Boden oder Klima seiner Ansiedlung geradezu verschlossen! Kein Wesen kann dazu bestimmt sein, für den Nutzen des Menschen zu leben; alles, was lebt, hat das gleiche Recht der Existenz, und es ist nur das Recht des Stärkeren, welches dem Menschen erlaubt,[89] sich andere Wesen dienstbar zu machen oder zu töten. Es gibt keine Zwecke, welche die Natur zugunsten eines Bevorzugten zu erreichen bemüht wäre; die Natur ist sich selbst Zweck, sich selbst erzeugend, sich selbst erfüllend![90]

3

Karl Vogt nennt in seiner neuesten Schrift »Köhlerglaube und Wissenschaft« Herrn Lotze einen »spekulierenden Struwelpeter« – eine Bezeichnung, welche in der Tat nicht treffender hätte gewählt werden können. Wir nehmen indessen an dieser Stelle Gelegenheit, zu bemerken, daß uns die Vogtsche Schrift erst während des Druckes unserer eigenen zukam. Der Leser wird darnach die vorhandenen Anklänge an einige Stellen derselben nur als zufällige betrachten dürfen.

Quelle:
Ludwig Büchner: Kraft und Stoff. Leipzig [o.J.], S. 77-91.
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