Grundformen der Bewegung

[354] Bewegung in dem allgemeinsten Sinn, in dem sie als Daseinsweise, als inhärentes Attribut der Materie gefaßt wird, begreift alle im Universum vorgehenden Veränderungen und Prozesse in sich, von der bloßen Ortsveränderung bis zum Denken. Die Untersuchung über die Natur der Bewegung mußte selbstredend von den niedrigsten, einfachsten Formen dieser Bewegung ausgehn und diese begreifen lernen, ehe sie in der Erklärung der höheren und verwickelten Formen etwas leisten konnte. So sehen wir, wie in der geschichtlichen Entwicklung der Naturwissenschaften die Theorie der einfachen Ortsveränderung, die Mechanik der Weltkörper wie der irdischen Massen, zuerst ausgebildet wird; ihr folgt die Theorie der Molekularbewegung, die Physik, und gleich hinter, fast neben ihr und stellenweise ihr voraus, die Wissenschaft von der Bewegung der Atome, die Chemie. Erst nachdem diese verschiednen Zweige der Erkenntnis der die leblose Natur beherrschenden Bewegungsformen einen hohen Grad der Ausbildung erreicht, konnte die Erklärung der den Lebensprozeß darstellenden Bewegungsvorgänge mit Erfolg angefaßt werden. Sie schritt fort im Verhältnis, wie Mechanik, Physik, Chemie fortschritten. Während also die Mechanik schon seit längerer Zeit imstande war, im tierischen Körper die Wirkungen der durch Muskelzusammenziehung in Bewegung gesetzten Knochenhebel genügend auf ihre auch in der unbelebten Natur geltenden Gesetze zurückzuführen, steht die physikalisch- chemische Begründung der übrigen Lebenserscheinungen noch so ziemlich am Anfang ihrer Laufbahn. Wenn wir hier also die Natur der Bewegung untersuchen, so sind wir gezwungen, die organischen Bewegungsformen aus dem Spiel zu lassen. Wir beschränken uns daher notgedrungen – dem Stand der Wissenschaft gemäß – auf die Bewegungsformen der unbelebten Natur.

Alle Bewegung ist mit irgendwelcher Ortsveränderung verbunden, sei es nun Ortsveränderung von Weltkörpern, von irdischen Massen, von Molekülen,[354] Atomen oder Ätherteilchen. Je höher die Bewegungsform, desto geringer wird diese Ortsveränderung. Sie erschöpft die Natur der betreffenden Bewegung in keiner Weise, aber sie ist untrennbar von ihr. Sie ist also vor allen Dingen zu untersuchen.

Die ganze uns zugängliche Natur bildet ein System, einen Gesamtzusammenhang von Körpern, und zwar verstehn wir hier unter Körpern alle materiellen Existenzen vom Gestirn bis zum Atom, ja bis zum Ätherteilchen, soweit dessen Existenz zugegeben. Darin, daß diese Körper in einem Zusammenhang stehn, liegt schon einbegriffen, daß sie aufeinander einwirken, und diese ihre gegenseitige Einwirkung ist eben die Bewegung. Es zeigt sich hier schon, daß Materie undenkbar ist ohne Bewegung. Und wenn uns weiter die Materie gegenübersteht als etwas Gegebnes, ebensosehr Unerschaffbares wie Unzerstörbares, so folgt daraus, daß auch die Bewegung so unerschaffbar wie unzerstörbar ist. Diese Folgerung wurde unabweisbar, sobald einmal das Universum als ein System, als ein Zusammenhang von Körpern erkannt war. Und da diese Erkenntnis von der Philosophie gewonnen wurde, lange bevor sie in der Naturwissenschaft wirksame Geltung gewann, so ist es erklärlich, warum die Philosophie volle 200 Jahre vor der Naturwissenschaft den Schluß auf die Unerschaffbarkeit und Unzerstörbarkeit der Bewegung zog. Selbst die Form, in der sie es tat, ist der heutigen naturwissenschaftlichen Formulierung noch immer überlegen. Der Descartessche Satz, daß die Menge der im Universum vorhandnen Bewegung stets dieselbe sei, fehlt nur formell in der Anwendung eines endlichen Ausdrucks auf eine unendliche Größe. Dagegen gelten in der Naturwissenschaft jetzt zwei Ausdrücke desselben Gesetzes: der Helmholtzsche von der Erhaltung der Kraft und der neuere, präzisere von der Erhaltung der Energie, wovon der eine, wie wir sehn werden, das grade Gegenteil vom andern besagt und wovon zudem jeder nur die eine Seite des Verhältnisses ausspricht.

Wenn zwei Körper aufeinander wirken, so daß eine Ortsveränderung eines derselben oder beider die Folge ist, so kann diese Ortsveränderung nur bestehn in einer Annäherung oder einer Entfernung. Entweder ziehen sie einander an, oder sie stoßen einander ab. Oder, wie sich die Mechanik ausdrückt, die zwischen ihnen wirksamen Kräfte sind zentral, wirken in der Richtung der Verbindungslinie ihrer Mittelpunkte. Daß dies geschieht, stets und ausnahmslos im Universum geschieht, so kompliziert auch manche Bewegungen erscheinen, gilt uns heutzutage als selbstverständlich. Es würde uns widersinnig vorkommen anzunehmen, daß zwei aufeinander wirkende Körper, deren gegenseitiger Einwirkung kein Hindernis oder[355] keine Einwirkung dritter Körper entgegensteht, diese Einwirkung anders ausüben sollten als auf dem kürzesten und direktesten Wege, in der Richtung der ihre Mittelpunkte verbindenden GeradenA13. Bekanntlich hat aber Helmholtz (»Erhaltung der Kraft«, Berlin 1847, Abschn. I und II) auch den mathematischen Beweis geliefert, daß zentrale Wirkung und Unveränderlichkeit der Bewegungsmenge sich gegenseitig bedingen, und daß die Annahme andrer als zentraler Wirkungen zu Resultaten führt, bei denen Bewegung entweder erschaffen oder vernichtet werden könnte. Die Grundform aller Bewegung ist hiernach Annäherung und Entfernung, Zusammenziehung und Ausdehnung – kurz, der alte polare Gegensatz von Attraktion und Repulsion.

Ausdrücklich zu merken: Attraktion und Repulsion werden hier nicht gefaßt als sogenannte »Kräfte«, sondern als einfache Formen der Bewegung. Wie denn schon Kant die Materie aufgefaßt hat als die Einheit von Attraktion und Repulsion. Was es mit den »Kräften« auf sich hat, wird sich seinerzeit zeigen.

In dem Wechselspiel von Attraktion und Repulsion besteht alle Bewegung. Sie ist aber nur möglich, wenn jede einzelne Attraktion kompensiert wird durch eine entsprechende Repulsion an andrer Stelle. Sonst müßte die eine Seite mit der Zeit das Übergewicht erhalten über die andre, und damit hörte die Bewegung schließlich auf. Also müssen sich alle Attraktionen und alle Repulsionen im Universum gegenseitig aufwiegen. Das Gesetz von der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit der Bewegung erhält hiermit den Ausdruck, daß jede Attraktionsbewegung im Universum durch eine gleichwertige Repulsionsbewegung ergänzt werden muß, und umgekehrt; oder, wie die ältere Philosophie – lange vor der naturwissenschaftlichen Aufstellung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft, resp. Energie – dies aussprach: daß die Summe aller Attraktionen im Weltall gleich ist der Summe aller Repulsionen.

Hier scheinen indes zwei Möglichkeiten noch immer offen, daß alle Bewegung einmal aufhöre, nämlich entweder dadurch, daß Repulsion und Attraktion sich endlich einmal tatsächlich ausgleichen, oder dadurch, daß die gesamte Repulsion sich eines Teils der Materie endgültig bemächtigt und die gesamte Attraktion des übrigen Teils. Für die dialektische Auffassung können diese Möglichkeiten von vornherein nicht existieren. Sobald[356] die Dialektik einmal aus den Resultaten unserer bisherigen Naturerfahrung nachgewiesen hat, daß alle polaren Gegensätze überhaupt bedingt sind durch das wechselnde Spiel der beiden entgegengesetzten Pole aufeinander, daß die Trennung und Entgegensetzung dieser Pole nur besteht innerhalb ihrer Zusammengehörigkeit und Vereinigung, und umgekehrt ihre Vereinigung nur in ihrer Trennung, ihre Zusammengehörigkeit nur in ihrer Entgegensetzung, kann weder von einer endgültigen Ausgleichung von Repulsion und Attraktion, noch von einer endgültigen Verteilung der einen Bewegungsform auf die eine der andren die andre Hälfte der Materie, also weder von der gegenseitigen DurchdringungA14, noch von der absoluten Scheidung beider Pole die Rede sein. Es wäre ganz dasselbe, als wollte man im ersten Fall verlangen, der Nordpol und der Südpol eines Magnets sollten sich gegen- und durcheinander ausgleichen, und im zweiten Fall, die Durch feilung eines Magnets in der Mitte zwischen beiden Polen solle hier eine Nordhälfte ohne Südpol, dort eine Südhälfte ohne Nordpol herstellen. Wenn aber auch die Unzulässigkeit solcher Annahmen schon aus der dialektischen Natur des polaren Gegensatzes folgt, so spielt doch, dank der herrschenden metaphysischen Denkweise der Naturforscher, wenigstens die zweite Annahme in der physikalischen Theorie eine gewisse Rolle. Hiervon wird an seinem Ort die Rede sein.

Wie stellt sich nun die Bewegung dar in der Wechselwirkung von Attraktion und Repulsion? Dies untersuchen wir am besten an den einzelnen Formen der Bewegung selbst. Das Fazit wird sich dann am Schluß ergeben.

Nehmen wir die Bewegung eines Planeten um seinen Zentralkörper. Die gewöhnliche Schulastronomie erklärt die beschriebne Ellipse mit Newton aus der Zusammenwirkung zweier Kräfte, der Attraktion des Zentralkörpers und einer den Planeten normal zur Richtung dieser Attraktion forttreibenden Tangentialkraft. Sie nimmt also außer der zentral vor sich gehenden Bewegungsform noch eine andre, senkrecht zur Verbindungslinie der Mittelpunkte erfolgende Bewegungsrichtung oder sogenannte »Kraft« an. Sie setzt sich damit in Widerspruch mit dem oben erwähnten Grundgesetz, wonach in unserm Universum alle Bewegung nur in der Richtung der Mittelpunkte der aufeinander einwirkenden Körper stattfinden kann, oder, wie man sich ausdrückt, nur durch zentral wirkende »Kräfte« verursacht wird. Sie bringt ebendamit ein Bewegungselement in die Theorie, das, wie wir ebenfalls sahen, notwendig auf die Erschaffung und Vernichtung von Bewegung hinausläuft und daher auch einen Schöpfer voraussetzt. Es kam[357] also darauf an, diese geheimnisvolle Tangentialkraft auf eine zentral vor sich gehende Bewegungsform zu reduzieren, und dies tat die Kant-Laplacesche kosmogonische Theorie. Bekanntlich läßt diese Auffassung das ganze Sonnensystem aus einer rotierenden, äußerst verdünnten Gasmasse durch allmähliche Zusammenziehung entstehn, wobei am Äquator dieses Gasballs die Rotationsbewegung selbstredend am stärksten ist und einzelne Gasringe von der Masse losreißt, die sich dann zu Planeten, Planetoiden etc. zusammenballen und den Zentralkörper in der Richtung der ursprünglichen Rotation umkreisen. Diese Rotation selbst wird gewöhnlich erklärt aus der Eigenbewegung der einzelnen Gasteilchen, die in den verschiedensten Richtungen erfolgt, wobei aber schließlich ein Überschuß in einer bestimmten Richtung sich durchsetzt und so die drehende Bewegung verursacht, die mit dem Fortschritt der Zusammenziehung des Gasballs immer stärker werden muß. Welche Hypothese man aber auch über den Ursprung der Rotation annimmt, mit einer jeden ist die Tangentialkraft beseitigt, aufgelöst in eine besondre Erscheinungsform einer in zentraler Richtung erfolgenden Bewegung. Wenn das eine, direkt zentrale Element der Planetenbewegung durch die Schwere, die Attraktion zwischen ihm und dem Zentralkörper, dargestellt wird, so erscheint nun das andre, tangentielle Element als ein Rest, in übertragner oder verwandelter Form, der ursprünglichen Repulsion der einzelnen Teilchen des Gasballs. Der Daseinsprozeß eines Sonnensystems stellt sich nun dar als ein Wechselspiel von Attraktion und Repulsion, in welchem die Attraktion allmählich mehr und mehr die Oberhand dadurch bekommt, daß die Repulsion in der Form von Wärme in den Weltraum ausgestrahlt wird, dem System also mehr und mehr verlorengeht.

Man sieht auf den ersten Blick, daß die Bewegungsform, die hier als Repulsion gefaßt ist, dieselbe ist, die von der modernen Physik als »Energie« bezeichnet wird. Durch die Zusammenziehung des Systems und die daraus folgende Sonderung der einzelnen Körper, aus denen es heute besteht, hat das System »Energie« verloren, und zwar beträgt dieser Verlust nach der bekannten Rechnung von Helmholtz jetzt schon 453/454 der ganzen ursprünglich darin in der Form von Repulsion vorhandenen Bewegungsmenge.

Nehmen wir ferner eine körperliche Masse auf unsrer Erde selbst. Sie ist mit der Erde verbunden durch die Schwere, wie die Erde ihrerseits mit der Sonne; aber ungleich der Erde ist sie einer freien planetarischen Bewegung unfähig. Sie kann nur bewegt werden durch Anstoß von außen, und auch dann, sobald der Anstoß aufhört, kommt ihre Bewegung bald zum Stillstand, sei es durch die Wirkung der Schwere allein, sei es durch sie in[358] Verbindung mit dem Widerstand des Mittels, in dem sie sich bewegt. Auch dieser Widerstand ist in letzter Instanz eine Wirkung der Schwere, ohne die die Erde kein widerstehendes Mittel, keine Atmosphäre an ihrer Oberfläche haben würde. Wir haben [es] also in der rein mechanischen Bewegung auf der Erdoberfläche zu tun mit einer Lage, in der die Schwere, die Attraktion entschieden vorherrscht, wo also die Herstellung von Bewegung die beiden Phasen zeigt: zuerst der Schwere entgegenzuwirken, und dann die Schwere wirken zu lassen – in einem Worte: heben und fallenlassen.

Wir haben also wieder die Wechselwirkung zwischen der Anziehung auf der einen, und einer in entgegengesetzter Richtung zur ihrigen erfolgenden, also repellierenden Bewegungsform auf der andern Seite. Nun kommt aber innerhalb des Gebiets der irdischen reinen Mechanik (die mit Massen von gegebnen, für sie unveränderlichen Aggregat- und Kohäsionszustän den rechnet) diese repellierende Bewegungsform nicht in der Natur vor. Die physikalischen und chemischen Bedingungen, unter denen ein Felsblock sich von der Bergkuppe losreißt oder unter denen ein Wassergefälle möglich wird, liegen außerhalb ihres Bereichs. Die repellierende, hebende Bewegung muß also in der irdischen reinen Mechanik künstlich erzeugt werden: durch Menschenkraft, Tierkraft, Wasserkraft, Dampfkraft usw. Und dieser Umstand, diese Notwendigkeit, die natürliche Anziehung künstlich zu bekämpfen, ruft bei den Mechanikern die Anschauung hervor, daß die Anziehung, die Schwere, oder wie sie sagen, die Schwerkraft die wesentlichste, ja die Grundbewegungsform in der Natur ist.

Wenn z.B. ein Gewicht gehoben wird und durch seinen direkten oder indirekten Fall andren Körpern Bewegung mitteilt, so ist es nach der üblichen mechanischen Auffassung nicht die Hebung des Gewichts, die diese Bewegung mitteilt, sondern die Schwerkraft. So läßt z.B. Helmholtz

»die uns am besten bekannte und einfachste Kraft, die Schwere, als Triebkraft wirken... z.B. in denjenigen Wanduhren, welche durch ein Gewicht getrieben werden. Das Gewicht... kann dem Zuge der Schwere nicht folgen, ohne das ganze Uhrwerk in Bewegung zu setzen.« Aber es kann das Uhrwerk nicht in Bewegung setzen, ohne selbst zu sinken, und sinkt endlich so weit, bis die Schnur, an der es hängt, ganz abgewickelt ist. »Dann bleibt die Uhr stehn, dann ist die Leistungsfähigkeit ihres Gewichts vorläufig erschöpft. Seine Schwere ist nicht verloren oder vermindert, es wird nach wie vor in gleichem Maße von der Erde angezogen, aber die Fähigkeit dieser Schwere, Bewegungen hervorzubringen, ist verlorengegangen... Wir können die Uhr aber aufziehen durch die Kraft unsres Arms, wobei das Gewicht wieder emporgehoben wird. Sowie das geschehn ist, hat es seine frühere Leistungsfähigkeit wieder erlangt, und kann die Uhr wieder in Bewegung erhalten.« (Helmholtz, »Populäre Vorträge«, II, [S.] 144 bis 145.)[359]

Nach Helmholtz ist es also nicht die aktive Bewegungsmitteilung, das Heben des Gewichts, die die Uhr in Bewegung setzt, sondern die passive Schwere des Gewichts, obwohl diese selbe Schwere erst durch das Heben aus ihrer Passivität herausgerissen wird und auch nach Ablauf der Gewichtsschnur wieder in ihre Passivität zurücktritt. War also nach der neueren Auffassung, wie wir soeben sahen, Energie nur ein andrer Ausdruck für Repulsion, so erscheint hier in der älteren, Helmholtzschen, Kraft als ein andrer Ausdruck für das Gegenteil der Repulsion, für Attraktion. Wir konstatieren dies einstweilen.

Wenn nun der Prozeß der irdischen Mechanik sein Ende erreicht hat, wenn die schwere Masse zuerst gehoben und dann wieder um dieselbe Höhe gefallen ist, was wird aus der Bewegung, die diesen Prozeß ausmachte ? Sie ist für die reine Mechanik verschwunden. Aber wir wissen jetzt, daß sie keineswegs vernichtet ist. Sie ist zum kleineren Teil in Schallwellenschwingung der Luft, zum weit größeren in Wärme umgesetzt worden – Wärme, die teils der widerstehenden Atmosphäre, teils dem fallenden Körper selbst, teils endlich dem Aufschlagsboden mitgeteilt wurde. Auch das Uhrgewicht hat seine Bewegung in der Form von Reibungswärme an die einzelnen Triebräder des Uhrwerks nach und nach abgegeben. Es ist aber nicht, wie man sich wohl ausdrückt, die Fallbewegung, d.h. die Attraktion, die in Wärme, also in eine Form der Repulsion übergegangen ist. Im Gegenteil, die Attraktion, die Schwere, bleibt, wie Helmholtz richtig bemerkt, was sie vorher war, und wird, genau gesprochen, sogar größer. Es ist vielmehr die dem gehobenen Körper durch die Hebung mitgeteilte Repulsion, die durch den Fall mechanisch vernichtet wird und als Wärme wieder entsteht. Massenrepulsion ist verwandelt in Molekularrepulsion.

Die Wärme ist, wie schon gesagt, eine Form der Repulsion. Sie versetzt die Moleküle fester Körper in Schwingungen, lockert dadurch den Zusammenhang der einzelnen Moleküle, bis endlich der Übergang in den flüssigen Zustand eintritt; sie steigert auch in diesem, bei fortdauernder Wärmezufuhr, die Bewegung der Moleküle bis zu einem Grad, wo diese sich von der Masse vollständig losreißen und mit einer für jedes Molekül durch seine chemische Konstitution bedingten, bestimmten Geschwindigkeit einzeln frei fortbewegen; bei weiter fortgesetzter Wärmezufuhr steigert sie auch diese Geschwindigkeit noch weiter und repelliert damit die Moleküle immer mehr voneinander.

Wärme ist aber eine Form der sogenannten »Energie«; diese erweist sich auch hier wieder als identisch mit der Repulsion.[360]

Bei den Erscheinungen der statischen Elektrizität und des Magnetismus haben wir Attraktion und Repulsion polarisch verteilt. Welche Hypothese man auch gelten lassen möge in Beziehung auf den modus operandi dieser beiden Bewegungsformen, so zweifelt doch angesichts der Tatsachen kein Mensch daran, daß Attraktion und Repulsion, soweit sie durch statische Elektrizität oder Magnetismus hervorgerufen sind und sich ungehindert entfalten können, einander vollständig kompensieren, wie dies in der Tat auch schon aus der Natur der polaren Verteilung mit Notwendigkeit folgt. Zwei Pole, deren Betätigung sich nicht vollständig kompensiert, wären eben keine Pole, und sind bisher in der Natur auch nicht aufzufinden gewesen. Den Galvanismus lassen wir hier einstweilen aus dem Spiel, weil bei ihm der Prozeß durch chemische Vorgänge bedingt und dadurch verwickelt gemacht wird. Untersuchen wir daher lieber die chemischen Bewegungsvorgänge selbst.

Wenn zwei Gewichtsteile Wasserstoff sich mit 15,96 Gewichtsteilen Sauerstoff zu Wasserdampf verbinden, so entwickelt sich während dieses Vorgangs eine Wärmemenge von 68,924 Wärmeeinheiten. Umgekehrt, wenn 17,96 Gewichtsteile Wasserdampf in 2 Gewichtsteile Wasserstoff und 15,96 Gewichtsteile Sauerstoff zerlegt werden sollen, so ist dies nur möglich unter der Bedingung, daß dem Wasserdampf eine Bewegungsmenge zugeführt wird, die mit 68,924 Wärmeeinheiten gleichwertig ist – sei es in der Form von Wärme selbst oder von elektrischer Bewegung. Dasselbe gilt von allen andern chemischen Prozessen. In der sehr großen Mehrzahl der Fälle wird bei der Zusammensetzung Bewegung abgegeben, bei der Zerlegung muß Bewegung zugeführt werden. Auch hier ist die Repulsion in der Regel die aktive, mit Bewegung begabtere oder Bewegungszufuhr heischende, die Attraktion die passive, Bewegung überflüssig machende und abgebende Seite des Prozesses. Daher auch die moderne Theorie wieder erklärt, im ganzen und großen werde bei der Vereinigung von Elementen Energie frei, bei der Zerlegung werde sie gebunden. Energie steht hier also wieder für Repulsion. Und wieder erklärt Helmholtz:

»Diese Kraft« (die chemische Verwandtschaftskraft) »können wir uns als eine Anziehungskraft vorstellen... Diese Anziehungskraft nun zwischen den Atomen des Kohlenstoffs und des Sauerstoffs leistet geradesogut Arbeit, wie die, welche die Erde in der Form der Schwere auf ein gehobenes Gewicht ausübt.., Wenn Kohlenstoff- und Sauerstoffatome aufeinander losgestürzt sind und sich zu Kohlensäure vereinigt haben, so müssen die neugebildeten Teilchen der Kohlensäure in heftigster Molekularbewegung[361] sein, das heißt in Wärmebewegung... Wenn sie später ihre Wärme an die Umgebung abgegeben hat, so haben wir in der Kohlensäure noch den ganzen Kohlenstoff, noch den ganzen Sauerstoff und auch noch die Verwandtschaftskraft beider ebenso kräftig wie vorher bestehend. Aber letztere äußert sich jetzt nur noch darin, daß sie die Kohlenstoff- und Sauerstoffatome fest aneinander heftet, ohne eine Trennung derselben zu gestatten.« (l. c., [S.] 169[/170].)

Es ist ganz wie vorhin: Helmholtz besteht darauf, daß in der Chemie wie in der Mechanik die Kraft nur in der Attraktion bestehe und also das grade Gegenteil von dem sei, was bei andern Physikern Energie heißt und identisch ist mit der Repulsion.

Wir haben jetzt also nicht mehr die beiden einfachen Grundformen der Attraktion und Repulsion, sondern eine ganze Reihe von Unterformen, in denen der im Gegensatz jener beiden sich ab- und aufwickelnde Prozeß der universellen Bewegung vor sich geht. Es ist aber keineswegs bloß unser Verstand, der diese mannigfachen Erscheinungsformen unter den Einen Ausdruck der Bewegung zusammenfaßt. Im Gegenteil, sie selbst beweisen sich durch die Tat als Formen einer und derselben Bewegung, indem sie unter Umständen die eine in die andre übergehn. Mechanische Massenbewegung geht über in Wärme, in Elektrizität, in Magnetismus; Wärme und Elektrizität gehen über in chemische Zersetzung; chemische Vereinigung ihrerseits entwickelt wieder Wärme und Elektrizität, und vermittelst dieser letzteren Magnetismus; und endlich produzieren Wärme und Elektrizität wiederum mechanische Massenbewegung. Und zwar derart, daß einer bestimmten Bewegungsmenge der einen Form stets eine genau bestimmte Bewegungsmenge der andern Form entspricht; wobei es wieder gleichgültig ist, welcher Bewegungsform die Maßeinheit entlehnt ist, an der diese Bewegungsmenge gemessen wird: ob sie zur Messung von Massenbewegung, von Wärme, von sog. elektromotorischer Kraft, oder von der bei chemischen Vorgängen umgesetzten Bewegung dient.

Wir stehn hiermit auf dem Boden der von J. R. Mayer 1842 begründeten7 und seitdem mit so glänzendem Erfolg international ausgearbeiteten[362] Theorie von der »Erhaltung der Energie« und haben nun die Grundvorstellungen zu untersuchen, mit denen diese Theorie heutzutage operiert. Dies sind die Vorstellungen von »Kraft« oder »Energie« und von »Arbeit«.

Es hat sich schon oben gezeigt, daß die neuere, jetzt wohl ziemlich allgemein angenommene Anschauung unter Energie die Repulsion versteht, während Helmholtz mit dem Wort Kraft vorzugsweise die Attraktion ausdrückt. Man könnte hierin einen gleichgültigen Formunterschied sehn, da ja Attraktion und Repulsion im Universum sich kompensieren, und da es demnach gleichgültig erscheint, welche Seite des Verhältnisses man positiv oder negativ setzt; wie es ja auch an sich gleichgültig ist, ob man von einem Punkt in einer beliebigen Linie aus die positiven Abszissen nach rechts oder nach links zählt. Dies ist indes nicht absolut der Fall.

Es handelt sich hier nämlich zunächst nicht um das Universum, sondern um Erscheinungen, die auf der Erde vorgehn und bedingt sind durch die genau bestimmte Stellung der Erde im Sonnensystem und des Sonnensystems im Weltall. Unser Sonnensystem gibt aber in jedem Augenblick enorme Mengen von Bewegung an den Weltraum ab, und zwar Bewegung von ganz bestimmter Qualität: Sonnenwärme, d.h. Repulsion. Unsre Erde selbst aber ist belebt nur durch die Sonnenwärme und strahlt ihrerseits die empfangne Sonnenwärme, nachdem sie diese zum Teil in andre Bewegungsformen umgesetzt, schließlich ebenfalls in den Weltraum aus. Im Sonnensystem und ganz besonders auf der Erde hat also die Attraktion schon ein bedeutendes Übergewicht über die Repulsion erhalten. Ohne die uns von der Sonne zugestrahlte Repulsionsbewegung müßte alle Bewegung auf der Erde aufhören. Wäre morgen die Sonne erkaltet, so bliebe die Attraktion auf der Erde bei sonst gleichbleibenden Umständen, was sie heute ist. Ein[363] Stein von 100 Kilogramm würde nach wie vor da, wo er einmal liegt, 100 Kilogramm wiegen. Aber die Bewegung, sowohl der Massen wie der Moleküle und Atome, käme zu einem nach unsern Vorstellungen absoluten Stillstand. Es ist also klar: Für Prozesse, die auf der heutigen Erde vorgehn, ist es durchaus nicht gleichgültig, ob man die Attraktion oder die Repulsion als die aktive Seite der Bewegung, also als »Kraft« oder »Energie« auffaßt. Auf der heutigen Erde ist die Attraktion im Gegenteil bereits durch ihr entschiednes Übergewicht über die Repulsion durchaus passiv geworden; alle aktive Bewegung verdanken wir der Zufuhr von Repulsion durch die Sonne. Und daher hat die neuere Schule – wenn sie auch über die Natur des Bewegungsverhältnisses im unklaren bleibt – dennoch der Sache nach und für irdische Vorgänge, ja für das ganze Sonnensystem, vollständig recht, wenn sie Energie als Repulsion faßt.

Der Ausdruck »Energie« spricht zwar keineswegs das ganze Bewegungsverhältnis richtig aus, indem er nur die eine Seite umfaßt, die Aktion, aber nicht die Reaktion. Er läßt auch noch den Schein zu, als sei »Energie« etwas der Materie Äußerliches, ihr Eingepflanztes. Aber er ist dem Ausdruck »Kraft« unter allen Umständen vorzuziehn.

Die Vorstellung von Kraft ist, wie allerseits zugegeben (von Hegel bis Helmholtz), der Betätigung des menschlichen Organismus innerhalb seiner Umgebung entlehnt. Wir sprechen von der Muskelkraft, von der Hebungskraft der Arme, von der Sprungkraft der Beine, von der Verdauungskraft des Magens und Darmkanals, von der Empfindungskraft der Nerven, der Ausscheidungskraft der Drüsen usw. Mit andern Worten, um uns die Angabe der wirklichen Ursache einer durch eine Funktion unsres Organismus herbeigeführten Veränderung zu ersparen, schieben wir eine fiktive Ursache unter, eine der Veränderung entsprechende sog. Kraft. Diese bequeme Methode übertragen wir dann auch auf die Außenwelt und erfinden damit ebensoviel Kräfte, wie es verschiedne Erscheinungen gibt.

In diesem naiven Stadium befand sich die Naturwissenschaft (mit Ausnahme etwa der himmlischen und irdischen Mechanik) noch zur Zeit Hegels, der mit vollem Recht gegen die damalige Manier der Kräfteernennung losfährt (Stelle zu zitieren). Ebenso an einer andern Stelle:

»Es ist besser« (zu sagen), »der Magnet habe eine Seele« (wie Thales sich ausdrückt), »als er habe die Kraft anzuziehen; Kraft ist eine Art von Eigenschaft, die von der Materie trennbar, als ein Prädikat vorgestellt wird, – Seele hingegen dies Bewegen seiner, mit der Natur der Materie dasselbe.«A16 (»Gesch. d. Phil.«, I, [S.] 208.)[364]

So ganz leicht, wie damals, machen wir es uns nun heute mit den Kräften nicht mehr. Hören wir Helmholtz:

»Wenn wir ein Naturgesetz vollständig kennen, müssen wir auch Ausnahmslosigkeit seiner Geltung fordern... So tritt uns das Gesetz als eine objektive Macht entgegen, und demgemäß nennen wir es Kraft. Wir objektivieren z.B. das Gesetz der LichtbrechungA78 als eine Lichtbrechungskraft der durchsichtigen Substanzen, das Gesetz der chemischen Wahlverwandtschaften als eine Verwandtschaftskraft der verschiednen Stoffe zueinander. So sprechen wir von einer elektrischen Kontaktkraft der Metalle, von einer Adhäsionskraft, Kapillarkraft und andern mehr. In diesen Namen sind Gesetze objektiviert, welche zunächst erst kleinere Reihen von Naturvorgängen umfassen, deren Bedingungen noch ziemlich verwickelt sindA17... die Kraft ist nur das objektivierte Gesetz der Wirkung... Der abstrakte Begriff der Kraft, den wir einschieben, fügt nur das noch hinzu, daß wir dieses Gesetz nicht willkürlich erfunden, daß es ein zwingendes Gesetz der Erscheinungen sei. Unsere Forderung, die Naturerscheinungen zu begreifen, d.h. ihre Gesetze zu finden, nimmt so eine andre Form [des Ausdrucks] an, die nämlich, daß wir die Kräfte aufzusuchen haben, welche die Ursachen der Erscheinungen sind.« (l.c., S. 189-191. Innsbrucker Vortrag von 1869.)

Erstens ist es jedenfalls eine eigentümliche Art »zu objektivieren«, wenn man in ein bereits als unabhängig von unsrer Subjektivität festgestelltes, also schon vollkommen objektives Naturgesetz die rein subjektive Vorstellung von Kraft hineinträgt. Dergleichen dürfte sich höchstens ein Althegelianer von der striktesten Observanz gestatten, nicht aber ein Neukantianer wie Helmholtz. Weder dem einmal festgestellten Gesetz, noch seiner Objektivität oder derjenigen seiner Wirkung tritt die geringste neue Objektivität hinzu, wenn wir ihm eine Kraft unterschieben; was hinzutritt, ist unsre subjektive Behauptung, daß es vermöge einer einstweilen gänzlich unbekannten Kraft wirke. Aber der geheime Sinn dieser Unterschiebung zeigt sich, sobald Helmholtz uns Beispiele gibt: Lichtbrechung, chemische Verwandtschaft, Kontaktelektrizität, Adhäsion, Kapillarität, und die diese Erscheinungen regelnden Gesetze in den »objektiven« Adelstand von Kräften erhebt.

»In diesen Namen sind Gesetze objektiviert, welche zunächst erst kleinere Reihen von Naturvorgängen umfassen, deren Bedingungen noch ziemlich verwickelt sind.«

Und eben hier erhält die »Objektivierung«, die vielmehr Subjektivierung ist, einen Sinn: Nicht weil wir das Gesetz vollständig erkannt haben, sondern eben weil dies nicht der Fall, weil wir über die »ziemlich verwickelten Bedingungen« dieser Erscheinungen noch nicht im klaren sind, ebendeshalb nehmen wir hier manchmal Zuflucht zum Worte Kraft. Wir drücken also[365] damit nicht unsre Wissenschaft, sondern unsern Mangel an Wissenschaft von der Natur des Gesetzes und seiner Wirkungsweise aus. In diesem Sinn, als kurzer Ausdruck eines noch nicht ergründeten Kausalzusammenhangs, als Notbehelf der Sprache, mag es im Handgebrauch passieren. Was darüber ist, das ist vom Übel. Mit demselben Recht, wie Helmholtz physikalische Erscheinungen aus einer sog. Lichtbrechungskraft, elektrischen Kontaktkraft usw. erklärt, mit demselben Recht erklärten die Scholastiker des Mittelalters die Temperaturveränderungen aus einer vis calorifica und einer vis frigifaciens und ersparten sich damit alle weitere Untersuchung der Wärmeerscheinungen.

Und auch in diesem Sinn hat es seine Schiefheit. Es drückt nämlich alles einseitig aus. Alle Naturvorgänge sind doppelseitig, beruhen auf dem Verhältnis von mindestens zwei wirkenden Teilen, auf Aktion und Reaktion. Die Vorstellung von Kraft, infolge ihres Ursprungs aus der Aktion des menschlichen Organismus auf die Außenwelt und weiterhin aus der irdischen Mechanik, schließt aber ein, daß nur der eine Teil aktiv, wirkend, der andre Teil aber passiv, empfangend sei, statuiert also eine bisher nicht nachweisbare Ausdehnung der Geschlechtsdifferenz auf leblose Existenzen. Die Reaktion des zweiten Teils, auf den die Kraft wirkt, erscheint höchstens als eine passive, als ein Widerstand. Nun ist diese Auffassungsweise auf einer Reihe von Gebieten auch außerhalb der reinen Mechanik zulässig, nämlich da, wo es sich um einfache Übertragung von Bewegung und deren quantitative Berechnung handelt. Aber schon in den verwickelteren Vorgängen der Physik reicht sie nicht mehr aus, wie grade Helmholtz' eigne Beispiele beweisen. Die Lichtbrechungskraft liegt ebensosehr im Licht selbst wie in den durchsichtigen Körpern. Bei der Adhäsion und Kapillarität liegt die »Kraft« doch sicher ebensosehr in der festen Oberfläche wie in der Flüssigkeit. Bei der Kontaktelektrizität ist jedenfalls soviel sicher, daß beide Metalle dazu das ihrige beitragen, und die »chemische Verwandtschaftskraft« liegt, wenn irgendwo, jedenfalls in beiden sich verbindenden Teilen. Eine Kraft aber, die aus zwei getrennten Kräften besteht, eine Wirkung, die ihre Gegenwirkung nicht hervorruft, sondern in sich selbst faßt und trägt, ist keine Kraft im Sinn der irdischen Mechanik, der einzigen Wissenschaft, in der man wirklich weiß, was eine Kraft bedeutet. Denn die Grundbedingungen der irdischen Mechanik sind erstens die Weigerung, die Ursachen des Anstoßes, d.h. die Natur der jedesmaligen Kraft zu untersuchen, und zweitens die Anschauung von der Einseitigkeit der Kraft, der[366] eine an jedem Ort stets sich selbst gleiche Schwere entgegengesetzt wird, dergestalt, daß gegenüber jedem irdischen Fallraum der Erdhalbmesser = ∞ gilt.

Sehen wir aber weiter, wie Helmholtz seine »Kräfte« in die Naturgesetze hinein »objektiviert«.

In einer Vorlesung von 1854 (l. c., S. 119) untersucht er den »Vorrat von Arbeitskraft«, den der Nebelball, aus dem unser Sonnensystem gebildet, ursprünglich enthielt.

»In der Tat war ihm eine ungeheuer große Mitgift in dieser Beziehung schon allein in Form der allgemeinen Anziehungskraft aller seiner Teile zueinander mitgeteilt.«

Dies ist unzweifelhaft. Ebenso unzweifelhaft aber ist, daß diese ganze Mitgift von Schwere oder Gravitation im heutigen Sonnensystem noch unverkümmert vorhanden ist; abgerechnet etwa das geringe Quantum, das mit Materie verlorenging, die möglicherweise unwiederbringlich in den Weltraum hinausgeschleudert wurde. Weiter:

»Auch die chemischen Kräfte mußten schon vorhanden sein, bereit zu wirken; aber da diese Kräfte erst bei der innigsten Berührung der verschiedenartigen Massen in Wirksamkeit treten können, mußte erst Verdichtung eingetreten sein, ehe ihr Spiel begann« [S. 120].

Wenn wir, wie Helmholtz oben, diese chemischen Kräfte als Verwandtschaftskräfte, also als Anziehung, fassen, so müssen wir auch hier sagen, daß die Gesamtsumme dieser chemischen Anziehungskräfte noch unvermindert innerhalb des Sonnensystems fortbesteht.

Nun aber gibt Helmholtz auf derselben Seite als das Resultat seiner Berechnung an,

»daß nur noch etwa der 454ste Teil der ursprünglichen mechanischen Kraft als solche besteht« –

nämlich im Sonnensystem. Wie ist dies zu reimen? Die Anziehungskraft, allgemeine wie chemische, ist noch unversehrt im Sonnensystem vorhanden. Eine andre sichere Kraftquelle gibt Helmholtz nicht an. Allerdings haben, nach Helmholtz, jene Kräfte eine ungeheure Arbeit geleistet. Aber sie haben sich dadurch weder vermehrt noch vermindert. Wie oben dem Uhrgewicht, geht es jedem Molekül im Sonnensystem und dem ganzen Sonnensystem selbst. »Seine Schwere ist nicht verloren oder vermindert.« Wie vorhin dem Kohlenstoff und dem Sauerstoff geht es allen chemischen Elementen: Wir haben die sämtliche gegebness Menge eines jeden noch immer, auch noch die gesamte »Verwandtschaftskraft ebenso kräftig wie vorher[367] bestehend«. Was haben wir denn verloren? Und welche »Kraft« hat denn die enorme Arbeit geleistet, die 453 mal so groß ist als diejenige, die das Sonnensystem nach seiner Berechnung noch leisten kann? Soweit gibt uns Helmholtz keine Antwort. Aber weiter sagt er:

»Ob noch ein weiterer Kraftvorrat in Gestalt von Wärme [im Uranfange] vorhanden war, wissen wir nicht.«A18 [S. 120.]

Mit Verlaub. Die Wärme ist eine repulsive »Kraft«, wirkt also der Richtung der Schwere wie der chemischen Anziehung entgegen, ist minus, wenn diese plus gesetzt werden. Wenn Helmholtz also seinen ursprünglichen Kraftvorrat aus allgemeiner und chemischer Anziehung zusammensetzt, so müßte ein Vorrat von Wärme, der außerdem noch vorhanden, nicht zu jenem Kraftvorrat hinzugezählt, sondern von ihm abgezogen werden. Sonst müßte die Sonnenwärme die Anziehungskraft der Erde verstärken, wenn sie – ihr grade entgegen – Wasser verdunstet und den Dunst in die Höhe hebt; oder die Wärme eines glühenden Eisenrohrs, durch das man Wasserdampf leitet, müßte die chemische Anziehung von Sauerstoff und Wasserstoff verstärken, während sie sie grade außer Tätigkeit setzt. Oder, um dieselbe Sache in andrer Form zu verdeutlichen: Wir nehmen an, der Nebelball von r Radius, also vom Volumen 4/3πr3, habe die Temperatur t. Wir nehmen ferner an, ein zweiter Nebelball von gleicher Masse habe bei der höheren Temperatur T den größeren Radius R und das Volumen 4/3πR3. Nun ist es einleuchtend, daß in dem zweiten Nebelball die Attraktion, mechanische wie physikalische und chemische, erst dann mit gleicher Kraft wirken kann wie im ersten, wenn er von Radius R auf Radius r zusammengeschrumpft ist, d.h. die der Temperaturdifferenz T-t entsprechende Wärme in den Weltraum ausgestrahlt hat. Der wärmere Nebelball wird also später zur Verdichtung kommen als der kältere, folglich ist die Wärme, als Hindernis der Verdichtung, vom Helmholtzschen Standpunkt betrachtet, kein Plus, sondern ein Minus des »Kraftvorrats«, indem Helmholtz die Möglichkeit eines zu attraktiven Bewegungsformen hinzutretenden und ihre Summe vermehrenden Quantums von repulsiver Bewegung in der Form von Wärme voraussetzt, begeht er also einen entschiednen Rechnungsfehler.

Bringen wir nun diesen sämtlichen »Kräftevorrat«, möglichen wie nachweisbaren, auf dasselbe Vorzeichen, damit eine Addition möglich wird. Da[368] wir vorläufig die Wärme noch nicht umkehren, statt ihrer Repulsion die äquivalente Attraktion setzen können, so werden wir diese Umkehrung bei den beiden Anziehungsformen vornehmen müssen. Dann haben wir statt der allgemeinen Anziehungskraft, statt der chemischen Verwandtschaftskraft und statt der außerdem möglicherweise als solcher bereits im Anfang existierenden Wärme einfach zu setzen – die Summe der im Gasball, im Moment seiner Verselbständigung, vorhandenen Repulsionsbewegung oder sogenannten Energie. Und damit stimmt denn auch die Rechnung von Helmholtz, bei der er »die Erwärmung« berechnen will,

»welche durch die angenommene anfängliche Verdichtung der Himmelskörper unsres Systems aus nebelartigem zerstreutem Stoffe entstehen mußte« [S. 134].

Indem er so den ganzen »Kraftvorrat« auf Wärme, Repulsion, reduziert, macht er es auch möglich, den vermutlichen »Kraftvorrat von Wärme« hinzuzuaddieren. Dann drückt die Rechnung aus, daß 453/454 aller ursprünglich im Gasball vorhandenen Energie, d.h. Repulsion, in Gestalt von Wärme in den Weltraum ausgestrahlt ist, oder, genau gesprochen, daß die Summe aller Attraktion im heutigen Sonnensystem zur Summe aller darin noch vorhandenen Repulsion sich verhält wie 454: 1. Dann widerspricht sie aber gradezu dem Text des Vertrags, dem sie als Belegstück beigefügt ist.

Wenn nun aber die Vorstellung der Kraft selbst bei einem Physiker wie Helmholtz zu solcher Begriffsverwirrung Anlaß gibt, so ist dies der beste Beweis, daß sie überhaupt wissenschaftlich unbrauchbar ist in allen Forschungszweigen, die über die rechnende Mechanik hinausgehn. In der Mechanik nimmt man die Bewegungsursachen als gegeben an und kümmert sich nicht um ihren Ursprung, sondern nur um ihre Wirkungen. Bezeichnet man also eine Bewegungsursache als eine Kraft, so tut das der Mechanik als solcher keinen Abbruch; aber man gewöhnt sich daran, diese Bezeichnung auch in die Physik, Chemie und Biologie zu übertragen, und dann ist die Konfusion unvermeidlich. Das haben wir gesehn und werden es noch öfter sehn.

Über den Begriff der Arbeit im nächsten Kapitel.[369]

A13

Am Rande des Manuskripts findet sich hier folgende mit Bleistift geschriebene Notiz: »Kant [sagt], p.22, daß die 3 Raumdimensionen dadurch bedingt sind, daß diese Attraktion oder Repulsion nach dem umgekehrten Quadrat der Entfernung geschieht.«

A14

Im Sinne des gegenseitigen Ausgleichs und der Neutralisation

7

In den »Pop. Vorles.« II, S. 113, scheint Helmholtz, außer Mayer, Joule und Colding, auch sich selbst einen gewissen Anteil an der naturwissenschaftlichen Beweisführung für den Descartesschen Satz von der quantitativen Unveränderlichkeit der Bewegung zuzuschreiben. »Ich selbst hatte, ohne von Mayer und Colding etwas zu wissen, und mit Joules Versuchen erst am Ende meiner Arbeit bekannt geworden, denselben Weg betreten; ich bemühte mich namentlich, alle Beziehungen zwischen den verschiedenen Naturprozessen aufzusuchen, welche aus der angegebnen Betrachtungsweise zu folgern waren, und veröffentliche meine Untersuchungen 1847 in einer kleinen Schrift unter dem Titel: ›Über die Erhaltung der Kraft‹«. – Aber in dieser Schrift findet sich durchaus nichts für den Stand von 1847 Neues außer der oben erwähnten mathematischen übrigens sehr wertvollen Entwicklung, daß »Erhaltung der Kraft« und zentrale Wirkung der zwischen den verschiednen Körpern eines Systems tätigen Kräfte nur zwei verschiedne Ausdrücke für dieselbe Sache sind, und ferner eine genauere Formulierung des Gesetzes, daß die Summe der lebendigen und Spannkräfte in einem gegebnen mechanischen System konstant sei. In allen andern war sie seit Mayers zweiter Abhandlung von 1845 bereits überholt. Mayer behauptet schon 1842 die »Unzerstörlichkeit der Kraft« und weiß über die »Beziehungen zwischen den verschiednen Naturprozessen« von seinem neuen Standpunkt aus 1845 weit genialere Dinge zu sagen als Helmholtz 1847.

A16

alle Hervorhebungen von Engels

A78

Zu dieser Stelle des Textes ist am Rande des Manuskripts folgender Zusatz gemacht: »Bestritten Wolf, [S.] 325«

A17

Hervorhebung von Engels

A18

Hervorhebung von Engels

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 354-370.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Dialektik der Natur
Werke, 43 Bände, Band 20, Anti-Dühring. Dialektik der Natur

Buchempfehlung

Jean Paul

Titan

Titan

Bereits 1792 beginnt Jean Paul die Arbeit an dem von ihm selbst als seinen »Kardinalroman« gesehenen »Titan« bis dieser schließlich 1800-1803 in vier Bänden erscheint und in strenger Anordnung den Werdegang des jungen Helden Albano de Cesara erzählt. Dabei prangert Jean Paul die Zuchtlosigkeit seiner Zeit an, wendet sich gegen Idealismus, Ästhetizismus und Pietismus gleichermaßen und fordert mit seinen Helden die Ausbildung »vielkräftiger«, statt »einkräftiger« Individuen.

546 Seiten, 18.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon