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[211] Den Schlußpunkt der Metaphysik des Aristoteles bildet seine Theologie. In ihr vollzieht sich erst die vollständige Verknüpfung des Anaxagoreischen Monotheismus mit der Lehre von den substantialen Formen.
Seit Anaxagoras ist die herrschende europäische Metaphysik Begründung der Lehre von einer letzten, intelligenten und der Welt gegenüber selbständigen Ursache derselben. Diese Lehre tritt aber hier unter veränderte Bedingungen der metaphysischen Begriffe und der allgemeinwissenschaftlichen Lage. So erfährt sie eine Reihe von Umgestaltungen während des auf Anaxagoras folgenden zweitausendjährigen Lebens der Metaphysik. Die Umgestaltungen liegen in den Schriften von Plato, Aristoteles und den Philosophen des Mittelalters mit zureichender Klarheit vor und erfordern daher keine eingehende Erörterung des Tatbestandes. Der Zusammenhang dieser Geschichte verlangt nur den Nachweis, daß die Metaphysik fortdauernd anastronomischen Schlüssen einen positiven, wissenschaftlichen Rückhalt hatte, welcher ihr unerschütterliche Sicherheit gab. Diese Schlüsse, unterstützt durch solche aus der Zweckmäßigkeit der Organismen, haben erheblich dazu beigetragen, daß die Metaphysik zweitausend Jahre den Charakter einer Weltmacht behielt: königliche Gewalt, nicht in dem engen Kreise von Gelehrten, sondern über die Gemüter aller Gebildeten, wodurch auch die ungebildeten Massen ihr untergeordnet blieben. Das religiöse Erlebnis, welches für den Glauben an Gott die tiefste und unzerstörbare Grundlage enthält, wird nur bei einer Minderheit der Menschen in der von dem Wirbel der egoistischen Interessen nicht gestörten Besonnenheit eines gläubigen Herzens verstanden. Die Autorität der Kirche ist im Mittelalter oft bestritten worden. Die äußeren Mittel des kirchlichen Gehorsams und des kirchlichen Strafsystems haben beständige gärende Bewegungen und die schließliche Zerspaltung[211] der Kirche nicht aufhalten können. Aber unerschüttert steht in diesen zweitausend Jahren die auf die Lage der europäischen Wissenschaft gegründete Metaphysik der intelligenten Weltursache.
Aristoteles hat auch in diesem Punkte die Gestalt der europäischen Metaphysik wesentlich durch die Art, wie er die wichtigsten Tatsachen und Schlüsse zusammenfaßte, bestimmt. Die Gottheit ist der Beweger, durch welchen schließlich alle Bewegungen innerhalb des Kosmos (wenn auch auf vermittelte Weise) bedingt sind; und zwar sind die Bewegungen der Gestirne in ihrer Gedankenmäßigkeit ein Ausdruck der im Zwecke liegenden Bewegungskraft; die Astronomie ist die der Philosophie nächstverwandte mathematische Wissenschaft.179 Diese Gedanken schreiten in der von Anaxagoras zuerst betretenen Bahn fort, und ein Zug der Ideen wirkt von ihnen weiter bis auf die von dem gedankenmäßigen, harmonischen Charakter der Welt getragenen Forschungen Keplers, nach welchen in Abmessungen und Zahlen die Vollkommenheit Gottes sich abspiegelt.
Die Theologie des Aristoteles liegt in der Abhandlung vor, welche als zwölftes Buch der Sammlung der metaphysischen Schriften eingefügt ist. Sie enthält den Höhepunkt derselben; denn sie erweist das Dasein der Einzelsubstanz, welche immateriell und veränderungslos ist und von Anfang an als das eigentliche Objekt der Ersten Philosophie von Aristoteles bezeichnet worden ist.180 Die Abhandlung steht einerseits mit dem Schluß der Physik sowie der Schrift über das Himmelsgebäude, andererseits mit den Grundbestimmungen der metaphysischen Schriften in Beziehung.
Diese Aristotelische Theologie beherrscht das ganze Mittelalter. Jedoch übernahm in der späteren philosophischen Entwicklung die erstgeschaffene Intelligenz die Stelle des Bewegers des Fixsternhimmels, und aus den göttlichen Substanzen, durch welche Aristoteles die zusammengesetzten Bewegungen der anderen Weltkörper hervorbringen läßt, wurde ein phantastisches Reich von Gestirngeistern. Der Gegensatz der Welt des Äthers und der Kreisbewegung zu der Welt der vier andern Elemente und der geradlinigen Bewegungen, sonach des Bezirks des Ewigen zu dem des Entstehens und Vergehens wurde nun zum räumlichen Rahmen eines aus der inneren Welt stammenden Gegensatzes. So entstand jene Vorstellung, welche Dantes unsterbliches Gedicht verewigt hat.
Der Schluß des Aristoteles auf den unbewegten Beweger hat zwei Seiten.
Die erste Seite dieser Beweisführung zeigt besonders deutlich, wie[212] innerhalb dieser Metaphysik für den Willen, welcher von innen anfängt, keine Stelle ist, so daß diejenige Transzendenz, deren Wesen ist, von der Natur auf den Willen zurückzugehen, für sie noch nicht da ist. Aristoteles also lehrt folgendes. – Die Bewegung ist ewig, ein zeitlicher Anfang derselben kann nicht gedacht werden. Das System der Bewegungen im Kosmos kann nun nicht so vorgestellt werden, daß jede Bewegung rückwärts eine weitere Bewegungsursache habe und diese Kette der Bewegungsursachen in das Unendliche verlaufe; denn so kämen wir nie zu einer wahrhaft wirkenden, ersten Ursache, ohne welche doch schließlich alle Wirkungen unerklärt bleiben würden. Sonach muß ein letzter Haltpunkt angenommen werden. – Und zwar muß diese erste Ursache als unbewegt bestimmt werden. Wenn sie sich selber bewegt, so muß in ihr das, was bewegt wird, von dem, was bewegt und welchem sonach Bewegtwerden nicht zukommt, unterschieden werden. Da die Bewegung kontinuierlich ist, kann sie nicht auf einen veränderlichen Willen nach Art der Willen in den beseelten Wesen zurückgeführt werden, sondern muß in eine erste unbewegte Ursache zurückgehn. So gelangen wir zu dem unbewegten Beweger als der reinen Aktivität oder dem actus purus sowie zu der metaphysischen Konstruktion der ersten Bewegung als Kreisbewegung.181
Die andere Seite des Beweises benutzt die Betrachtung der gedankenmäßigen Formen, welche sich in den Bewegungen des Kosmos verwirklichen. Bewegung erscheint in diesem Zusammenhang als ein Bestimmtwerden der Materie durch die Form. Da die Bewegung in der Gestirnwelt unwandelbar sich selber gleich und in sich zurückkehrend ist, so muß die Energie, welche sie hervorbringt, als unkörperliche Form oder reine Energie gedacht werden. In dieser fällt der letzte Zweck mit der bewegenden Kraft der Welt zusammen.182 »Diesen obersten Zweck zu er reichen ist für alle das beste«; derselbe »bewegt wie etwas, das geliebt wird«,183 – Dieser Seite der Beweisführung des Monotheismus gehört die bei Cicero erhaltene erhabene Darstellung an. Der Gedanke des Anaxagoras ist hier von Aristoteles zu dem umfassenden Beweis des Daseins Gottes aus der Zweckmäßigkeit der Welt entfaltet, und das ganze System des Aristoteles kann ja schließlich zu einem solchen Beweis zusammengeordnet werden. »Man denke sich Menschen von jeher unter der Erde wohnen in guten und hellen Häusern, welche mit Bildsäulen und Gemälden ausgeziert und[213] mit allen Dingen versehen wären, an denen die Überfluß haben, welche für glücklich gehalten werden. Aber sie wären niemals an die Oberfläche der Erde heraufgekommen, hätten nur durch eine dunkle Sage vernommen, eine Gottheit existiere und Macht der Götter. Täte sich nun diesen Menschen einmal die Erde auf, vermöchten sie dann aus ihren verborgenen Sitzen zu den von uns bewohnten Orten emporzusteigen und nun hinauszutreten; sähen sie dann plötzlich die Erde, die Meere und den Himmel, nähmen die Wolkenmassen wahr und die Gewalt der Winde; blickten zur Sonne auf, erkennten ihre Größe und Schönheit und auch ihre Wirkung, daß sie es ist, welche den Tag schafft, indem sie ihr Licht über den ganzen Himmel ergießt; erblickten dann, nachdem die Nacht die Erde beschattete, den ganzen Himmel mit Sternen besetzt und geschmückt und betrachteten das wechselnde Mondlicht in seinem Wachsen und Schwinden, aller dieser Himmelskörper Auf- und Untergang und ihre ewigen, unveränderlichen Bahnen: dann würden sie gewiß überzeugt sein, daß Götter existieren, und diese gewaltigen Werke von Göttern ausgehen.«184 Auch diese dichterische Darstellung sucht in der Schönheit und Gedankenmäßigkeit der Bahnen der Himmelskörper eine Stütze für den Monotheismus.
Aber der monotheistische Grundgedanke nimmt in Aristoteles, wie in Plato, die Annahme von mehreren nicht aus Gott stammenden Ursachen in sich auf.
Das astronomische Problem war viel komplizierter geworden, die Bahnen der Planeten bildeten die Hauptfrage. Es ward versucht, die scheinbaren Bahnen auf Drehungen von Sphären, verschieden nach Zeitdauer, Richtung und Umkreis, zurückzuführen, und die Drehung solcher Sphären, an welchen die Gestirne befestigt sind, legte nun auch Aristoteles zugrunde. Somit lagen die Voraussetzungen dieser astronomischen Theorie in dem Ineinandergreifen dieser verschiedenen Drehungen. Weder Aristoteles noch ein anderer Denker des Jahrtausends, das auf ihn folgte, hat diese Voraussetzungen in den Zusammenhang einer mechanischen Vorstellung gebracht. Und so faßt denn Aristoteles das Verhältnis dieser Bewegungen zueinander mythisch als innere Beziehung von psychischen Kräften, von Gestirngeistern zueinander auf; jede dieser psychischen Kräfte verwirklicht gleichsam eine bestimmte Idee von Kreisbewegung; fünfundfünfzig Sphären (diese Hypothese bevorzugt er als die wahrscheinlichere)185 außer dem Fixsternhimmel greifen mit ihren Drehungen ineinander. Ungeworden, unvergänglich stehen demnach neben der höchsten Vernunft diese fünfundfünfzig Gestirngeister, welche die Drehung der Sphären bewirken,[214] alsdann die Formen der Wirklichkeit, endlich die mit den menschlichen Seelen verbundenen unsterblichen Geister, die ebenfalls als Vernunft bezeichnet werden. Und die Materie ist ebenso eine letzte, unabhängige, Tatsache.
Die Gottheit steht nach Aristoteles zu diesen Prinzipien in einem psychischen Verhältnis; sie bilden einen in ihr den Abschluß findenden Zweckzusammenhang. So herrscht die Gottheit, wie der Feldherr im Heere, d.h. durch die Kraft, vermöge deren eine Seele die andere bestimmt. Hieraus allein erklärt sich der gedankenmäßige Zusammenhang des Weltalls unter ihr als dem Haupte, während sie, doch nicht die hervorbringende Ursache desselben ist. Der reine Geist, das Denken des Denkens, denkt nur sich selber in unwandelbarem, seligem Leben und bewegt, indem er als höchster Zweck anzieht, nicht indem er das im Zwecke Angelegte selber zu vollbringen tätig ist: wie eine Seele also auf andere geringere Seelen wirkt. So ist das letzte Wort der griechischen Metaphysik das zwischen psychischen Wesenheiten stattfindende Verhältnis als Erklärungsgrund des Kosmos, wie es im Götterstaate Homers schon angeschaut worden war.
179 | Arist. Metaph. XII, 8 p. 1073 b 4 |
180 | Arist. Metaph. VI, 1 p. 1026 a 10. |
181 | Diese Argumentation ist mit meisterhafter Strenge im achten Buche der Physik durchgeführt, welches so in die Metaphysik überführt. |
182 | Metaph. XII, 7: populär und ohne Benutzung der metaphysischen Begriffe und des Mittelglieds des astronomischen Tatbestandes gibt Simplic. zu de caelo Schol. p. 487 a 6 die Beweisführung, welche auf das Vollkommenste zurückgeht. |
183 | Arist, de caelo II, 12 p. 292 b 18 Metaph. XII, 7 p. 1072 b 3. |
184 | Cicero de natura deorum II, 37, 95 |
185 | A. a. O. p. 1073 b 16. |
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