[401] Indem die Metaphysik ihre Aufgabe weiter verfolgt, entspringen aus den Bedingungen derselben neue Schwierigkeiten, welche eine Lösung der Aufgabe unmöglich machen. Ein bestimmter innerer objektiver Zusammenhang der Wirklichkeit, unter Ausschluß der möglichen übrigen, ist nicht erweisbar. An einem weiteren Punkte stellen wir daher fest: Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich.
Denn entweder wird dieser Zusammenhang aus apriorischen Wahrheiten abgeleitet, oder er wird an dem Gegebenen aufgezeigt. – Eine Ableitung a priori ist unmöglich. Kant hat die letzte Konsequenz der Metaphysik in der Richtung fortschreitender Abstraktionen gezogen, indem er ein System apriorischer Begriffe und Wahrheiten, wie es schon dem Geiste des Aristoteles und dem von Descartes vorschwebte, wirklich entwickelte. Er hat aber unwiderleglich bewiesen, daß auch unter dieser Bedingung »der Gebrauch unserer Vernunft nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung reicht«. Doch steht vielleicht die Sache der Metaphysik nicht einmal so günstig als Kant annahm. Sind Kausalität und Substanz gar nicht eindeutig bestimmbare Begriffe, sondern der Ausdruck unauflöslicher Tatsachen des Bewußtseins, dann entziehen dieselben sich gänzlich der Benutzung für die denknotwendige Ableitung eines Weltzusammenhangs. – Oder die Metaphysik geht von dem Gegebenen zu seinen Bedingungen rückwärts, dann besteht, wenn man von den willkürlichen Einfällen der deutschen Naturphilosophie absieht, in bezug auf den Naturlauf darüber Einstimmigkeit, daß die Analysis desselben auf Massenteilchen, welche nach Gesetzen aufeinander wirken, als auf letzte der Naturwissenschaft notwendige Bedingungen zurückführt. Nun erkannten wir, daß zwischen dem Bestand dieser Atome und den Tatsachen ihrer Wechselwirkung, des Naturgesetzes und der Naturformen für uns keine Art von Verbindung vorhanden ist. Wir sahen, daß keine Ähnlichkeit zwischen solchen Atomen und den psychischen Einheiten, welche als unvergleichbare Individuen in den Weltlauf eintreten, in ihm lebendig innere Veränderungen erfahren und wieder aus ihm verschwinden, stattfindet. Sonach enthalten die letzten Begriffe, zu denen die Wissenschaften des Wirklichen gelangen, nicht die Einheit des Weltlaufs. – Sind doch auch weder Atome noch Gesetze reale Subjekte des Naturvorgangs. Denn die Subjekte, welche die Gesellschaft bilden, sind uns gegeben, dagegen das Subjekt der Natur oder die Mehrheit von Subjekten derselben nicht, sondern wir besitzen nur das Bild des Naturlaufs[402] und die Erkenntnis seines äußeren Zusammenhangs. Nun ist aber dieser Naturlauf selber samt seinem Zusammenhang nur Phänomen für unser Bewußtsein. Die Subjekte, die wir ihm als Massenteilchen unterlegen, gehören also ebenfalls der Phänomenalität an. Sie sind nur Hilfsbegriffe für die Vorstellung des Zusammenhangs in einem System der prädikativen Bestimmungen, welche die Natur ausmachen: der Eigenschaften, Beziehungen, Veränderungen, Bewegungen. Sie sind daher nur ein Teil des Systems prädikativer Bestimmungen, deren reales Subjekt unbekannt bleibt.
Eine Metaphysik, welche zu verzichten weiß und nur die letzten Begriffe, zu welchen die Erfahrungswissenschaften gelangen, zu einem vorstellbaren Ganzen verknüpfen will, kann weder die Relativität des Erfahrungskreises, den diese Begriffe darstellen, noch die des Standorts und der Verfassung der Intelligenz, welche die Erfahrungen zu einem Ganzen vereinigt, jemals überwinden. Indem wir dies erweisen, zeigt sich von zwei neuen Seiten: Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich.
Die Metaphysik überwindet nicht die Relativität des Erfahrungskreises, aus dem ihre Begriffe gewonnen sind. In den letzten Begriffen der Wissenschaften werden für die bestimmte Zahl gegebener phänomenaler Tatbestände, welche das System unserer Erfahrung bilden, Bedingungen ihrer Denkbarkeit aufgestellt. Nun hat die Vorstellung von diesen Bedingungen sich mit der Zunahme unserer Erfahrungen geändert. So war ein Zusammenhang der Veränderungen nach Gesetzen, der heute die Erfahrungen zu einem System verbindet, dem Altertum nicht bekannt. Daher hat eine solche Vorstellung von Bedingungen immer nur eine relative Wahrheit, d.h. sie bezeichnet nicht eine Realität, sondern entia rationis, Gedankendinge, welche die Herrschaft des Gedankens und des Eingreifens über einen gegebenen eingeschränkten Zusammenhang von Phänomenen ermöglichen. Stellt man sich eine plötzliche Erweiterung menschlicher Erfahrung vor, dann würden die entia rationis, welche die Bedingungen dieser Erfahrungen ausdrücken sollen, sich ihrer Erweiterung anpassen müssen; wer kann sagen, wie weit dann die Veränderung greifen würde? Und sucht man nun für diese letzten Begriffe einen vereinigenden Zusammenhang, so kann der Erkenntniswert der so entstehenden Hypothese nicht ein größerer sein, als der ihrer Grundlage ist. Die metaphysische Welt, die hinter den Hilfsbegriffen der Naturwissenschaft sich auftut, ist also gleichsam in der zweiten Potenz – ein ens rationis. Wird das nicht durch die ganze Geschichte der neueren Metaphysik bestätigt? Die Substanz Spinozas, die Atome der Monisten, die Monaden von Leibniz, die Realen von Herbart verwirren die Naturwissenschaften, indem sie[403] aus dem inneren psychischen Leben Elemente in den Naturlauf tragen, und sie mindern das geistige Leben herab, indem sie einen Naturzusammenhang in dem Willen suchen. Sie vermögen nicht, die durch die Geschichte der Metaphysik hindurchgehende Dualität der mechanisch-atomistischen und der von dem Ganzen ausgehenden Weltansicht aufzuheben.
Die Metaphysik überwindet ebensowenig die eingeschränkte Subjektivität des Seelenlebens, welches jeder metaphysischen Verknüpfung der letzten wissenschaftlichen Begriffe zugrunde liegt. Diese Behauptung enthält zwei Sätze in sich. Eine einheitliche Vorstellung vom Subjekte des Weltlaufs kommt nur durch die Vermittlung dessen, was das Seelenleben hineingibt, zustande. Dieses Seelenleben ist aber in beständiger Entwicklung, unberechenbar in seinen weiteren Entfaltungen, an jedem Punkte geschichtlich relativ und eingeschränkt und daher unfähig, die letzten Begriffe der Einzelwissenschaften in einer objektiven und endgültigen Weise zu verknüpfen.
Denn was bedeutet die Vorstellbarkeit oder Denkbarkeit jener letzten Tatbestände, zu welchen die Einzelwissenschaften vordringen, wie die Metaphysik sie herzustellen strebt? Wenn die Metaphysik diese Tatbestände in einer faßbaren Vorstellung vereinigen will, so steht ihr zu diesem Zweck zunächst nur der Satz des Widerspruchs zur Verfügung. Wo aber zwischen zwei Bedingungen des Systems der Erfahrungen ein Widerspruch besteht, da bedarf es eines positiven Prinzips, um zwischen den widersprechenden Sätzen zu entscheiden. Wenn ein Metaphysiker behauptet, nur auf Grund dieses Satzes des Widerspruchs die letzten Tatsachen, zu denen Wissenschaft gelangt, zur Denkbarkeit zu verknüpfen, dann lassen sich stets positive Gedanken nachweisen, welche insgeheim seine Entscheidungen leiten. Denkbarkeit muß also hier mehr bedeuten als Widerspruchslosigkeit. Auch stellen in der Tat die metaphysischen Systeme ihren Zusammenhang durch Mittel von einer ganz andern inhaltlichen Mächtigkeit her. Denkbarkeit ist hier nur ein abstrakter Ausdruck für Vorstellbarkeit, diese aber enthält nichts anderes, als daß das Denken, wenn es den festen Boden der Wirklichkeit und der Analysis verläßt, trotzdem von Residuen des in ihr Enthaltenen geleitet wird. Innerhalb dieses Umkreises der Vorstellbarkeit erscheint dann vielfach das Entgegengesetzte als gleich möglich, ja zwingend. Ein bekanntes Wort von Leibniz lautet: Die Monaden seien ohne Fenster; Lotze bemerkt hierzu mit Recht: »Ich würde mich nicht wundern, wenn Leibniz mit dem gleichen bildlichen Ausdruck im Gegenteil gelehrt hatte, die Monaden hätten Fenster, durch die ihre inneren Zustände miteinander in Gemeinschaft träten, und diese Behauptung würde ungefähr gleichviel[404] Grund und vielleicht besseren Grund gehabt haben, als die, welche er vorzog.«433 Die einen Metaphysiker halten ihre Massenteilchen, jedes für sich, für fähig, einzuwirken oder Einwirkung zu erleiden, die anderen glauben, daß Wechselwirkung unter gemeinsamen Gesetzen nur in einem alle Einzelwesen verbindenden Bewußtsein denkbar sei. Überall hat hier die Metaphysik, als die Königin über ein Schattenreich, nur mit Schatten ehemaliger Wahrheiten zu tun, von denen die einen ihr verwehren etwas zu denken, die anderen es ihr aber gebieten. Diese Schatten von Wesenheiten, welche insgeheim die Vorstellung leiten und die Vorstellbarkeit ermöglichen, sind entweder Bilder aus der in den Sinnen gegebenen Materie oder Vorstellungen aus dem in der inneren Erfahrung gegebenen psychischen Leben. Die ersteren sind in ihrem phänomenalen Charakter von der modernen Wissenschaft anerkannt, und daher ist die materialistische Metaphysik, als solche, in Abnahme geraten. Wo es sich wirklich um das Subjekt der Natur handelt und nicht bloß um prädikative Bestimmungen, wie Bewegung und sinnliche Qualitäten sie darbieten, da entscheiden zumeist insgeheim oder bewußt die Vorstellungen des psychischen Lebens über das, was als metaphysischer Zusammenhang denkbar sei oder nicht. Gleichviel, mag Hegel die Weltvernunft zu dem Subjekt der Natur machen oder Schopenhauer einen blinden Willen oder Leibniz vorstellende Monaden oder Lotze ein alle Wechselwirkung vermittelndes umfassendes Bewußtsein, oder mögen die neuesten Monisten psychisches Leben in jedem Atom aufblitzen lassen: Bilder des eigenen Selbst, Bilder des psychischen Lebens sind es, welche den Metaphysiker geleitet haben, als er über Denkbarkeit entschied und deren insgeheim wirkende Gewalt ihm die Welt umwandelte in eine ungeheure phantastische Spiegelung seines eigenen Selbst. Denn das ist das Ende: der metaphysische Geist gewahrt sich selber in phantastischer Vergrößerung, gleichsam in einem zweiten Gesicht.
So trifft die Metaphysik am Endpunkte ihrer Bahn mit der Erkenntnistheorie zusammen, welche das auffassende Subjekt selber zu ihrem Gegenstand hat. Die Verwandlung der Welt in das auffassende Subjekt durch diese modernen Systeme ist gleichsam die Euthanasie der Metaphysik. Novalis erzählt ein Märchen von einem Jüngling, den die Sehnsucht nach den Geheimnissen der Natur ergreift; er verläßt die Geliebte, durchwandert viele Länder, um die große Göttin Isis zu finden und ihr wunderbares Antlitz zu schauen. Endlich steht er vor der Göttin der Natur, er hebt den leichten glänzenden Schleier und – die Geliebte sinkt in seine Arme. Wenn der[405] Seele zu gelingen scheint, das Subjekt des Naturlaufs selber ledig der Hüllen und des Schleiers zu gewahren, dann findet sie in diesem – sich selbst. Dies ist in der Tat das letzte Wort aller Metaphysik, und man kann sagen, nachdem dasselbe in den letzten Jahrhunderten in allen Sprachen bald des Verstandes, bald der Leidenschaft, bald des tiefsten Gemütes ausgesprochen ist, scheint es, daß die Metaphysik auch in dieser Rücksicht nichts Erhebliches mehr zu sagen habe.
Wir folgern weiter mit Hilfe des zweiten Satzes. Dieser persönliche Gehalt des Seelenlebens ist nun in einer beständigen geschichtlichen Wandlung, unberechenbar, relativ, eingeschränkt, und kann daher nicht eine allgemeingültige Einheit der Erfahrungen ermöglichen. Das ist die tiefste Einsicht, zu welcher unsere Phänomenologie der Metaphysik gelangte, im Gegensatz gegen die Konstruktionen der Epochen der Menschheit. Jedes metaphysische System ist nur für die Lage repräsentativ, in welcher eine Seele das Welträtsel erblickt hat. Es hat die Gewalt, diese Lage und Zeit, den Zustand der Seele, die Art, wie die Menschen die Natur und sich erblicken, uns wieder zu vergegenwärtigen. Es tut das gründlicher und allseitiger als dichterische Werke, in welchen das Gemütsleben nach seinem Gesetz mit Personen und Dingen schaltet. Jedoch mit der geschichtlichen Lage des Seelenlebens ändert sich der geistige Gehalt, welcher einem metaphysischen System Einheit und Leben gibt. Wir können diese Änderung weder nach ihren Grenzen bestimmen noch in ihrer Richtung vorausberechnen.
Der Grieche in der Zeit des Plato oder Aristoteles war an eine bestimmte Vorstellungsweise der ersten Ursachen gebunden; die christliche Weltansicht entwickelte sich, und es war nun gleichsam eine Wand weggezogen, hinter welcher man eine neue Art, die erste Ursache der Welt vorzustellen erblickte. Für einen mittelalterlichen Kopf war die Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge in ihren Grundzügen abgeschlossen, und eine Vorstellung davon, daß die auf Erfahrung gegründete Wissenschaft bestimmt sei, die Welt umzugestalten, besaß kein Mensch während des elften Jahrhunderts in Europa; dann aber geschah, was niemand hatte ahnen können, und die moderne Erfahrungswissenschaft entstand. So müssen auch wir uns sagen, daß wir nicht wissen, was hinter den Wänden sich befindet, die uns heute umgeben. Das Seelenleben selber verändert sich in der Geschichte der Menschheit, nicht nur diese oder jene Vorstellung. Und dieses Bewußtsein der Schranken unserer Erkenntnis, wie es aus dem geschichtlichen Blick in die Entwicklung des Seelenlebens folgt, ist ein anderes und tieferes, als das, welches Kant hatte, für den im Geiste[406] des achtzehnten Jahrhunderts das metaphysische Bewußtsein ohne Geschichte war.
Der Skeptizismus, welcher die Metaphysik als ihr Schatten begleitete, hatte den Nachweis erbracht, daß wir in unsere Eindrücke gleichsam eingeschlossen sind, sonach die Ursache derselben nicht erkennen und über die reale Beschaffenheit der Außenwelt nichts aussagen können. Alle Sinnesempfindungen sind relativ und gestatten keinen Schluß auf das, was sie hervorbringt. Selbst der Begriff der Ursache ist eine von uns in die Dinge getragene Relation, für deren Anwendung auf die Außenwelt ein Rechtsgrund nicht vorliegt. Dazu hat die Geschichte der Metaphysik gezeigt, daß unter einer Beziehung zwischen dem Denken und den Objekten nichts Klares gedacht werden kann, mag dieselbe als Identität oder Parallelismus, als Entsprechen oder Korrespondenz bezeichnet werden. Denn eine Vorstellung kann einem Ding, sofern dieses als von ihr unabhängige Realität aufgefaßt wird, nie gleich sein. Sie ist nicht das in die Seele geschobene Ding und kann nicht mit einem Gegenstand zur Deckung gebracht werden. Schwächt man den Begriff der Gleichheit zu dem der Ähnlichkeit ab, so kann auch dieser Begriff in seinem genauen Verstande hier nicht angewandt werden: die Vorstellung von Übereinstimmung entweicht so in das Unbestimmte. Der Rechtsnachfolger des Skeptikers ist der Erkenntnistheoretiker. Hier sind wir an der Grenze angelangt, an welcher das nächste Buch anheben wird: vor dem erkenntnistheoretischen Standpunkte der Menschheit. Denn das moderne wissenschaftliche Bewußtsein ist einerseits bedingt durch die Tatsache der relativ selbständigen Einzelwissenschaften, andererseits durch die erkenntnistheoretische Stellung des Menschen zu seinen Objekten. Der Positivismus hat vorwiegend auf die erstere Seite desselben seine philosophische Grundlegung aufgebaut, die Transzendentalphilosophie auf die andere. An dem Punkte der intellektuellen Geschichte, an welchem die metaphysische Stellung des Menschen endigt, wird das folgende Buch ansetzen und die Geschichte des modernen wissenschaftlichen. Bewußtseins in seiner Beziehung zu den Geisteswissenschaften darlegen, wie es durch die erkenntnistheoretische Stellung zu den Objekten bedingt ist. Diese historische Darstellung wird noch zu zeigen haben, wie die Rückstände der metaphysischen Epoche nur langsam überwunden und so die Konsequenzen der erkenntnistheoretischen Stellung nur sehr allmählich gezogen wurden. Sie wird sichtbar machen, wie innerhalb der erkenntnistheoretischen Grundlegung selber die Abstraktionen, welche die dargelegte Geschichte der Metaphysik hinterlassen hat, nur spät und bis heute noch sehr unvollständig weggeräumt[407] worden sind. So soll sie zu dem psychologischen Standpunkte hinführen, welcher nicht von der Abstraktion einer isolierten Intelligenz, sondern von dem Ganzen der Tatsachen des Bewußtseins aus das Problem der Erkenntnis aufzulösen unternimmt. Denn in Kant vollzog sich nur die Selbstzersetzung der Abstraktionen, welche die von uns geschilderte Geschichte der Metaphysik geschaffen hat; nun gilt es, die Wirklichkeit des inneren Lebens unbefangen gewahr zu werden und, von ihr ausgehend, festzustellen, was Natur und Geschichte diesem inneren Leben sind.[408]
433 | Lotze, System der Philosophie II, 125. |
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