Metaphysik und Naturwissenschaft

[208] Die Leistungen einer solchen Naturerklärung sind durch diesen ihren Charakter bestimmt. Wie die platonische Schule ein Mittelpunkt für mathematische Forschung war, so wurde es nun die aristotelische für die beschreibenden und vergleichenden Wissenschaften. Gerade weil die Bedeutung dieser aristotelischen Schule für den Fortschritt der Wissenschaften so unermeßlich, der in ihr lebende Geist wissenschaftlicher Betrachtung, empirischer Forschung so hoch[208] entwickelt gewesen ist, hat die Frage ein lebhaftes Interesse erregt, warum auch diese Schule sich mit unbestimmten, vereinzelten und teilweise irrigen Vorstellungen von Bewegung, Druck, Schwere usw. genügen ließ, warum sie nicht zu gesunderen mechanischen und physikalischen Vorstellungen fortging. Man fragt nach den Ursachen der Einschränkung der erfolgreichen griechischen Einzelforschung auf die formalen Wissenschaften der Mathematik und der Logik sowie auf die beschreibenden und vergleichenden Wissenschaften innerhalb eines so langen Zeitraums. Diese Frage steht augenscheinlich mit der anderen in Zusammenhang, wodurch die Herrschaft der Metaphysik der substantialen Formen bedingt war. Der formale und deskriptive Charakter der Wissenschaften und die Metaphysik der Formen sind korrelative geschichtliche Tatsachen. Man bewegt sich nun im Zirkel, wenn man die Metaphysik als die Ursache betrachtet, welche den Fortschritt des wissenschaftlichen Geistes über diese seine damaligen Schranken hinaus gehemmt habe; denn alsdann muß die Macht dieser Metaphysik erklärt werden. Dies deutet darauf, daß beides, sowohl der Charakter der Wissenschaften in diesem Stadium als die Herrschaft der Metaphysik, in gemeinsamen, tiefer zurückliegenden Ursachen gegründet sei.

Es fehlte den Alten nicht an Sinn für Tatsachen und Beobachtung; ja auch das Experiment ward von ihnen in größerem Umfang, als man gewöhnlich annimmt, angewandt, wenn auch die sozialen Verhältnisse hier hinderlich waren: der Gegensatz einer regierenden Bürgerschaft, welche zugleich die Wissenschaft pflegte, zu dem Sklavenstande, welchem die Arbeit mit der Hand zufiel, verbunden damit die Mißachtung der körperlichen Arbeit. Das Genie der Beobachtung in Aristoteles, die Ausbreitung desselben über ein ungeheures Gebiet haben in immer zunehmendem Grade die Bewunderung der positiven Forscher in der neueren Zeit erregt. Wenn Aristoteles nicht selten das, was Beobachtungen darbieten und was durch Schluß, insbesondere durch Analogie, aus ihnen abgeleitet ist, verwechselt, so macht sich hierin allerdings das Vorherrschen des Räsonnements im griechischen Geiste nachteilig geltend. Ferner findet sich in den Schriften des Aristoteles eine große Anzahl von Experimenten erwähnt, die teils von anderen vor ihm angestellt waren, teils von ihm selber gemacht worden sind. Aber hier fällt nun die Ungenauigkeit in der Wiedergabe derselben auf, der Mangel jeder Art von quantitativen Bestimmungen, besonders aber die Unfruchtbarkeit des Experimentierens bei Aristoteles und seinen Zeitgenossen für wirkliche Auflösung theoretischer Fragen. Es bestand nicht eine Abneigung gegen das Experiment, wohl aber eine Unfähigkeit, von demselben den richtigen Gebrauch[209] zu machen. Auch kann diese nicht in dem Mangel an Instrumenten, welche quantitative Bestimmungen ermöglichten, gelegen haben. Erst wo die Fragen an die Natur solche fordern, werden dieselben erfunden, und selbst der Mangel einer von wissenschaftlich Gebildeten betriebenen Industrie hätte das Hervortreten solcher Erfindungen doch nur erschweren können.

Zunächst kann nun die Tatsache nicht bestritten werden, daß die kontemplative Verfassung des griechischen Geistes, welcher den gedankenmäßigen und ästhetischen Charakter der Formen auffaßte, das wissenschaftliche Nachdenken in der Betrachtung festhielt und die Verifikation der Ideen an der Natur erschwerte. Das Menschengeschlecht beginnt nicht mit voraussetzungslosen methodischen Untersuchungen der Natur, sondern mit inhaltlich erfüllter Anschauung, religiöser zuerst, dann mit der kontemplativen Betrachtung des Kosmos, in welcher der Zweckzusammenhang der Natur fortdauernd festgehalten wird. Orientierung, Auffassung der Formen und Zahlenverhältnisse im Weltall ist das erste; die Ordnung des Himmels wird mit religiöser Scheu und kontemplativer Seligkeit in ihrer Vollkommenheit angeschaut; die Geschlechter der Organismen lassen eine aufsteigende, von physischem Leben erfüllte Zweckmäßigkeit gewahren und ermöglichen vermittels ihrer eine deskriptive Wissenschaft. So wendet sich die Betrachtung, welche der ältere Glaube direkt auf den Himmel gerichtet hatte, der Einzelforschung über die Naturkörper auf der Erde zu, wird aber auch hier länger durch eine in der Naturreligion gegründete fromme Scheu von Zergliederung des Lebendigen zurückgehalten. Dieser Zauberkreis der Anschauung eines idealen Zusammenhangs schließt sich in sich, scheint nirgend eine Lücke zu zeigen, und es ist der Triumph der Metaphysik, ihm alle Tatsachen, welche die Erfahrung darbietet, einzuordnen. – Dieser geschichtliche Tatbestand kann keinem Zweifel unterliegen, und es kann sich nur fragen, welche Tragweite er als Erklärungsgrund habe. Es sei jedoch gestattet, einen zweiten Erklärungsgrund von mehr hypothetischem Charakter einzuführen. Die abgesonderte Betrachtung eines Kreises zusammengehöriger Teilinhalte, wie sie Mechanik, Optik, Akustik darbieten, setzt einen hohen Grad von Abstraktion in dem Forscher voraus, welcher nur das Ergebnis langer technischer Ausbildung der isolierten Wissenschaft ist. In der Mathematik war eine solche Abstraktion durch später zu erörternde psychologische Verhältnisse von Anfang an vorbereitet. In der Astronomie wurde infolge der Entfernung der Gestirne die Betrachtung ihrer Bewegungen von der ihrer übrigen Eigenschaften losgelöst. Aber auf keinem anderen Gebiet ist vor der alexandrinischen Schule eine Anzahl[210] verwandter, zusammengehöriger Teilinhalte der Naturerscheinungen einer bestimmten und ihnen angemessenen erklärenden Vorstellung unterworfen worden. Geniale Aperçus wie das der pythagoreischen Schule über die Tonverhältnisse hatten keine durchgreifenden Folgen. Die beschreibende und vergleichende Naturwissenschaft bedurfte solcher Abstraktion nicht, sie hatte in der Vorstellung des Zweckes einen Leitfaden und führte vorläufig auf psychische Ursachen zurück. So erklärt sich die Verbindung der glänzenden Leistungen der aristotelischen Schule auf diesem Gebiet mit dem gänzlichen Mangel gesunder mechanischer und physikalischer Vorstellungen in derselben.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 208-211.
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