|
[61] Variabilität. – Individuelle Verschiedenheiten. – Zweifelhafte Arten. – Weit und sehr verbreitete und gemeine Arten variieren am meisten. – Arten der grösseren Gattungen jeden Landes variieren häufiger als die der kleineren Genera. – Viele Arten der grossen Gattungen gleichen den Varietäten darin, dass sie sehr nahe, aber ungleich miteinander verwandt sind und beschränkte Verbreitungsbezirke haben.
Ehe wir die Grundsätze, zu welchen wir im vorigen Capitel gelangt sind, auf die organischen Wesen im Naturzustande anwenden, müssen wir kurz untersuchen, ob diese letzten irgendwie veränderlich sind oder nicht. Um diesen Gegenstand nur einigermassen eingehend zu behandeln, müsste ich ein langes Verzeichnis trockener Thatsachen geben; doch will ich diese für ein künftiges Werk versparen. Auch will ich hier nicht die verschiedenen Definitionen erörtern, welche man von dem Worte »Species« gegeben hat. Keine derselben hat bis jetzt alle Naturforscher befriedigt; doch weiss jeder Naturforscher ungefähr, was er meint, wenn er von einer Species spricht. Allgemein schliesst die Bezeichnung das unbekannte Element eines besondern Schöpfungsactes ein. Der Ausdruck »Varietät« ist fast eben so schwer zu definieren; Gemeinsamkeit der Abstammung ist indess hier meistens einbedungen, obwohl sie selten bewiesen werden kann. Auch finden sich Formen, die man Monstrositäten[61] nennt; sie gehen aber stufenweise in Varietäten über. Unter einer »Monstrosität« versteht man nach meiner Meinung irgend eine beträchtliche Abweichung der Structur, welche der Art meistens nachtheilig oder doch nicht nützlich ist. Einige Schriftsteller gebrauchen noch den Ausdruck »Variation« in einem technischen Sinne, um Abänderungen zu bezeichnen, welche directe Folge äusserer Lebensbedingungen sind, und die »Variationen« dieser Art gelten nicht für erblich. Wer kann indessen behaupten, dass die zwerghafte Beschaffenheit der Conchylien im Brackwasser der Ostsee, oder die Zwergpflanzen auf den Höhen der Alpen, oder der dichtere Pelz eines Thieres in höheren Breiten nicht in einigen Fällen auf wenigstens einige Generationen vererbt werden? und in diesem Falle würde man, glaube ich, die Form eine »Varietät« nennen.
Es mag wohl zweifelhaft sein, ob plötzliche und grosse Abweichungen der Structur, wie wir sie gelegentlich bei unseren domesticierten Rassen, zumal unter den Pflanzen, auftauchen sehen, im Naturzustande je dauernd fortgepflanzt werden. Fast jeder Theil eines jeden organischen Wesens steht in einer so schönen Beziehung zu seinen complicierten Lebensbedingungen, dass es eben so unwahrscheinlich scheint, dass irgend ein Theil auf einmal in seiner ganzen Vollkommenheit erschienen sei, wie dass ein Mensch irgend eine zusammengesetzte Maschine sogleich in vollkommenem Zustande erfunden habe. Im domesticierten Zustande kommen oft Monstrositäten vor, welche normalen Bildungen in sehr verschiedenen Thieren ähnlich sind. So sind oft Schweine mit einer Art Rüssel geboren worden. Wenn nun irgend eine wilde Art der Gattung Schwein von Natur einen Rüssel besessen hätte, so hätte man schliessen können, dass derselbe plötzlich als Monstrosität erschienen sei. Es ist mir aber bis jetzt nach eifrigem Suchen nicht gelungen, Fälle zu finden, wo Monstrositäten normalen Bildungen bei nahe verwandten Formen ähnlich wären; und nur solche haben Bezug auf vorliegende Frage. Treten monströse Formen dieser Art je im Naturzustande auf und sind sie fähig, sich fortzupflanzen (was nicht immer der Fall ist), so würde, da sie nur selten und einzeln vorkommen, ihre Erhaltung von ungewöhnlich günstigen Umständen abhängen. Sie würden sich auch in der ersten und den folgenden Generationen mit der gewöhnlichen Form kreuzen und würden auf diese Weise fast unvermeidlich ihren abnormen Character verlieren. Ich werde aber in einem spätern Capitel auf die Erhaltung und Fortpflanzung einzelner und gelegentlicher Abänderungen zurückzukommen haben.
[62] Die vielen geringen Verschiedenheiten, welche oft unter den Abkömmlingen von einerlei Eltern vorkommen, oder unter solchen, von denen man einen derartigen Ursprung annehmen darf, kann man individuelle Verschiedenheiten nennen, da sie bei Individuen der nämlichen Art beobachtet werden, welche auf begrenztem Raume nahe beisammen wohnen. Niemand glaubt, dass alle Individuen einer Art factisch genau nach einem und demselben Modell gebildet seien. Diese individuellen Verschiedenheiten sind nun gerade von der grössten Bedeutung für uns, weil sie oft vererbt werden, wie schon Jedermann zu beobachten Gelegenheit gehabt haben muss; hierdurch liefern sie der natürlichen Zuchtwahl Material zur Einwirkung und zur Häufung, in der nämlichen Weise wie der Mensch in seinen cultivierten Rassen individuelle Verschiedenheiten in irgend einer gegebenen Richtung häuft. Diese individuellen Verschiedenheiten betreffen in der Regel nur die in den Augen des Naturforschers unwesentlichen Theile; ich könnte jedoch aus einer langen Liste von Thatsachen nachweisen, dass auch Theile, die man als wesentliche bezeichnen muss, mag man sie von physiologischem oder von classificatorischem Gesichtspunkte aus betrachten, zuweilen bei den Individuen von einerlei Arten variieren. Ich bin überzeugt, dass die erfahrensten Naturforscher erstaunt sein würden über die Menge von Fällen von Variabilität sogar in wichtigen Theilen des Körpers, die sie nach glaubwürdigen Autoritäten zusammenbringen könnten, wie ich sie im Laufe der Jahre zusammengetragen habe. Man muss sich aber dabei noch erinnern, dass die Systematiker durchaus nicht erfreut sind, Veränderlichkeit in wichtigen Characteren zu entdecken, und dass es nicht viele gibt, welche mühsam innere wichtige Organe untersuchen und in vielen Exemplaren einer und der nämlichen Art miteinander vergleichen. So würde man nimmer erwartet haben, dass die Verzweigungen der Hauptnerven dicht am grossen Centralnervenknoten eines Insectes in einer und derselben Species abändern könnten, sondern vielmehr gedacht haben, Veränderungen dieser Art könnten nur langsam und stufenweise hervorgebracht worden sein. Und doch hat Sir JOHN LUBBOCK kürzlich bei Coccus einen Grad von Veränderlichkeit an diesen Hauptnerven nachgewiesen, welcher beinahe an die unregelmässige Verzweigung eines Baumstammes erinnert. Ebenso hat dieser ausgezeichnete Naturforscher, wie ich hinzufügen will, kürzlich gezeigt, dass die Muskeln in den Larven gewisser Insecten von Gleichförmigkeit weit entfernt sind. Die Schriftsteller bewegen[63] sich oft in einem Kreise, wenn sie behaupten, dass wichtige Organe niemals variieren; denn diese selben Schriftsteller zählen in der Praxis diejenigen Organe zu den wichtigen (wie einige wenige ehrlich genug sind, zu gestehen), welche nicht variiern, und unter dieser Voraussetzung kann dann allerdings niemals ein Beispiel angeführt werden von einem wichtigen Organe, welches variiere; aber von jedem andern Gesichtspunkte aus lassen sich deren ganz sicher viele aufzählen.
Mit den individuellen Verschiedenheiten steht noch ein anderer Punkt in Verbindung, welcher äusserst verwirrend ist: ich meine die Gattungen, welche man »protëische« oder »polymorphe« genannt hat, weil deren Arten einen ganz aussergewöhnlichen Grad von Veränderlichkeit zeigen. In Bezug auf viele dieser Formen stimmen kaum zwei Naturforscher darüber miteinander überein, ob dieselben als Arten oder als Varietäten zu betrachten seien. Ich will Rubus, Rosa und Hieracium unter den Pflanzen, mehrere Insecten und Brachiopodengenera unter den Thieren als Beispiele anführen. In den meisten dieser polymorphen Gattungen haben einige Arten feste und bestimmte Charactere. Gattungen, welche in einer Gegend polymorph sind, scheinen es mit einigen wenigen Ausnahmen auch in anderen Gegenden zu sein, und es auch, nach den Brachiopoden zu urtheilen, in früheren Zeiten gewesen zu sein. Diese Thatsachen nun sind insofern sehr auffallend, als sie zu zeigen scheinen, dass diese Art von Veränderlichkeit von den Lebensbedingungen unabhängig ist. Ich bin zu vermuthen geneigt, dass wir wenigstens bei einigen dieser polymorphen Gattungen solche Abänderungen vor uns haben, welche der Species weder nützlich noch schädlich sind und welche daher bei der natürlichen Zuchtwahl nicht berücksichtigt und befestigt worden sind, wie nachher erläutert werden soll.
Individuen einer und derselben Art bieten oft, wie allgemein bekannt ist, unabhängig von einer Variation grosse Verschiedenheiten der Structur dar, wie die beiden Geschlechter mancher Thiere, wie die zwei oder drei Formen steriler Weibchen oder Arbeiter bei Insecten, wie die unreifen oder Larvenzustände vieler niederen Thiere. Es gibt auch noch andere Fälle von Dimorphismus und Trimorphismus sowohl bei Pflanzen als bei Thieren. So hat WALLACE, der vor Kurzem die Aufmerksamkeit besonders auf diesen Gegenstand gelenkt hat, gezeigt, dass die Weibchen gewisser Schmetterlingsarten im Malayischen Archipel regelmässig unter zwei oder selbst drei auffallend verschiedenen Formen auftreten, welche nicht[64] durch intermediäre Varietäten verbunden werden. Neuerlich hat FRITZ MÜLLER analoge, aber noch ausserordentlichere Fälle von den Männchen gewisser brasilianischer Crustaceen beschrieben; so kommt das Männchen einer Tanais regelmässig unter zwei weit von einander verschiedenen Formen vor, das eine hat viel stärkere und verschieden geformte Scheeren, das andere mit viel reichlicher entwickelten Riechhaaren versehene Antennen. Obgleich nun aber in den meisten von diesen Fällen die dimorphen und trimorphen Formen, sowohl bei Thieren als bei Pflanzen, jetzt durch keine Zwischenglieder zusammenhängen, so ist es doch wahrscheinlich, dass sie einmal so zusammengehangen haben. WALLACE beschreibt z.B. einen Schmetterling, der auf einer und derselben Insel eine grosse Reihe durch Zwischenglieder verbundener Varietäten darbietet und die äussersten Glieder dieser Reihe gleichen sehr den beiden Formen einer verwandten dimorphen Art, welche auf einem andern Theile des Malayischen Archipels vorkömmt. Dasselbe gilt für Ameisen; die verschiedenen Arbeiterformen sind gewöhnlich völlig verschieden: in manchen Fällen aber werden, wie wir später sehen werden, die verschiedenen Formen durch fein abgestufte Varietäten miteinander verbunden. Es erscheint allerdings zuerst als eine höchst merkwürdige Thatsache, dass derselbe weibliche Schmetterling das Vermögen haben sollte, gleichzeitig drei weibliche und eine männliche Form zu erzeugen; dass eine Zwitterpflanze aus derselben Samenkapsel drei verschiedene Zwitterformen erzeugen sollte, welche drei verschiedene Formen Weibchen und drei oder selbst sechs verschiedene Formen Männchen enthalten. Nichtsdestoweniger sind aber diese Fälle nur beinahe übertrieben zu nennende Belege für jene allgemeine Thatsache, dass jedes weibliche Thier Männchen und Weibchen hervorbringt, die in einigen Fällen in so wunderbarer Weise von einander verschieden sind.
Diejenigen Formen, welche zwar in beträchtlichem Masse den Character einer Art besitzen, aber anderen Formen so ähnlich oder durch Mittelstufen mit solchen so enge verkettet sind, dass die Naturforscher sie nicht gern als besondere Arten anführen wollen, sind in mehreren Beziehungen die wichtigsten für uns. Wir haben allen Grund zu glauben, dass viele von diesen zweifelhaften und engverwandten Formen ihre Charactere lange Zeit beharrlich behauptet haben, eine so lange Zeit, so viel wir wissen, wie gute[65] und echte Species. Practisch genommen pflegt ein Naturforscher, welcher zwei Formen durch Zwischenglieder miteinander zu verbinden vermag, die eine als eine Varietät der andern zu behandeln, wobei er die gewöhnlichere, zuweilen aber auch die zuerst beschriebene als die Art, die andere als die Varietät ansieht. Bisweilen treten aber auch sehr schwierige Fälle, die ich hier nicht aufzählen will, bei der Entscheidung der Frage ein, ob eine Form als Varietät der andern anzusehen sei oder nicht, sogar wenn beide durch Zwischenglieder eng miteinander verbunden sind; auch will die gewöhnliche Annahme, dass diese Zwischenglieder Bastarde seien, nicht immer genügen, um die Schwierigkeit zu beseitigen. In sehr vielen Fällen jedoch wird eine Form als eine Varietät der andern erklärt, nicht weil die Zwischenglieder wirklich gefunden worden sind, sondern weil Analogie den Beobachter verleitet anzunehmen, entweder dass solche noch irgendwo vorhanden sind, oder dass sie früher vorhanden gewesen sind; und damit ist dann Zweifeln und Vermuthungen Thüre und Thor geöffnet.
Wenn es sich daher darum handelt zu bestimmen, ob eine Form als Art oder als Varietät zu bestimmen sei, scheint die Meinung der Naturforscher von gesundem Urtheil und reicher Erfahrung der einzige Führer zu bleiben. Gleichwohl können wir in vielen Fällen nur nach einer Majorität der Meinungen entscheiden; denn es lasssen sich nur wenige ausgezeichnete und gutgekannte Varietäten namhaft machen, die nicht schon bei wenigstens einem oder dem andern sachkundigen Richter als Species gegolten hätten.
Dass Varietäten von so zweifelhafter Natur keineswegs selten sind, kann nicht in Abrede gestellt werden. Man vergleiche die von verschiedenen Botanikern geschriebenen Floren von Gross-Britannien, Frankreich oder den Vereinigten Staaten miteinander und sehe, was für eine erstaunliche Anzahl von Formen von dem einen Botaniker als gute Arten und von dem andern als blosse Varietäten angesehen wird. Herr H. C. WATSON, welchem ich zur innigsten Erkenntlichkeit für Unterstützung aller Art verbunden bin, hat mir 182 Britische Pflanzen bezeichnet, welche gewöhnlich als Varietäten betrachtet werden, aber auch schon alle von Botanikern für Arten erklärt worden sind; und bei Aufstellung dieser Liste hat er noch manche unbedeutendere, aber auch schon von einem oder dem andern Botaniker als Art aufgenommene Varietät übergangen und einige sehr polymorphe Gattungen gänzlich ausser Acht gelassen. Unter gewissen Gattungen, mit Einschluss der am meisten[66] polymorphen Formen, führt BABINGTON 251, BENTHAM dagegen nur 112 Arten auf, ein Unterschied von 139 zweifelhaften Formen! Unter den Thieren, welche sich zu jeder Paarung vereinigen und sehr ortswechselnd sind, können dergleichen zweifelhafte, von verschiedenen Zoologen bald als Arten bald als Varietäten angesehene Formen nicht so leicht in einer Gegend beisammen vorkommen, sind aber in getrennten Gebieten nicht selten. Wie viele jener nordamericanischen und europäischen Insecten und Vögel, die nur sehr wenig von einander abweichen, sind von dem einen ausgezeichneten Naturforscher als unzweifelhafte Arten und von dem andern als Varietäten oder sogenannte climatische Rassen bezeichnet worden! In mehreren werthvollen Aufsätzen, die WALLACE neuerdings über die verschiedenen Thierformen, besonders über die Lepidopteren des grossen Malayischen Archipels veröffentlicht hat, weist er nach, dass man sie in vier Gruppen theilen kann, nämlich invariable Formen, in Localformen, in geographische Rassen oder Subspecies und in echte repräsentierende Arten. Die ersten oder die variablen Formen variieren bedeutend innerhalb der Grenzen einer und derselben Insel. Die localen Formen sind auf jeder einzelnen Insel mässig constant und bestimmt; vergleicht man aber alle derartigen Formen von den verschiedenen Inseln miteinander, so stellen sich die Unterschiede als so gering und allmählich abgestuft heraus, dass es unmöglich wird, sie zu bestimmen oder zu beschreiben, obschon die extremen Formen hinreichend scharf bestimmt sind. Die geographischen Rassen oder Sub species sind vollständig fixierte und isolierte Localformen; da sie aber nicht durch stark markierte und bedeutungsvolle Charactere von einander abweichen, »so kann kein etwa möglicher Beweis, sondern nur individuelle Meinung bestimmen, welche derselben man als Art und welche man als Varietät betrachten soll.« Repräsentierende Arten endlich nehmen im Naturhaushalte jeder Insel dieselbe Stelle ein, wie die localen Formen und Subspecies; da sie aber ein grösseres Mass von Verschiedenheit, als das zwischen localen Formen und Subspecies, von einander trennt, so werden sie allgemein von den Naturforschern für gute Arten genommen. Nichtsdestoweniger lässt sich kein bestimmtes Kriterium angeben, nach welchem man variable Formen, locale Formen, Subspecies und repräsentierende Arten als solche erkennen kann.
Als ich vor vielen Jahren die Vögel von den einzelnen Inseln der Galapagos-Gruppe miteinander und mit denen des americanischen[67] Festlandes verglich und andere sie vergleichen sah, war ich sehr darüber erstaunt, wie gänzlich schwankend und willkürlich der Unterschied zwischen Art und Varietät ist. Auf den Inselchen der kleinen Madeira-Gruppe kommen viele Insecten vor, welche in WOLLASTON'S bewunderungswürdigem Werke als Varietäten characterisiert sind, welche aber gewiss von vielen Entomologen als besondere Arten aufgestellt werden würden. Selbst Irland besitzt einige wenige jetzt allgemein als Varietäten angesehene Thiere, welche aber von einigen Zoologen für Arten erklärt worden sind. Mehrere erfahrene Ornithologen betrachten unser britisches Rothhuhn (Lagopus) nur als eine scharf ausgezeichnete Rasse der norwegischen Art, während die Mehrzahl solches für eine unzweifelhafte und Gross-Britannien eigenthümliche Art erklärt. Eine weite Entfernung zwischen den Heimathsorten zweier zweifelhafter Formen bestimmt viele Naturforscher, dieselben für zwei Arten zu erklären; aber, hat man mit Recht gefragt, welche Entfernung genügt dazu? Wenn man die Entfernung zwischen Europa und America gross nennt, wird dann auch jene zwischen Europa und den Azoren oder Madeira oder den Canarischen Inseln oder zwischen den verschiedenen Inseln dieser kleinen Archipele genügen?
B. D. WALSH, ein ausgezeichneter Entomolog der Vereinigten Staaten, hat neuerdings sogenannte phytophage Varietäten und phytophage Arten beschrieben. Die meisten pflanzenfressenden Insecten leben von einer Art oder von einer Gruppe von Pflanzen; einige leben ohne Unterschied von vielen Arten, ohne indessen deshalb abzuändern. WALSH hat nun aber mehrere derartige Fälle beobachtet, wo Insecten, welche auf verschiedenen Pflanzen lebend gefunden wurden, entweder im Larven- oder im erwachsenen Zustande oder in beiden, geringe, aber constante Verschiedenheiten in Farbe, Grösse oder in der Beschaffenheit ihrer Secrete darboten. In einigen Fällen fand man nur die Männchen, in anderen Fällen Männchen und Weibchen in dieser Weise unbedeutend von einander verschieden. Sind die Verschiedenheiten etwas stärker ausgeprägt und sind beide Geschlechter und alle Altersstände afficiert, dann werden die betreffenden Formen von allen Entomologen für Species erklärt. Aber kein Beobachter kann für einen andern genau bestimmen, selbst wenn er es für sich thun kann, welche von diesen phytophagen Formen Varietäten, welche Arten zu nennen sind. WALSH bezeichnet diejenigen Formen, von denen man voraussetzen kann, dass sie sich reichlich kreuzen, als Varietäten, und diejenigen,[68] welche diese Fähigkeit zu kreuzen verloren zu haben scheinen, als Arten. Da die Verschiedenheiten davon abhängen, dass sich die Insecten lange von verschiedenen Pflanzen ernährt haben, so kann man nicht erwarten, jetzt Zwischenglieder zwischen den verschiedenen Formen zu finden. Der Naturforscher verliert dadurch den besten Führer zu der Bestimmung, ob solche zweifelhafte Formen für Varietäten oder Species zu halten sind. Dies kommt nothwendig in gleicher Weise bei nahe verwandten Organismen vor, welche verschiedene Continente oder Inseln bewohnen. Hat aber auf der andern Seite ein Thier oder eine Pflanze eine weite Verbreitung über einen und denselben Continent, oder bewohnt es viele Inseln desselben Archipels, und bietet es in den verschiedenen Gebieten verschiedene Formen dar, so ist die Wahrscheinlichkeit immer gross, Zwischenglieder zu finden, welche die extremen Formen miteinander verbinden; diese werden dann auf den Rang von Varietäten herabgesetzt.
Einige wenige Naturforscher behaupten, dass Thiere niemals Varietäten darbieten; dann legen sie aber den geringsten Verschiedenheiten specifischen Werth bei; und wenn selbst dieselbe identische Form in zwei verschiedenen Ländern oder in zwei verschiedenen geologischen Formationen gefunden wird, so glauben sie, dass zwei verschiedene Arten im nämlichen Gewande verborgen enthalten sind. Der Ausdruck Art wird dadurch zu einer nutzlosen Abstraction, unter der man einen besondern Schöpfungsact versteht und annimmt. Es ist sicher, dass viele von competenten Richtern für Varietäten angesehene Formen so vollständig dem Character nach Arten ähnlich sind, dass sie von anderen ebenso competenten Männern dafür gehalten worden sind. Aber es ist vergebene Arbeit, die Frage zu erörtern, ob sie Arten oder Varietäten genannt werden sollen, solange noch keine Definition dieser zwei Ausdrücke allgemein angenommen ist.
Viele dieser stark ausgeprägten Varietäten oder zweifelhaften Arten verdienten wohl eine nähere Betrachtung; denn man hat vielerlei interessante Beweismittel aus ihrer geographischen Verbreitung, analogen Variation, Bastardbildung u.s.w. herbeigeholt, um bei Feststellung der ihnen gebührenden Rangstufe mitzuhelfen. Doch erlaubt mir der Raum nicht, sie hier zu erörtern. Sorgfältige Untersuchung wird in vielen Fällen ohne Zweifel die Naturforscher zur Verständigung darüber bringen, wofür die zweifelhaften Formen zu halten sind. Doch müssen wir bekennen, dass gerade in den[69] am besten bekannten Ländern die meisten zweifelhaften Formen zu finden sind. Ich war über die Thatsache erstaunt, dass man, wenn irgend welche Thiere und Pflanzen in ihrem Naturzustande dem Menschen sehr nützlich sind oder aus irgend einer andern Ursache seine besondere Aufmerksamkeit erregen, beinahe ganz allgemein Varietäten davon angeführt finden wird. Diese Varietäten werden überdies oft von einigen Autoren als Arten bezeichnet. Wie sorgfältig ist die gemeine Eiche studiert worden! Nun macht aber ein deutscher Autor über ein Dutzend Arten aus den Formen, welche bis jetzt von anderen Botanikern fast ganz allgemein als Varietäten angesehen wurden; und in England können die höchsten botanischen Gewährsmänner und vorzüglichsten Practiker angeführt werden, welche nachweisen, die einen, dass die Trauben- und die Stieleiche gut unterschiedene Arten, die anderen, dass sie blosse Varietäten sind.
Ich will hier auf eine neuerdings erschienene merkwürdige Arbeit A. DE CANDOLLE'S über die Eichen der ganzen Erde verweisen. Nie hat Jemand grösseres Material zur Unterscheidung der Arten gehabt oder hätte dasselbe mit mehr Eifer und Scharfsinn verarbeiten können. Er gibt zuerst im Detail alle die vielen Punkte, in denen der Bau der verschiedenen Arten variiert, und schätzt numerisch die Häufigkeit der Abänderungen. Er führt speciell über ein Dutzend Merkmale auf, von denen man findet, dass sie selbst an einem und demselben Zweige, zuweilen je nach dem Alter und der Entwicklung, zuweilen ohne nachweisbaren Grund variieren. Derartige Merkmale haben natürlich keinen specifischen Werth, sie sind aber, wie ASA GRAY in seinem Bericht über diese Abhandlung bemerkt, von der Art, wie sie gewöhnlich in Speciesbestimmungen aufgenommen werden. DE CANDOLLE sagt dann weiter, dass er die Formen als Arten betrachtet, welche in Merkmalen von einander abweichen, die nie auf einem und demselben Baume variieren und nie durch Zwischenzustände zusammenhängen. Nach dieser Erörterung, dem Resultate so vieler Arbeit, bemerkt er mit Nachdruck: »Diejenigen sind im Irrthum, welche immer wiederholen, dass die Mehrzahl unserer Arten deutlich begrenzt ist und dass die zweifelhaften Arten eine geringe Minorität bilden. Dies schien so lange wahr zu sein, als man eine Gattung unvollkommen kannte und ihre Arten auf wenig Exemplare gegründet wurden, d.h. provisorisch waren. Sobald wir dazu kommen, sie besser zu kennen, strömen die Zwischenformen herbei und die Zweifel über die Grenzen[70] der Arten erheben sich.« Er fügt auch noch hinzu, dass es gerade die bestbekannten Arten sind, welche die grösste Anzahl spontaner Varietäten und Subvarietäten darbieten. So hat Quercus robur achtundzwanzig Varietäten, welche mit Ausnahme von sechs sich sämmtlich um drei Subspecies gruppieren, nämlich Q. pedunculata, sessiliflora und pubescens. Die Formen, welche diese drei Subspecies miteinander verbinden, sind vergleichsweise selten: und wenn, wie ASA GRAY ferner bemerkt, diese jetzt seltenen Übergangsformen völlig aussterben sollten, so würden sich die drei Subspecies genau ebenso zu einander verhalten, wie die vier oder fünf provisorisch angenommenen Arten, welche sich eng um die typische Quercus robur gruppieren. Endlich gibt DE CANDOLLE noch zu, dass von den 300 Arten, welche in seinem Prodromus als zur Familie der Eichen gehörig werden aufgezählt werden, wenigstens zwei Drittel provisorisch, d.h. nicht genau genug gekannt sind, um der oben angegebenen Definition der Species zu genügen. Ich muss hinzufügen, dass DE CANDOLLE die Arten nicht mehr für unveränderliche Schöpfungen hält, sondern zu dem Schluss gelangt, dass die Ableitungstheorie die natürlichste »und die am besten mit den bekannten Thatsachen der Palaeontologie, Pflanzengeographie und Thiergeographie, des anatomischen Baues und der Classification übereinstimmende ist«.
Wenn ein junger Naturforscher eine ihm ganz unbekannte Gruppe von Organismen zu studieren beginnt, so macht ihn anfangs die Frage verwirrt, was für Unterschiede er für specifische halten soll und welche von ihnen nur Varietäten angehören; denn er weiss noch nichts von der Art und der Grösse der Abänderungen, deren die Gruppe fähig ist; und dies beweist eben wieder, wie allgemein wenigstens einige Variation ist. Wenn er aber seine Aufmerksamkeit auf eine einzige Classe innerhalb eines bestimmten Landes beschränkt, so wird er bald darüber im Klaren sein, wofür er die meisten dieser zweifelhaften Formen anzuschlagen habe. Er wird im Allgemeinen geneigt sein, viele Arten zu machen, weil ihm, so wie den vorhin erwähnten Tauben- oder Hühnerfreunden, die Verschiedenheiten der beständig von ihm studierten Formen sehr beträchtlich scheinen und weil er noch wenig allgemeine Kenntnis von analogen Verschiedenheiten in anderen Gruppen und anderen Ländern zur Berichtigung jener zuerst empfangenen Eindrücke besitzt. Dehnt er nun den Kreis seiner Beobachtung weiter aus, so wird er auf weitere schwierige Fälle stossen; denn er wird einer[71] grossen Anzahl nahe verwandter Formen begegnen. Erweitern sich seine Erfahrungen aber noch mehr, so wird er endlich für sich selbst klar darüber werden, was Varietät und was Species zu nennen sei; doch wird er zu diesem Ziele nur gelangen, wenn er eine grosse Abänderungsfähigkeit zugibt, und er wird die Richtigkeit seiner Annahme von anderen Naturforschern oft in Zweifel gezogen sehen. Wenn er nun überdies verwandte Formen aus anderen jetzt nicht unmittelbar aneinandergrenzenden Ländern zu studieren Gelegenheit erhält, in welchem Falle er kaum hoffen darf, die Mittelglieder zwischen seinen zweifelhaften Formen zu finden, so wird er sich fast ganz auf Analogie verlassen müssen, und seine Schwierigkeiten kommen auf den Höhepunkt.
Eine bestimmte Grenzlinie ist bis jetzt sicherlich nicht gezogen worden, weder zwischen Arten und Unterarten, d.h. solchen Formen, welche nach der Meinung einiger Naturforscher den Rang einer Species nahezu, aber doch nicht ganz erreichen, noch zwischen Unterarten und ausgezeichneten Varietäten, noch endlich zwischen den geringeren Varietäten und individuellen Verschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten greifen in einer unmerklichen Reihe ineinander, und eine Reihe erweckt die Vorstellung von einem wirklichen Übergang.
Ich betrachte daher die individuellen Abweichungen, wenn schon sie für den Systematiker nur wenig Werth haben, als für uns von grosser Bedeutung, weil sie den ersten Schritt zu solchen unbedeutenden Varietäten bilden, welche man in naturgeschichtlichen Werken der Erwähnung kaum schon werth zu halten pflegt. Ich sehe ferner diejenigen Varietäten, welche etwas erheblicher und beständiger sind, als die uns zu den mehr auffälligen und bleibenderen Varietäten führende Stufe an, wie uns diese zu den Subspecies und endlich zu den Species leiten. Der Übergang von einer dieser Verschiedenheitsstufen in die andere nächsthöhere mag in vielen Fällen lediglich von der Natur des Organismus und der langwährenden Einwirkung verschiedener äusserer Bedingungen, welchen derselbe ausgesetzt war, herrühren; aber in Bezug auf die bedeutungsvolleren und adaptiven Charactere kann er der später zu erörternden accumulativen Wirkung der natürlichen Zuchtwahl und der Einwirkung des vermehrten Gebrauchs und Nichtgebrauchs von Theilen zugeschrieben werden. Ich glaube daher, dass man eine gut ausgeprägte Varietät mit Recht eine beginnende Species nennen kann; ob sich aber dieser Glaube rechtfertigen lasse, muss nach dem Gewicht der[72] im Verlaufe dieses Werkes beigebrachten Thatsachen und Betrachtungen ermessen werden.
Man hat nicht nöthig, anzunehmen, dass alle Varietäten oder beginnenden Species sich nothwendig zum Range einer Art erheben. Sie können in diesem beginnenden Zustande wieder erlöschen; oder sie können als Varietäten sehr lange Zeiträume hindurch feststehen bleiben, wie WOLLASTON von den Varietäten gewisser fossiler Landschneckenarten auf Madeira und GASTON DE SAPORTA von Pflanzen gezeigt hat. Gediehe eine Varietät derartig, dass sie die elterliche Species an Zahl überträfe, so würde man sie für die Art und die Art für die Varietät einordnen; oder sie könnte die elterliche Art verdrängen und ausmerzen; oder endlich beide könnten nebeneinander fortbestehen und für unabhängige Arten gelten. Wir werden jedoch nachher auf diesen Gegenstand zurückkommen.
Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass ich den Kunstausdruck »Species« als einen arbiträren und der Bequemlichkeit halber auf eine Reihe von einander sehr ähnlichen Individuen angewendeten betrachte, und dass er von dem Kunstausdrucke »Varietät«, welcher auf minder abweichende und noch mehr schwankende Formen Anwendung findet, nicht wesentlich verschieden ist. Eben so wird der Ausdruck »Varietät« im Vergleich zu blossen individuellen Verschiedenheiten nur arbiträr und der Bequemlichkeit wegen benutzt.
Durch theoretische Betrachtungen geleitet, glaubte ich, dass sich einige interessante Ergebnisse in Bezug auf die Natur und die Beziehungen der am meisten variierenden Arten darbieten würden, wenn ich alle Varietäten aus verschiedenen wohlbearbeiteten Floren tabellarisch zusammenstellte. Anfangs schien mir dies eine einfache Sache zu sein. Aber Herr H. C. WATSON, dem ich für seinen werthvollen Rath und Beistand in dieser Beziehung sehr dankbar bin, überzeugte mich bald, dass dies mit vielen Schwierigkeiten verknüpft ist, was späterhin Dr. HOOKER in noch bestimmterer Weise bestätigte. Ich behalte mir daher für ein künftiges Werk die Erörterung dieser Schwierigkeiten und die Tabellen über die Zahlenverhältnisse der variierenden Species vor. Dr. HOOKER erlaubt mir noch hinzuzufügen, dass, nachdem er sorgfältig meine handschriftlichen Aufzeichnungen durchgelesen und meine Tabellen geprüft hat, er die in dem Folgenden mitgetheilten Sätze für vollkommen wohl begründet hält. Der ganze Gegenstand aber, welcher hier nothwendig[73] nur sehr kurz abgehandelt werden kann, ist ziemlich verwickelt, zumal Bezugnahmen auf den »Kampf um's Dasein«, auf die »Divergenz der Charactere« und andere erst später zu erörternde Fragen nicht vermieden werden können.
ALPHONSE DE CANDOLLE u. a. Botaniker haben gezeigt, dass solche Pflanzen, die sehr weit ausgedehnte Verbreitungsbezirke besitzen, gewöhnlich auch Varieten darbieten, wie es sich ohnedies schon hätte erwarten lassen, da sie verschiedenen physikalischen Einflüssen ausgesetzt sind und mit anderen Gruppen von Organismen in Concurrenz kommen, was, wie sich nachher ergeben wird, ein Umstand von gleicher oder selbst noch grösserer Bedeutung ist. Meine Tabellen zeigen aber ferner, dass auch in einem bestimmt begrenzten Gebiete die gemeinsten, d.h. die in den zahlreichsten Individuen vorkommenden Arten und jene, welche innerhalb ihrer eigenen Gegend am meisten verbreitet sind (was von »weiter Verbreitung« und in gewisser Weise von »Gemeinsein« wohl zu unterscheiden ist), am häufigsten zur Entstehung von Varietäten Veranlassung geben, welche hinreichend ausgeprägt sind, um sie in botanischen Werken aufgezählt zu finden. Es sind mithin die am besten gedeihenden oder, wie man sie nennen kann, die dominierenden Arten, – nämlich die am weitesten über die Erdoberfläche und in ihrer eigenen Gegend am allgemeinsten verbreiteten und die an Individuen reichsten Arten, welche am öftesten wohl ausgeprägte Varietäten oder, wofür ich sie halte, beginnende Species liefern. Und dies dürfte vielleicht vorauszusehen gewesen sein; denn so wie Varietäten, um einigermassen stet zu werden, nothwendig mit anderen Bewohnern der Gegend zu kämpfen haben, so werden auch die bereits herrschend gewordenen Arten am meisten geeignet sein, Nachkommen zu liefern, welche, wenn auch in einem geringen Grade modificiert, doch diejenigen Vorzüge erben, durch welche ihre Eltern befähigt wurden, über ihre Landesgenossen das Übergewicht zu erringen. Bei diesen Bemerkungen über das Übergewicht ist jedoch zu berücksichtigen, dass sie sich nur auf diejenigen Formen beziehen, welche zu einander und namentlich zu Gliedern derselben Gattung oder Classe mit ganz ähnlicher Lebensweise im Verhältnisse der Concurrenz stehen. Hinsichtlich der Individuenzahl oder der Gemeinheit einer Art erstreckt sich daher die Vergleichung natürlich nur auf Glieder der nämlichen Gruppe. Man kann eine der höheren Pflanzen eine herrschende nennen, wenn sie an Individuen reicher und weiter verbreitet als die anderen unter nahezu ähnlichen[74] Verhältnissen lebenden Pflanzen des nämlichen Landes ist. Eine solche Pflanze wird darum nicht weniger eine herrschende sein, weil etwa eine Conferve des Wassers oder ein schmarotzender Pilz unendlich viel zahlreicher an Individuen und noch weiter verbreitet ist als sie. Wenn aber eine Conferve oder ein Schmarotzerpilz seine Verwandten in den oben genannten Beziehungen übertrifft, dann würden diese Formen unter den Pflanzen ihrer eigenen Classe herrschende sein.
Wenn man die ein Land bewohnenden Pflanzen, wie sie in einer Flora desselben beschrieben sind, in zwei gleiche Mengen theilt, auf die eine Seite alle Arten aus grossen (d.h. viele Arten umfassenden), und auf die andere Seite alle Arten aus kleinen Gattungen bringt, so wird man eine etwas grössere Anzahl sehr gemeiner und sehr verbreiteter oder herrschender Arten auf Seiten der grossen Genera finden. Auch dies hat vorausgesehen werden können; denn schon die einfache Thatsache, dass viele Arten einer und der nämlichen Gattung ein Land bewohnen, zeigt, dass die organischen und unorganischen Verhältnisse des Landes etwas für die Gattung Günstiges enthalten, daher man erwarten durfte, in den grösseren oder viele Arten enthaltenden Gattungen auch eine verhältnismässig grössere Anzahl herrschender Arten zu finden. Aber es gibt so viele Ursachen, welche dieses Ergebnis zu verhüllen streben, dass ich erstaunt bin, in meinen Tabellen auch selbst eine kleine Majorität auf Seiten der grösseren Gattungen zu finden. Ich will hier nur zwei Ursachen dieser Verhüllung anführen. Süsswasser- und Salzpflanzen haben gewöhnlich weit ausgedehnte Bezirke und eine grosse Verbreitung; dies scheint aber mit der Natur ihrer Standorte zusammenzuhängen und hat wenig oder gar keine Beziehung zu der Grösse der Gattungen, wozu sie gehören. Ebenso sind Pflanzen von unvollkommenen Organisationsstufen gewöhnlich viel weiter als die höher organisierten verbreitet, und auch hier besteht kein nahes Verhältnis zur Grösse der Gattungen. Die Ursache weiter Verbreitung niedrig organisierter Pflanzen wird in dem Capitel über die geographische Verbreitung erörtert werden.
Der Umstand, dass ich die Arten nur als stark ausgeprägte und wohl umschriebene Varietäten betrachte, führte mich zu der Voraussetzung, dass die Arten der grösseren Gattungen eines Landes[75] öfter Varietäten darbieten würden als die der kleineren; denn wo immer sich viele einander nahe verwandte Arten (d.h. Arten derselben Gattungen) gebildet haben, sollten sich, als allgemeine Regel, auch viele Varietäten derselben oder beginnende Arten jetzt bilden, – wie man da, wo viele grosse Bäume wachsen, viele junge Bäumchen aufkommen zu sehen erwarten darf. Wo viele Arten einer Gattung durch Abänderung entstanden sind, da sind die Umstände günstig für Abänderung gewesen; und man möchte mithin auch erwarten, sie noch jetzt dafür günstig zu finden. Wenn wir dagegen jede Art als einen besonderen Act der Schöpfung betrachten, so ist kein Grund einzusehen, weshalb verhältnismässig mehr Varietäten in einer artenreichen Gruppe als in einer solchen mit wenigen Arten vorkommen sollten.
Um die Richtigkeit dieser Voraussetzung zu prüfen, habe ich die Pflanzenarten von zwölf verschiedenen Ländern und die Käferarten von zwei verschiedenen Gebieten in je zwei einander fast gleiche Mengen getheilt, die Arten der grossen Gattungen auf die eine und die der kleinen auf die andere Seite, und es hat sich unwandelbar überall dasselbe Ergebnis gezeigt, dass eine verhältnismässig grössere Anzahl von Arten auf Seite der grossen Gattungen Varietäten haben als auf Seite der kleinen. Überdies bieten diejenigen Arten der grossen Genera, welche überhaupt Varietäten haben, unveränderlich eine verhältnismässig grössere Zahl von Varietäten dar, als die der kleineren. Zu diesen beiden Ergebnissen gelangt man auch, wenn man die Eintheilung anders macht und alle kleinsten Gattungen, solche mit nur 1 – 4 Arten, ganz aus den Tabellen ausschliesst. Diese Thatsachen haben einen völlig klaren Sinn, wenn man von der Ansicht ausgeht, dass Arten nur streng ausgeprägte und bleibende Varietäten sind; denn wo immer viele Arten einer und derselben Gattung gebildet worden sind oder wo, wenn der Ausdruck erlaubt ist, die Artenfabrication thätig betrieben worden ist, dürfen wir gewöhnlich diese Fabrication auch noch in Thätigkeit finden, zumal wir alle Ursache haben zu glauben, dass das Fabricationsverfahren neuer Arten ein sehr langsames ist. Und dies ist sicherlich der Fall, wenn man Varietäten als beginnende Arten betrachtet; denn meine Tabellen zeigen deutlich als allgemeine Regel, dass, wo immer viele Arten einer Gattung gebildet worden sind, die Arten dieser Gattung eine den Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder von beginnenden neuen Arten darbieten. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle grossen Gattungen[76] jetzt sehr variieren und daher in Vermehrung ihrer Artenzahl begriffen sind, oder dass kein kleines Genus jetzt Varietäten bilde und wachse; denn dieser Fall wäre sehr verderblich für meine Theorie, zumal uns die Geologie klar beweist, dass kleine Genera im Laufe der Zeiten oft sehr gross geworden, und dass grosse Gattungen, nachdem sie ihr Maximum erreicht, wieder zurückgesunken und endlich verschwunden sind. Alles, was wir hier beweisen wollen, ist, dass da, wo viele Arten in einer Gattung gebildet worden, auch noch jetzt durchschnittlich viele in Bildung begriffen sind; und dies ist gewiss richtig.
Es gibt noch andere beachtenswerthe Beziehungen zwischen den Arten grosser Gattungen und ihren aufgeführten Varietäten. Wir haben gesehen, dass es kein untrügliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Arten und gut ausgeprägten Varietäten gibt; und in jenen Fällen, wo Mittelglieder zwischen zweifelhaften Formen noch nicht gefunden wurden, sind die Naturforscher genöthigt, ihre Bestimmung von der Grösse der Verschiedenheiten zwischen zwei Formen abhängig zu machen, indem sie nach Analogie urtheilen, ob deren Betrag genüge, um nur eine oder alle beide zum Range von Arten zu erheben. Der Betrag der Verschiedenheit ist mithin ein sehr wichtiges Kriterium bei der Bestimmung, ob zwei Formen für Arten oder für Varietäten gelten sollten. Nun haben FRIES in Bezug auf die Pflanzen und WESTWOOD hinsichtlich der Insecten die Bemerkung gemacht, dass in grossen Gattungen der Grad der Verschiedenheit zwischen den Arten oft ausserordentlich klein ist. Ich habe dies numerisch durch Mittelzahlen zu prüfen gesucht und, soweit meine noch unvollkommenen Ergebnisse reichen, bestätigt gefunden. Ich habe mich deshalb auch bei einigen scharfsinnigen und erfahrenen Beobachtern befragt und nach Auseinandersetzung der Sache gefunden, dass wir übereinstimmten. In dieser Hinsicht gleichen demnach die Arten der grossen Gattungen den Varietäten mehr, als die Arten der kleinen Gattungen. Man kann die Sache aber auch anders ausdrücken und sagen, dass in den grösseren Gattungen, wo eine den Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder beginnenden Species noch jetzt fabriciert wird, viele der bereits fertigen Arten doch bis zu einem gewissen Grade Varietäten gleichen, insofern sie durch ein geringeres[77] Mass von Verschiedenheit als das gewöhnliche von einander getrennt werden.
Überdies stehen die Arten grosser Gattungen in den nämlichen Verwandtschaftsbeziehungen zu einander wie die Varietäten einer Art. Kein Naturforscher behauptet, dass alle Arten einer Gattung in gleichem Grade von einander verschieden sind; sie können daher gewöhnlich noch in Subgenera, in Sectionen oder noch kleinere Gruppen getheilt werden. Wie FRIES richtig bemerkt, sind diese kleinen Artengrup pen gewöhnlich wie Satelliten um gewisse andere Arten geschaart. Und was sind Varietäten anders als Formengruppen von ungleicher gegenseitiger Verwandtschaft und um gewisse Formen geordnet, um die Stammarten nämlich? Unzweifelhaft besteht ein äusserst wichtiger Differenzpunkt zwischen Varietäten und Arten; dass nämlich die Grösse der Verschiedenheit zwischen Varietäten, wenn man sie miteinander oder mit ihren Stammarten vergleicht, weit kleiner ist, als der zwischen den Arten derselben Gattung. Wenn wir aber zur Erörterung des Princips, wie ich es nenne, der »Divergenz der Charactere« kommen, so werden wir sehen, wie dies zu erklären ist, und wie die geringeren Verschiedenheiten zwischen Varietäten zu den grösseren Verschiedenheiten zwischen Arten anzuwachsen streben.
Es gibt noch einen andern Punkt, welcher der Beachtung werth ist. Varietäten haben gewöhnlich eine sehr beschränkte Verbreitung; dies versteht sich eigentlich schon von selbst, denn wäre eine Varietät weiter verbreitet, als ihre angebliche Stammart, so würden ihre Bezeichnungen umgekehrt werden. Es ist aber auch Grund zur Annahme vorhanden, dass diejenigen Arten, welche sehr nahe mit anderen Arten verwandt sind und insofern Varietäten gleichen, oft sehr enge Verbreitungsgrenzen haben. So hat mir z.B. Herr H. C. WATSON in dem wohlgesichteten Londoner Pflanzencatalog (vierte Ausgabe) 63 Pflanzen bezeichnet, welche darin als Arten aufgeführt sind, die er aber für so nahe mit anderen Arten verwandt hält, dass ihr Rang zweifelhaft wird. Diese 63 für Arten gehaltenen Formen verbreiten sich im Mittel über 6,9 der Provinzen, in welche WATSON Gross-Britannien eingetheilt hat. Nun sind im nämlichen Cataloge auch 53 anerkannte Varietäten aufgezählt, und diese erstrecken sich über 7,7 Provinzen, während die Arten, wozu diese Varietäten gehören, sich über 14,3 Provinzen ausdehnen. Daher denn die anerkannten Varietäten eine beinahe ebenso beschränkte mittlere Verbreitung besitzen, als jene nahe verwandten Formen, welche WATSON[78] als zweifelhafte Arten bezeichnet hat, die aber von englischen Botanikern fast ganz allgemein für gute und echte Arten genommen werden.
Es können denn also Varietäten von Arten nicht unterschieden werden, ausser: erstens durch die Entdeckung von verbindenden Mittelgliedern, und zweitens durch ein gewisses unbestimmtes Mass von Verschiedenheit zwischen ihnen; denn zwei Formen werden, wenn sie nur sehr wenig von einander abweichen, allgemein nur als Varietäten angesehen, wenn sie auch durch Mittelglieder nicht verbunden werden können; der Betrag von Verschiedenheit aber, welcher zur Erhebung zweier Formen zum Artenrang für nöthig gehalten wird, kann nicht bestimmt werden. In Gattungen, welche mehr als die mittlere Artenzahl in einer Gegend haben, zeigen die Arten auch mehr als die Mittelzahl von Varietäten. In grossen Gattungen sind die Arten gern nahe, aber in ungleichem Grade miteinander verwandt und bilden kleine um gewisse andere Arten sich ordnende Gruppen. Mit anderen sehr nahe verwandte Arten sind allem Anschein nach von beschränkter Verbreitung. In allen diesen verschiedenen Beziehungen zeigen die Arten grosser Gattungen eine grosse Analogie mit Varietäten. Und man kann diese Analogien ganz gut verstehen, wenn Arten einst nur Varietäten gewesen und aus diesen hervorgegangen sind; wogegen diese Analogien vollständig unerklärlich sein würden, wenn jede Species unabhängig erschaffen worden wäre.
Wir haben nun auch gesehen, dass es die am besten gedeihenden oder herrschenden Species der grösseren Gattungen in jeder Classe sind, welche im Durchschnitt genommen die grösste Zahl von Varietäten liefern; und Varietäten haben, wie wir hernach sehen werden, Neigung in neue und bestimmte Arten verwandelt zu werden. Dadurch neigen auch die grossen Gattungen zur Vergrösserung, und in der ganzen Natur streben die Lebensformen, welche jetzt herrschend sind, durch Hinterlassung vieler abgeänderter und herrschender Abkömmlinge noch immer herrschender zu werden. Aber auf nachher zu erläuternden Wegen streben auch die grösseren Gattungen immer mehr sich in kleine aufzulösen. Und so werden die Lebensformen auf der ganzen Erde in Gruppen abgetheilt, welche anderen Gruppen untergeordnet sind.[79]
Ausgewählte Ausgaben von
Über die Entstehung der Arten
|
Buchempfehlung
Der Schluß vom Allgemeinen auf das Besondere, vom Prinzipiellen zum Indiviudellen ist der Kern der naturphilosophischen Lehrschrift über die Grundlagen unserer Begrifflichkeit von Raum, Zeit, Bewegung und Ursache. »Nennen doch die Kinder zunächst alle Männer Vater und alle Frauen Mutter und lernen erst später zu unterscheiden.«
158 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro