[233] Die politischen Forderungen des Entwurfs haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werden sollte, steht nicht drin. Wenn alle diese 10 Forderungen bewilligt wären, so hätten wir zwar diverse Mittel mehr, um die politische Hauptsache durchzusetzen, aber keineswegs die Hauptsache selbst. Die Reichsverfassung ist in der Abmessung der dem Volk und seiner Vertretung überwiesenen Rechte ein purer Abklatsch der preußischen Verfassung von 1850, einer Verfassung, worin die äußerste Reaktion in Paragraphen gefaßt ist, worin die Regierung alle wirkliche Macht besitzt und die Kammern nicht einmal das Steuerverweigerungsrecht haben; einer Verfassung, die in der Konfliktszeit bewies, daß die Regierung mit ihr machen konnte, was sie wollte. Die Rechte des Reichstags sind genau dieselben wie die der preußischen Kammer, und daher nannte Liebknecht diesen Reichstag das Feigenblatt des Absolutismus. Auf Grundlage dieser Verfassung und der von ihr sanktionierten Kleinstaaterei, eines »Bundes« zwischen Preußen und Reuß-Greiz-Schleiz-Lobenstein, wovon das eine soviel Quadratmeilen hat als das andre Quadratzoll, auf solcher Grundlage die »Umwandlung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum« durchführen zu wollen, ist augenscheinlich sinnlos.
Daran zu tasten ist aber gefährlich. Und dennoch muß so oder so die[233] Sache angegriffen werden. Wie nötig das ist, beweist grade jetzt der in einem großen Teil der sozialdemokratischen Presse einreißende Opportunismus. Aus Furcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus der Erinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes gefallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegenwärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügen können, alle ihre Forderungen auf friedlichem Weg durchzuführen. Man redet sich und der Partei vor, »die heutige Gesellschaft wachse in den Sozialismus hinein«, ohne sich zu fragen, ob sie nicht damit ebenso notwendig aus ihrer alten Gesellschaftsverfassung hinauswachse und diese alte Hülle ebenso gewaltsam sprengen müsse wie der Krebs die seine, als ob sie in Deutschland nicht außerdem die Fesseln der noch halb absolutistischen und obendrein namenlos verworrenen politischen Ordnung zu sprengen habe. Man kann sich vorstellen, die alte Gesellschaft könne friedlich in die neue hineinwachsen in Ländern, wo die Volksvertretung alle Macht in sich konzentriert, wo man verfassungsmäßig tun kann, was man will, sobald man die Majorität des Volks hinter sich hat: in demokratischen Republiken wie Frankreich und Amerika, in Monarchien wie in England, wo die bevorstehende Abkaufung der Dynastie tagtäglich in der Presse besprochen wird und wo diese Dynastie gegen den Volkswillen ohnmächtig ist. Aber in Deutschland, wo die Regierung fast allmächtig und der Reichstag und alle andern Vertretungskörper ohne wirkliche Macht, in Deutschland so etwas proklamieren, und noch dazu ohne Not, heißt das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmen und sich selbst vor die Blöße binden.
Eine solche Politik kann nur die eigne Partei auf die Dauer irreführen. Man schiebt allgemeine, abstrakte politische Fragen in den Vordergrund und verdeckt dadurch die nächsten konkreten Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereignissen, bei der ersten politischen Krise sich selbst auf die Tagesordnung setzen. Was kann dabei herauskommen, als daß die Partei plötzlich, im entscheidenden Moment, ratlos ist, daß über die einschneidendsten Punkte Unklarheit und Uneinigkeit herrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden sind. Soll es wieder gehen wie seinerzeit mit den Schutzzöllen, die man damals für eine nur die Bourgeoisie angehende, die Arbeiter nicht im entferntesten berührende Frage erklärte, wo also jeder stimmen könne, wie er wolle, während jetzt mehr als einer ins entgegengesetzte Extrem verfällt und aus Gegensatz gegen die schutzzöllnerisch gewordnen Bourgeois die ökonomischen Verdrehungen von Cobden und Bright neu auflegt und als reinsten Sozialismus predigt – das reinste Manchestertum? Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den[234] augenblicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachten nach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späteren Folgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Gegenwart der Bewegung willen mag »ehrlich« gemeint sein, aber Opportunismus ist und bleibt es, und der »ehrliche« Opportunismus ist vielleicht der gefährlichste von allen.
Welches sind nun diese kitzligen, aber sehr wesentlichen Punkte?
Erstens. Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat. Es ist doch undenkbar, daß unsre besten Leute unter einem Kaiser Minister werden sollten wie Miquel. Nun scheint es gesetzlich nicht anzugehn, daß man die Forderung der Republik direkt ins Programm setzt, obwohl das sogar unter Louis-Philippe in Frankreich ebenso zulässig war wie jetzt in Italien. Aber das Faktum, daß man nicht einmal ein offen republikanisches Parteiprogramm in Deutschland aufstellen darf, beweist, wie kolossal die Illusion ist, als könne man dort auf gemütlich-friedlichem Weg die Republik einrichten, und nicht nur die Republik, sondern die kommunistische Gesellschaft.
Indes kann man an der Republik sich allenfalls vorbeidrücken. Was aber nach meiner Ansicht hinein sollte und hinein kann, das ist die Forderung der Konzentration aller politischen Macht in den Händen der Volksvertretung. Und das würde einstweilen genügen, wenn man nicht weitergehen kann.
Zweitens. Die Rekonstitution Deutschlands. Einerseits muß die Kleinstaaterei beseitigt werden – man revolutioniere doch die Gesellschaft, solange es bayrisch-württembergische Reservatrechte gibt und die Karte z.B. von Thüringen das gegenwärtige Jammerbild bietet! Andrerseits muß Preußen aufhören zu existieren, muß in selbstverwaltende Provinzen aufgelöst werden, damit das spezifische Preußentum aufhört, auf Deutschland zu lasten. Kleinstaaterei und spezifisches Preußentum sind die beiden Seiten des Gegensatzes, worin Deutschland jetzt gefangenliegt und wo immer die eine Seite der anderen als Entschuldigung und Existenzgrund dienen muß.
Was soll an die Stelle treten? Nach meiner Ansicht kann das Proletariat nur die Form der einen und unteilbaren Republik gebrauchen. Die Föderativrepublik ist auf dem Riesengebiet der Vereinigten Staaten jetzt noch im ganzen eine Notwendigkeit, obgleich sie im Osten bereits ein Hindernis wird. Sie wäre ein Fortschritt in England, wo vier Nationen auf den beiden Inseln wohnen und trotz eines Parlaments schon jetzt dreierlei Gesetzsysteme nebeneinander bestehn. Sie ist in der kleinen Schweiz schon längst[235] ein Hindernis geworden, erträglich nur, weil die Schweiz sich damit begnügt, ein rein passives Glied des europäischen Staatensystems zu sein. Für Deutschland wäre die föderalistische Verschweizerung ein enormer Rückschritt. Zwei Punkte unterscheiden den Bundesstaat vom Einheitsstaat: daß jeder verbündete Einzelstaat, jeder Kanton seine eigne Zivil- und Kriminalgesetzgebung und Gerichtsverfassung hat, und dann, daß neben dem Volkshaus ein Staatenhaus besteht, worin jeder Kanton, groß oder klein, als solcher stimmt. Das erste haben wir glücklich überwunden und werden nicht so kindisch sein, es wieder einzuführen, und das zweite haben wir im Bundesrat und können es sehr gut entbehren, wie denn überhaupt unser »Bundesstaat« schon den Übergang zum Einheitsstaat bildet. Und wir haben nicht die 1866 und 1870 gemachte Revolution von oben wieder rückgängig zu machen, sondern ihr die nötige Ergänzung und Verbesserung zu geben durch eine Bewegung von unten.
Also einheitliche Republik. Aber nicht im Sinne der heutigen französischen, die weiter nichts ist als das 1798 begründete Kaiserreich ohne den Kaiser. Von 1792 bis 1798 besaß jedes französische Departement, jede Gemeinde vollständige Selbstverwaltung nach amerikanischem Muster, und das müssen wir auch haben. Wie die Selbstverwaltung einzurichten ist und wie man ohne Bürokratie fertig werden kann, das bewies uns Amerika und die erste französische Republik, und noch heute Australien, Kanada und die andern englischen Kolonien. Und eine solche provinzielle und gemeindliche Selbstverwaltung ist weit freier als zum Beispiel der Schweizer Föderalismus, wo der Kanton zwar sehr unabhängig ist gegenüber dem Bund, aber auch gegenüber dem Bezirk und der Gemeinde. Die Kantonalregierungen ernennen Bezirksstatthalter und Präfekten, wovon man in den Ländern englischer Zunge nichts weiß und die wir uns ebenso höflichst in Zukunft verbeten haben wollen wie die preußischen Landräte und Regierungsräte.
Von allen diesen Sachen wird nicht viel ins Programm kommen dürfen. Ich erwähne sie auch hauptsächlich, um die Zustände in Deutschland zu kennzeichnen, wo so etwas zu sagen nicht angeht, und damit gleichzeitig die Selbsttäuschung, die solche Zustände auf gesetzlichem Weg in die kommunistische Gesellschaft überführen will. Und ferner, um dem Parteivorstand in Erinnerung zu bringen, daß es noch andre politische Fragen von Wichtigkeit gibt als die direkte Gesetzgebung durch das Volk und die unentgeltliche Rechtspflege, ohne die wir am Ende auch vorankommen. Bei der allgemeinen Unsicherheit können jene Fragen von heute auf morgen brennend werden, und was dann, wenn wir sie nicht diskutiert, uns nicht darüber verständigt haben?[236]
Was aber ins Programm kommen kann und was wenigstens indirekt als Andeutung des nicht Sagbaren dienen kann, ist die Forderung:
»Vollständige Selbstverwaltung in Provinz, Kreis und Gemeinde durch nach allgemeinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaffung aller von Staats wegen ernannten Lokal- und Provinzialbehörden.«
Ob es sonst noch möglich ist, in bezug auf die soeben diskutierten Punkte Programmforderungen zu formulieren, kann ich hier nicht so gut beurteilen als ihr dort. Aber wünschenswert wäre es, daß diese Fragen innerhalb der Partei debattiert würden, ehe es zu spät ist.
1. Der Unterschied zwischen »Wahlrecht und Stimmrecht« respektive »Wahlen und Abstimmungen« ist mir nicht ersichtlich. Soll einer gemacht werden, so wäre dies jedenfalls deutlicher auszudrücken oder in einem den Entwurf begleitenden Kommentar zu erklären.
2. »Vorschlags- und Verwerfungsrecht des Volks« für was? Für alle Gesetze oder Beschlüsse der Volksvertretung wäre hinzuzusetzen.
5. Vollständige Trennung von Kirche und Staat. Alle religiösen Gemeinschaften ohne Ausnahme werden vom Staat als Privatgenossenschaften behandelt. Sie verlieren jede Unterstützung aus öffentlichen Mitteln und jeden Einfluß auf die öffentlichen Schulen. (Man kann ihnen doch nicht verbieten, eigne Schulen aus eignen Mitteln zu gründen und dort ihren Blödsinn zu lehren.)
6. »Weltlichkeit der Schule« fällt dann weg, es gehört in den vorigen Paragraphen.
8. und 9. Hier möchte ich zu bedenken geben: Diese Punkte fordern Verstaatlichung 1. der Advokatur, 2. der Ärzte, 3. der Apotheker, Zahnärzte, Hebammen, Krankenpfleger etc. etc., und ferner wird später die totale Verstaatlichung der Arbeiterversicherung gefordert. Ob das alles dem Herrn von Caprivi anvertraut werden darf? Und ob das im Einklang steht mit der vorangegangenen Lossagung von allem Staatssozialismus?
10. Hier würde ich sagen: »Progressive... Steuer für Bestreitung aller Ausgaben in Staat, Bezirk und Gemeinde, soweit Steuern dazu erforderlich. Abschaffung aller indirekten Staats- und Lokalsteuern, Zölle etc.« Der Rest ist überflüssig und abschwächender Kommentar resp. Motivierung.
Buchempfehlung
Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.
226 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro