[485] Die soeben dargestellte Umwälzung im Stand des Grundbesitzes konnte nicht ohne Einfluß bleiben auf die alte Verfassung. Sie rief in dieser ebenso bedeutende Veränderungen hervor, und diese wirkten ihrerseits zurück auf die Grundbesitzverhältnisse. Wir lassen zunächst die Umbildung der allgemeinen Staatsverfassung beiseite und beschränken uns hier auf den Einfluß der neuen ökonomischen Lage auf die noch fortbestehenden Reste der alten Volksverfassung in Gau und Heer.
Unter den Merowingern schon finden wir Grafen und Herzöge häufig als Verwalter von Krongut. Erst im 9. Jahrhundert jedoch finden wir unzweifelhaft gewisse Krongüter mit dem Grafenamt derart verbunden, daß der zeitweilige Graf ihr Einkommen bezog. Das frühere Ehrenamt war in ein durch Fundierung besoldetes übergegangen. Daneben finden wir auch, was sich unter den damaligen Verhältnissen von selbst versteht, die Grafen im Besitz königlicher. Ihnen persönlich überwiesener Benefizien. So wurde der Graf ein mächtiger Grundherr innerhalb seiner Grafschaft.
Zunächst ist klar, daß die Autorität des Grafen leiden mußte durch das Aufkommen großer Grundbesitzer unter und neben ihm; Leute, die unter den Merowingern und ersten Karolingern oft genug dem Befehle des Königs spotteten, mußten dem Gebot des Grafen noch weniger Respekt erweisen. Ihre freien Hintersassen, im Vertrauen auf den Schutz mächtiger Grundherren, vernachlässigten ebenso häufig, der Vorladung des Grafen vor Gericht nachzukommen oder seinem Aufgebot zum Heer. Es war dies grade eine der Ursachen, die die Einführung der Verleihung zu Benefizium statt zu Allod herbeiführte und die spätere allmähliche Umwandlung des meisten, ehemals freien großen Grundbesitzes in Benefizium.
Damit allein war die Herbeiziehung der auf den Gütern der Großen ansässigen Freien zu den Staatsleistungen noch nicht gesichert. Eine weitere Änderung mußte erfolgen. Der König sah sich genötigt, die Großgrundbesitzer für das Erscheinen ihrer freien Hintersassen zu Gericht, im Heer und bei sonstigen herkömmlichen Staatsdiensten verantwortlich zu machen,[485] in derselben Art wie bisher der Graf für alle freien Einwohner seiner Grafschaft gehaftet hatte. Und dies konnte nur dadurch geschehn, daß der König den Großen einen Teil der gräflichen Amtsbefugnisse über ihre Hintersassen übertrug. Der Grundherr oder Benefiziar mußte seine Leute vor Gericht stellen; sie mußten also durch seine Vermittlung vorgeladen werden. Er mußte sie dem Heer zuführen; durch ihn mußte also ihr Aufgebot erfolgen; er mußte, um fortwährend für sie haften zu können, die Führung und das Recht der Kriegszucht über sie haben. Aber es war und blieb Königsdienst der Hintersassen; den Widerspenstigen strafte nicht der Gutsbesitzer, sondern der königliche Graf; dem königlichen Fiskus fiel die Strafe zu.
Auch diese Neuerung führt sich auf Karl Martell zurück. Wenigstens finden wir erst seit seiner Zeit die Sitte der großen kirchlichen Würdenträger, selbst ins Feld zu ziehn, die nach Roth nur daraus zu erklären ist, daß Karl die Bischöfe an der Spitze ihrer Hintersassen zum Heer stoßen ließ, um sich des Erscheinens der letzteren zu versichern. Unzweifelhaft geschah mit den weltlichen Großen und ihren Hintersassen dasselbe. Unter Karl dem Großen erscheint die neue Einrichtung schon fest gegründet und allgemein durchgeführt.
Hiermit war aber eine wesentliche Veränderung eingetreten auch in der politischen Stellung der freien Hintersassen. Sie, die früher ihrem Grundherrn rechtlich gleichstanden, wie sehr sie auch wirtschaftlich von ihm abhängen mochten, wurden jetzt auch rechtlich seine Untergebenen. Die ökonomische Unterwerfung erhielt politische Sanktion. Der Grundherr wird Senior, Seigneur, die Hintersassen werden seine homines; der »Herr« wird der Vorgesetzte des »Mannes«. Die Rechtsgleichheit der Freien ist dahin, der unterste »Mann«, dessen Vollfreiheit durch den Verlust des Erbguts schon starken Abbruch erlitten, rückt dem Unfreien wieder um eine Stufe näher. Um soviel mehr erhebt sich der neue »Herr« über das Niveau der alten Gemeinfreiheit. Die ökonomisch bereits hergestellte Grundlage der neuen Aristokratie wird vom Staat anerkannt, wird eins der regelrecht mitwirkenden Triebräder der Staatsmaschine.
Neben diesen aus freien Hintersassen bestehenden homines gab es aber noch eine andre Art. Dies waren die freiwillig in ein Dienst- oder Gefolgsverhältnis zu den Großen getretenen verarmten Freien. Die Merowinger hatten ihre Gefolgschaft in den Antrustionen, die Großen jener Zeit werden ebenfalls nicht ohne Gefolge geblieben sein. Unter den Karolingern werden die Gefolgsleute des Königs Vassi, Vasalli oder Casindi genannt. Ausdrücke, die in den ältesten Volksrechten noch für einen Unfreien gebraucht werden,[486] jetzt aber bereits die Bedeutung eines in der Regel freien Gefolgsmanns angenommen haben. Dieselben Bezeichnungen gelten für die Gefolgsleute der Großen, die jetzt ganz allgemein vorkommen und ein immer zahlreicheres und wichtigeres Element in Gesellschaft und Staat werden.
Wie die Großen zu solchen Gefolgsleuten kamen, zeigen die alten Vertragsformeln. In einer solchen (Form[ulae] Sirmond[icae] 44) heißt es z.B.:
»Sintemal es männiglich bekannt, daß ich nichts habe, wovon ich mich nähren oder kleiden soll, so bitte ich von Eurer« (des Herrn) »Frömmigkeit, daß ich mich in Eure Schutzherrschaft« (mundoburdum – gleichsam Vormundschaft) »begeben und kommendieren möge, der Art,... daß ihr mir mit Nahrung und Kleidung auszuhelfen schuldig, je nachdem ich Euch dienen und solches verdienen werde; ich aber, solange ich lebe. Euch nach Art eines freien Mannes (ingenuili ordine) Dienst und Folge zu leisten schuldig sei; auch zu meinen Lebzeiten Eurer Gewalt und Schutzhoheit zu entziehen nicht die Macht, sondern mein Lebtag unter Eurer Gewalt und Schutz zu bleiben habe.«
Diese Formel gibt vollständigen Aufschluß über die Entstehung und Natur des einfachen, aller fremden Beimischung entkleideten Gefolgsverhältnisses, und zwar um so mehr, weil sie den extremen Fall eines ganz heruntergekommnen armen Teufels darstellt. Der Eintritt in den Gefolgsverband des Seniors geschah Infolge eines freien Übereinkommens beider Teile – frei im Sinn der römischen und modernen Jurisprudenz, oft genug ähnlich wie der Eintritt eines heutigen Arbeiters in den Dienst eines Fabrikanten. Der »Mann« kommendierte sich dem Herrn, und dieser nahm seine Kommendation an. Diese bestand im Handschlag und Eid der Treue. Das Übereinkommen war lebenslänglich und wurde nur durch den Tod eines von beiden Kontrahenten gelöst. Der Dienstmann war verpflichtet zu allen mit der Stellung eines Freien verträglichen Dienstleistungen, die ihm sein Herr auftragen mochte. Dafür wurde er von diesem unterhalten und je nach Ermessen belohnt. Eine Überweisung von Land war damit keineswegs notwendig verbunden und fand in der Tat auch durchaus nicht in allen Fällen statt.
Dies Verhältnis wurde unter den Karolingern, besonders seit Karl dem Großen, nicht nur toleriert, sondern direkt begünstigt und zuletzt, wie es scheint durch ein Kapitular von 847, allen Gemeinfreien zur Pflicht gemacht und staatlich geregelt. So durfte der Dienstmann das Verhältnis zu seinem Herrn nur dann einseitig lösen, wenn dieser ihn töten, mit einem Stock schlagen, seine Frau oder Tochter entehren oder sein Erbgut ihm nehmen wollte (Kapit[ular] von 813). Und zwar war der Dienstmann an den Herrn[487] gebunden, sobald er von diesem den Wert eines Solidus erhalten hatte; woraus nochmals klar hervorgeht, wie wenig damals das Vasallitätsverhältnis an Landverleihung notwendig geknüpft war. Dieselben Bestimmungen wiederholt ein Kapitular von 816 mit dem Zusatz, der Dienstmann sei entbunden, wenn sein Herr ihn unrechtmäßig in den Unfreienstand bringen wolle oder ihm den versprochnen Schutz zwar leisten könne, aber nicht leiste.
Gegenüber dem Staat bekam nun der Gefolgsherr dieselben Rechte und Pflichten mit Bezug auf seine Gefolgsleute wie der Grundherr oder Benefiziar mit Bezug auf seine Hintersassen. Sie blieben dem König dienstpflichtig, nur schob sich auch hier zwischen den König und dessen Grafen der Gefolgsherr. Er stellte die Vasallen vor Gericht, er bot sie auf, führte sie im Krieg an und hielt die Manneszucht unter ihnen aufrecht, er haftete für sie und ihre vorschriftsmäßige Ausrüstung. Dadurch bekam aber der Gefolgsherr eine gewisse Strafgewalt über seine Untergebnen, und diese bildet den Ausgangspunkt der später sich entwickelnden Gerichtsbarkeit des Lehnsherrn über seine Vasallen.
In diesen weiteren beiden Einrichtungen, in der Ausbildung des Gefolgschaftswesens und in der Übertragung gräflicher, also staatlicher, Amtsgewalt an den Grundherrn, Kron-, Benefiziar- und Gefolgsherrn über seine nun bald sämtlich als Vassi, Vasalli, Homines zusammengefaßten Untergebnen – Hintersassen wie landlose Gefolgsleute –, in dieser staatlichen Bestätigung, Verstärkung der faktischen Macht des Herrn über die Vasallen, sehen wir den in den Benefizien gegebnen Keim des Lehnwesens sich schon bedeutend weiter entwickeln. Die Hierarchie der Stände, vom König abwärts durch die großen Benefiziare zu deren freien Hintersassen und endlich den Unfreien herab, wird anerkanntes. In amtlicher Eigenschaft mitwirkendes Element der Staatsordnung. Der Staat erkennt an, daß er ohne ihre Hülfe nicht bestehn kann. Wie diese Hülfe tatsächlich geleistet wurde, wird sich freilich zeigen.
Die Unterscheidung von Gefolgsleuten und Hintersassen ist nur wichtig für den Anfang, um den doppelten Ursprung der Abhängigkeit der Freien nachzuweisen. Sehr bald fließen beide Arten von Vasallen, wie im Namen so auch in der Tat, untrennbar zusammen. Die großen Benefiziare nahmen mehr und mehr den Brauch an, sich dem König zu kommendieren, neben seinen Benefiziaren also seine Vasallen zu werden. Die Könige fanden es in ihrem Interesse, sich den Treueid der Großen, Bischöfe, Äbte, Grafen und Vasallen persönlich ableisten zu lassen (»Ann[ales] Bertin[iani]« 837 und öfter im 9. Jahrhundert), wobei dann der Unterschied zwischen dem[488] allgemeinen Untertaneneid und dem besondern Vasalleneid sich bald verwischen mußte. So verwandeln sich nach und nach sämtliche Große in königliche Vasallen. Hiermit aber war die langsam vor sich gegangne Entwicklung der großen Grundbesitzer zu einem besondren Stand, zu einer Aristokratie, vom Staat anerkannt, der Staatsordnung eingefügt, einer ihrer amtlich wirkenden Hebel geworden.
Ebenso geht der Gefolgsmann des einzelnen Großgrundbesitzers allmählich auf in den Hintersassen. Abgesehn von der direkten Verpflegung am Herrenhofe, die doch nur für eine geringe Anzahl von Köpfen stattfinden konnte, blieb kein andres Mittel, sich Gefolgsleute zu sichern, als indem man sie auf Grund und Boden ansetzte, ihnen Land zu Benefizium übertrug. Ein zahlreiches streitbares Gefolge, Hauptbedingung der Existenz der Großen in jener Zeit ewiger Kämpfe, war also nur durch Landverleihung an die Vasallen zu erlangen. Daher verschwinden allmählich die landlosen Dienstleute des Herrenhofs vor der Masse der auf Herrenland angesessenen.
Je mehr aber dies neue Element in die alte Verfassung sich einschob, desto mehr mußte diese erschüttert werden. Die alte, unmittelbare Übung der Staatsgewalt durch König und Grafen machte mehr und mehr Platz einer mittelbaren; zwischen die Gemeinfreien und den Staat trat der Senior, dem jene in immer größerem Maß persönlich zur Treue verbunden waren. Das wirksamste Triebstück der Staatsmaschine, der Graf, mußte mehr und mehr in den Hintergrund treten und tat es auch wirklich. Karl der Große verfuhr hier, wie er überall zu verfahren pflegte. Zuerst begünstigte er, wie wir sahen, das Überhandnehmen des Vasallenverhältnisses, bis die unabhängigen kleinen Freien fast verschwanden; als dann die hierdurch herbeigeführte Schwächung seiner Macht zutage trat, versuchte er ihr durch staatliches Eingreifen wieder auf die Beine zu helfen. Das mochte in manchen Fällen unter einem so energischen und gefürchteten Herrscher gelingen; unter seinen schwachen Nachfolgern brach die Macht der mit seiner Hülfe geschaffnen Tatsachen sich unaufhaltsam Bahn.
Das beliebte Mittel Karls war die Aussendung königlicher Sendboten (missi dominici) mit außerordentlicher Machtvollkommenheit. Wo der gewöhnliche königliche Beamte, der Graf, der einreißenden Unordnung nicht steuern konnte, da sollte ein Spezialgesandter dies tun. (Dies historisch weiter zu begründen und entwickeln.)
Nun gab es aber noch ein andres Mittel, und dies bestand darin, den Grafen in eine solche Stellung zu versetzen, daß er auch an materiellen Machtmitteln den Großen seiner Grafschaft mindestens gleichstand. Dies war nur möglich, wenn der Graf ebenfalls in die Reihe der großen Grundbesitzer[489] trat, was wieder auf zwei Wegen geschehen konnte. Gewisse Grundstücke konnten in den einzelnen Gauen dem Grafenamt als Dotation beigegeben werden, so daß der jeweilige Graf sie von Amts wegen verwaltete und ihre Einkünfte bezog. Hiervon finden sich viele Beispiele besonders in Urkunden, und zwar schon seit Ende des 8. Jahrhunderts; seit dem 9. ist dies Verhältnis ganz gewöhnlich. Solche Dotationen stammen selbstredend meist aus dem königlichen Fiskalgut, wie wir schon zur Merowingerzeit häufig Grafen und Herzöge als Verwalter der in ihrem Gebiet liegenden königlichen Fiskalgüter finden.
Merkwürdigerweise finden sich auch manche Beispiele (sogar ein Formular dafür), wo Bischöfe das Grafenamt aus dem Kirchengut dotieren, natürlich, bei der Unveräußerlichkeit des Kirchenguts, in irgendeiner Form des Benefiziums. Die Freigebigkeit der Kirche ist zu bekannt, um hierfür einen andern Grund zulässig zu halten als die bittere Not. Unter dem wachsenden Druck der benachbarten weltlichen Großen blieb der Kirche nur der Bund mit den Resten der Staatsgewalt.
Diese mit den Grafenstellen verknüpften Pertinenzen (res comitatus, pertinentiae comitatus), sind anfänglich noch scharf geschieden von den Benefizien, die dem jeweiligen Grafen persönlich übertragen waren. Auch diese wurden gewöhnlich reichlich erteilt, so daß, Dotation und Benefizien zusammengerechnet, die Grafenämter, ursprünglich Ehrenstellen, jetzt sehr einträgliche Posten und seit Ludwig dem Frommen ganz wie andre königliche Freigebigkeiten an Leute vergeben wurden, die man gewinnen oder deren man sich versichern wollte. So heißt es von Ludwig dem Stammler, daß er »quos potuit conciliavit [sibi], dans eis abbatias et comitatus ac villas« (»Ann[ales] Bertin[iani]« 877). Die Benennung Honor, womit früher das Amt mit Beziehung auf die damit verbundenen Ehrenrechte bezeichnet worden, erhält im Lauf des 9. Jahrhunderts ganz dieselbe Bedeutung wie Benefizium. Und hiermit vollzog sich notwendig auch eine wesentliche Veränderung im Charakter des Grafenamts, die mit Recht von Roth (S. 408) hervorgehoben wird. Ursprünglich war das Seniorat, soweit es einen öffentlichen Charakter erhielt, dem Grafenamt nachgebildet, mit gräflichen Befugnissen ausgestattet. Jetzt – in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts – hatte das Seniorat so allgemein um sich gegriffen, daß es das Grafenamt zu überwuchern drohte und dieses sich nur in seiner Machtstellung halten konnte, indem es selbst mehr und mehr den Charakter eines Seniorats[490] annahm. Die Grafen usurpierten mehr und mehr, und nicht erfolglos, die Stellung eines Seniors gegenüber ihren Gaubewohnern (pagenses), und zwar sowohl was deren private wie öffentliche Verhältnisse betraf. Ganz wie die übrigen »Herren« die ihnen benachbarten kleinen Leute, so suchten auch die Grafen die weniger bemittelten freien Gaubewohner mit Güte oder Gewalt dahin zu bringen, sich ihnen als Vasallen zu unterwerfen. Dies gelang um so leichter, als die bloße Tatsache, daß die Grafen ihre Amtsgewalt derart mißbrauchen konnten, der beste Beweis ist, wie wenig Schutz der noch übrige Rest der Gemeinfreien von der königlichen Macht und ihren Organen erwarten durfte. Von allen Seiten der Vergewaltigung preisgegeben, mußten die kleineren Freien froh sein, selbst gegen Abtretung ihres Allods und Wiedererlangung desselben zu bloßem Benefizium, irgendeinen Schutzherrn zu finden. Schon Kap[itular] 811 klagt Karl der Große, daß Bischöfe, Äbte, Grafen, Richter, Zentenare kleine Leute durch fortwährende Rechtsschikanen oder stets wiederholtes Aufgebot zum Heere so weit herunterbringen, bis sie jenen ihr Allod übertragen oder verkaufen, daß die Armen sich laut über den an ihrem Eigentum geschehenden Raub beklagen usw. Auf diese Weise war in Gallien bereits Ende des 9. Jahrhunderts der größte Teil des freien Eigentums in die Hände der Kirche, der Grafen und andrer Großen gekommen (Hincmar Rem[ensis] 869), und etwas später gab es in einigen Provinzen schon gar kein freies Grundeigentum kleiner Freier mehr. (Maurer, »Einl[eitung]«, S. 212.) Sobald nun die Benefizien bei der wachsenden Macht der Benefiziare und der verfallenden der Krone allmählich erblich wurden, wurden es gewohnheitsmäßig die Grafenämter auch. Sahen wir in der Menge der königlichen Benefiziare die Ansätze zur Bildung des späteren Adels, so hier den Keim der Territorialhoheit der aus den Gaugrafen hervorgegangnen späteren Landesherrn.
Während so die gesellschaftliche und staatliche Ordnung vollständig anders wurde, blieb die alte Heerverfassung, gegründet auf Waffendienst – so Recht wie Pflicht – aller Freien, äußerlich dieselbe, nur daß, wo die neuen Abhängigkeitsverhältnisse bestanden, der Senior zwischen seine Vasallen und den Grafen sich einschob. Aber die Gemeinfreien waren von Jahr zu Jahr weniger imstand, die Last des Heerdienstes zu tragen. Diese bestand nicht nur im persönlichen Dienst; der Aufgebotene mußte sich auch selbst ausrüsten und während der ersten sechs Monate auf eigene Kosten verpflegen, bis endlich die unaufhörlichen Kriege Karls des Großen dem Faß den[491] Boden ausschlugen. Die Last wurde so unerträglich, daß, um ihr zu entgehn, die kleinen Freien massenweise vorzogen, nicht nur den Rest ihres Besitzes, sondern ihre eigne Person und die ihrer Nachkommen den Großen, besonders aber der Kirche zu übertragen. Dahin hatte Karl die freien kriegerischen Franken heruntergebracht, daß sie lieber Hörige und Leibeigne wurden, um nur nicht in den Krieg zu ziehn. Das war die Folge davon, daß Karl sich darauf versteifte, eine auf allgemeinen und gleichen Grundbesitz aller Freien gegründete Kriegsverfassung auch dann noch durchzuführen, und zwar bis auf die äußerste Spitze zu treiben, als der großen Menge der Freien der Grundbesitz ganz oder größtenteils abhanden gekommen war.
Die Tatsachen waren indes stärker als Karls Eigensinn und Ehrgeiz. Die alte Heerverfassung war nicht mehr zu halten. Das Heer auf Staatskosten auszurüsten und zu verpflegen, ging erst recht nicht in jener Zeit einer fast geld- und handelslosen Naturalwirtschaft. Karl war also genötigt, die Dienstpflicht so zu beschränken, daß Ausrüstung und Verpflegung des Mannes möglich blieb. Dies geschah im Aachener Kapitular 807, als die Kriege sich nur noch auf Grenzkämpfe beschränkten und der Bestand des Reichs im ganzen gesichert schien. Vor allem sollte jeder königliche Benefiziar ohne Unterschied sich stellen, dann, wer zwölf Hufen (mansi) besitzt, geharnischt, also auch wohl zu Pferd erscheinen (das Wort caballarius – Ritter, kommt in demselben Kapitular vor). Besitzer von drei bis fünf Hufen waren pflichtig. Von zwei Besitzern von je zwei Hufen, von dreien zu einer Hufe, von sechsen zu einer halben Hufe mußte jedesmal einer gestellt und von den andern ausgerüstet werden. Von ganz landlosen, aber Mobiliarvermögen im Werte von fünf Solidi besitzenden Freien sollte ebenfalls der sechste Mann ausrücken und eine Geldunterstützung von einem Solidus von jedem der andern fünf erhalten. Auch wird die Auszugspflicht der verschiednen Landesteile, die bei diesen benachbarten Kriegen voll eintritt, für entferntere Kriege je nach der Entfernung auf die Hälfte bis ein Sechstel der Mannschaft beschränkt.
Karl suchte, hier offenbar die alte Verfassung der veränderten ökonomischen Lebenslage der Dienstpflichtigen anzupassen, zu retten, was noch zu retten war. Aber auch diese Konzession half nicht; schon bald darauf war er genötigt. Im Cap[itulare] de exercitu promovendo neue Befreiungen zu gestatten. Dies Kapitular, gewöhnlich früher als das Aachener datiert, ist seinem ganzen Inhalt nach unzweifelhaft mehrere Jahre später als dies. Es erhöht die Hufenzahl, von der je ein Mann zu stellen ist, von drei auf vier;[492] die Besitzer von halben Hufen und die Landlosen erscheinen als dienstfrei, und auch für Benefiziare ist die Stellungspflicht auf einen Mann für je vier Hufen beschränkt. Unter den Nachfolgern Karls scheint das Minimum der Hufenzahl, die einen Mann stellte, sogar auf fünf erhöht zu sein.
Merkwürdig ist, daß die Gestellung der geharnischten Zwölfhufner die größten Schwierigkeiten gefunden zu haben scheint. Wenigstens wird das Gebot, daß sie gepanzert zu erscheinen haben, unzählige Male in den Kapitularien wiederholt.
So verschwanden die Gemeinfreien immer mehr. Hatte ihre allmähliche Trennung von Grund und Boden einen Teil in die Vasallität der neuen großen Grundherren getrieben, so trieb die Furcht vor direktem Ruin durch den Heerdienst den andern Teil geradezu in die Leibeigenschaft. Wie rasch diese Ergebung in die Knechtschaft vor sich ging, dafür zeugt das Polyptichon (Grundbesitzregister) des Klosters Saint-Germain-des-Prés, das damals noch außerhalb Paris lag. Es ist vom Abt Irminon im Anfang des 9. Jahrhunderts zusammengestellt und weist unter den Hintersassen des Klosters auf: 2080 Familien von Kolonen, 35 von Liten, 220 von Sklaven (servi), dagegen nur acht freie Familien. Das Wort Colonus jener Zeit war aber in Gallien entschieden ein Unfreier. Die Heirat einer Freien mit einem Kolonen oder Sklaven unterwarf sie als geschändet (deturpatam) dem Herrn (Kap[itular] 817). Ludwig der Fromme befiehlt, daß »colonus vel servus« (eines Klosters zu Poitiers) »ad naturale servitium velit nolit redeat«. Sie erhielten Hiebe (capitulare 853, 861, 864, 873) und wurden manchmal freigelassen (Guérard, »[Polyptyque de l'abbé] Irminon«). Und diese leibeignen Bauern waren nicht etwa Romanen, sondern nach Jakob Grimms eignem Zeugnis (»Gesch[ichte] der d[eutschen] Spr[ache] «, I), der die Namen untersuchte, »fast lauter fränkische, die einer geringen Anzahl romanischer weit überwogen«.
Eine so gewaltige Zunahme der unfreien Bevölkerung verschob wiederum die Klassenverhältnisse der fränkischen Gesellschaft. Neben die sich damals rasch zu einem eignen Stand ausbildenden Großgrundbesitzer, neben ihre freien Vasallen trat nun eine den Rest der Gemeinfreien mehr und mehr aufsaugende Klasse von Unfreien. Aber diese Unfreien waren teils selbst noch frei gewesen, teils Kinder von Freien; die seit drei und mehr Generationen in erblicher Knechtschaft Lebenden waren weitaus die Minderzahl. Auch waren sie großenteils nicht von außen eingeschleppte,[493] sächsische, wendische etc. Kriegsgefangne; im Gegenteil, die meisten waren einheimische Franken und Romanen. Mit solchen Leuten, wenn sie noch dazu die Masse der Bevölkerung auszumachen anfingen, war nicht so leicht umzugehn wie mit ererbten oder fremden Leibeignen. Die Knechtschaft war ihnen noch ungewohnt, die Hiebe, die selbst der Kolone erhielt (Kap[itular] 853, 861, 873), wurden noch als Schmach, nicht als selbstverständlich empfunden. Daher die vielen Verschwörungen und Aufstände der Unfreien und selbst der bäuerlichen Vasallen. Karl der Große schlug selbst einen Aufstand der Hintersassen des Bistums Reims gewaltsam nieder. Ludwig der Fromme spricht im K[apitular] 821 von Verschwörungen der Sklaven (servorum) in Flandern und Menapiscus (an der obern Lys). 848 und 866 mußten Aufstände der Dienstleute (homines) des Bistums Mainz unterdrückt werden. Die Gebote, solche Verschwörungen zu unterdrücken, wiederholen sich in den Kapitularien seit 779. Der Aufstand der Stellinga in Sachsen muß ebenfalls hierher gehören. Offenbar eine Folge dieser drohenden Haltung der unfreien Massen war es, wenn seit Ende des 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts die Leistungen der Unfreien, selbst der ansässigen Sklaven, mehr und mehr auf ein bestimmtes unüberschreitbares Maß gesetzt wurden und Karl der Große in seinen Kapitularien dies vorschreibt.
Das also war der Preis, um den Karl sein neurömisches Kaiserreich erkaufte: die Vernichtung des Standes der Gemeinfreien, die zur Zeit der Eroberung Galliens das ganze Frankenvolk umfaßt hatten; die Spaltung des Volks in große Grundbesitzer, Vasallen, Leibeigne. Aber mit den Gemeinfreien fiel die alte Heerverfassung, mit beiden fiel das Königtum. Karl hatte die einzige Grundlage seiner eignen Herrschaft vernichtet. Ihn hielt's noch aus; unter seinen Nachfolgern aber trat an den Tag, was in Wirklichkeit das Werk seiner Hände war.
Buchempfehlung
Ein alternder Fürst besucht einen befreundeten Grafen und stellt ihm seinen bis dahin verheimlichten 17-jährigen Sohn vor. Die Mutter ist Komtesse Mizzi, die Tochter des Grafen. Ironisch distanziert beschreibt Schnitzlers Komödie die Geheimnisse, die in dieser Oberschichtengesellschaft jeder vor jedem hat.
34 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro