§ 11. Bacons philosophische Bedeutung

[35] Die wesentliche Stellung und Bedeutung Bacons in der Geschichte der Wissenschaft der neuern Zeit ist im allgemeinen die, daß er die Erfahrung, die früher nur Sache des Zufalls war, ohne Unterstützung von oben herab, von den obersten Behörden der Geschichte und des Denkens, nur von der zufälligen Partikularität und Neigung einzelner abhing, zu einer unerläßlichen Notwendigkeit, zur Sache der Philosophie, zum Prinzip selbst der Wissenschaft machte. Bestimmter ist aber seine Bedeutung die, daß er namentlich die Naturwissenschaft auf die Erfahrung gründete, somit an die Stelle der frühern phantastischen27 oder scholastischen Betrachtungsweise der Natur eine objektive, rein physische Anschauung derselben setzte. Denn wenngleich B. das ganze Gebiet der Wissenschaften mit enzyklopädischem, die Gesamtmasse aller zu seiner Zeit vorhandenen Kenntnisse überschauendem Geiste umfaßte und auf eine eigene geistreiche Weise ordnete und bestimmte, mit trefflichen Anweisungen,[35] Gedanken und Bemerkungen bereicherte, die noch unbebauten Gegenden des Wissens bezeichnete, so besondere Zweige von Wissenschaften entdeckte und zu ihrer Kultur die Geister aufmunterte und anregte, wenn er gleich der Naturwissenschaft innerhalb des Ganzen der Wissenschaften eine besondere Stelle anwies, so stand doch auf dem großen Terrain der Wissenschaften, das er mit dem Überblick eines Befehlshabers aufnahm und beschaute, das Zentrum seiner Gedanken und Bestrebungen einzig und allein in der Richtung auf die Naturwissenschaft, so war doch das wesentliche Ziel, Objekt und Interesse seines Geistes eine mittelst der Erfahrung aus der Quelle der Natur selbst geschöpfte, durch keine fremden, seien sie nun logische, theologische oder mathematische, Ingredienzen getrübte Naturwissenschaft. Die historische Bedeutung B.s also ist, daß er ganz im Unterschiede von der frühern Zeit, wo der Geist, auf übersinnliche und theologische Gegenstände gerichtet, kein reines Interesse an der Natur hatte, das Studium derselben daher vernachlässigt und verfälscht, eine partikuläre Nebenbeschäftigung war, die auf die Erfahrung gegründete Naturwissenschaft zum Studium aller Studien, zum Prinzipe selbst, zur Mutter der Wissenschaften machte.28 So groß aber auch der Umfang seiner Versuche und Andeutungen, seiner Beobachtungen und Kenntnisse auf dem Gebiete der Naturwissenschaft ist, so ist doch dieses nur das Wesen von ihm, daß er eine Methode, ein Organon, eine Logik der Erfahrung gab, eine bestimmte Anweisung zu sicherer und erfolgreicher Erfahrung, daß er das blinde Erfahren und Herumtappen im Felde des Besondern zu einer auf logischen Gesetzen und Regeln beruhenden Experimentierkunst zu erheben und so gleichsam der bisher ungelenkigen, zur[36] Erfahrung ungeschickten und ungeübten Menschheit die Werkzeuge derselben in die Hand zu geben sich bestrebte. Von einem Inhalte Bacons kann man daher in dieser Rücksicht, strenggenommen, nicht sprechen, als seinen Inhalt könnte man alle physikalischen Experimente und Entdeckungen der neuern Zeit, selbst wenn sich auch keine bestimmten Andeutungen darauf in ihm finden sollten, ansehen; sein Wesen liegt nur in der Methode, in der Art und Weise, die Natur zu betrachten und zu behandeln, in der Hinweisung auf die Erfahrung. B. war deswegen jedoch nichts weniger als ein Empiriker im gewöhnlichen Sinn, geschweige ein gegen das Tiefere, gegen die Philosophie negativer Empiriker. Bestimmte er gleich, und zwar mit vollem Rechte, auf dem Gebiete der Natur die Erfahrung, die nach ihm übrigens die innigste Verbindung von Denken und sinnlicher Wahrnehmung29 ist, als die einzige Quelle der Erkenntnis, bewirkte er gleich in der Folge und bezweckte er selbst zunächst nur Empirie und konnte er auch bei der Zerstreutheit seines Lebens und Wesens nicht die Muße haben, die einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen und Versuche zu Erkenntnissen zu erheben, so war ihm doch die Empirie nur Mittel, nicht Zweck, nur der Anfang, nicht das Resultat, welches vielmehr nur die Philosophie oder philosophische Erkenntnis sein sollte; so bestimmte er doch als das Ziel und Objekt der Naturwissenschaft die Erkenntnis »der ewigen und unveränderlichen Formen der Dinge« und beherrschte ihn daher in dem, was er als das Objekt der Naturwissenschaft, und in der Weise, wie er es bestimmte ein echt philosophischer Gedanke, der freilich bei ihm nur ein so hingestellter, nicht zur Ausführung und Verwirklichung gebrachter Gedanke blieb. Das Objekt und Ziel des Wissens und der Erfahrung nämlich ist nach ihm die Erkenntnis der Formen der Dinge. Die Form eines Dinges ist aber nach ihm das Allgemeine, die Gattung, die Idee eines Dinges aber nicht eine leere, vage Idee, ein schlechtes, ein formelles Allgemeines, eine unbestimmte, abgezogene Gattung, sondern ein solches Allgemeines, welches, wie er sagt, der fons emanationis, die natura naturans, das Prinzip der besondern[37] Bestimmungen eines Dinges, die Quelle, aus der seine wahre Differenz, seine Beschaffenheiten entspringen, das Erkenntnisprinzip also des Besondern ist, kurz, ein Allgemeines, eine Idee, die zugleich materiell bestimmt, nicht über und außer der Natur, sondern der Natur immanent ist. So ist z.B. nach B. der Begriff, die Idee, die Gattung der Wärme die Bewegung; die Bestimmung aber oder Differenz, die die Bewegung zur Wärme macht, ist die, daß sie eine expansive Bewegung ist, im Unterschiede von den übrigen Arten der Bewegung.

B. war daher frei von jenem Scholestizismus, jener Spitzfindigkeit der Empirie, die vom Besonderen immer wieder nur ins Besondere sich hineinwühlt, ins Unendliche fort rastlos nur distinguiert, subtilisiert und spezifiziert, in der Irre uns herumführt, aus der Natur ein Labyrinth ohne Ausgang macht, vor lauter Bäumen uns nicht den Wald in ihr sehen läßt. Denn wie nach ihm nur das Allgemeine das wahre Allgemeine ist, welches so in sich bestimmt, differenziert und materialisiert ist, daß es das Erkenntnisprinzip des Besonderen und Einzelnen enthält, so ist ihm auch nur das Besondere das wahre Besondere, welches Licht und Erkenntnis gewährt, welches von der Vielfachheit zur Einfachheit, von der Mannigfaltigkeit zur Einheit hinaufführt, durch und aus sich das Allgemeine erkennen oder entdecken läßt. Die Materie des Besondern soll daher nach ihm nicht ein bloßer, ungeheuer großer Sandhaufen sein, in den wir, wenn wir ihn ersteigen wollen, nur immer tiefer und tiefer hineinsinken, ohne einen höhern und festen Standpunkt zu erreichen, und dessen einzelne Körner immer wieder aus einer besondern Steinart bestehen, so daß vor dem flimmernden Flitter dieser Mannigfaltigkeit uns die Augen überlaufen, uns das Sehen vergeht, sondern ein Berg, auf dem die verschiedenen Steinarten der Natur in großen, festen, zusammenhängenden Schich tenmassen aufgehäuft sind und uns zur festen Basis dienen, einen freien, philosophischen Überblick über das Ganze zu gewinnen.

Es war daher auch fern von B., nach jener beliebten dogmatisch skeptischen Weise, die ein Nichtkönnen, ein Unvermögen zu einer positiven Eigenschaft des Menschen macht, zu behaupten, daß der Mensch nicht die Natur erkenne; vielmehr hat er das ganz bestimmte Bewußtsein, daß es einzig[38] und allein von der Methode, der Art und Weise unsers intellektuellen Verfahrens abhängt, ob wir etwas Reales von ihr wissen können oder nicht.30 Deswegen begnügt sich sein Geist auch nicht mit der Schale der Natur, er begehrt noch mehr von ihr, er verlangt, daß die Naturwissenschaft sich nicht auf die Oberfläche der Phänomene beschränke, sondern die Ursachen und selbst die Ursachen der Ursachen zu erkennen bestrebt sein müsse.31

Der Grund, daß B. meistens nur als Empiriker aufgefaßt, von den bloßen und selbst antiphilosophischen Empirikern zu ihrem Schutzpatron erhoben wurde, daß die tiefen spekulativen Gedanken, die sich in seinen Schriften finden, bei der Beurteilung desselben nicht in Anschlag kamen und ohne allen Einfluß blieben, liegt übrigens allerdings in B. selbst, und zwar darin, daß er die Metaphysik und Philosophie der Griechen so sehr verkannte32 und verachtete und die Empirie, obwohl er sie nur zu dem mittleren, ja untersten Stockwerk in dem Gebäude der Wissenschaften macht, das obere Stockwerk, von dem erst allein eine Aussicht in die Natur gegeben wird, der aus der Erfahrung eruierten Philosophie[39] einräumt, dennoch allein zu seinem Wohn- und Arbeitszimmer machte, bei ihr stehenblieb, hauptsächlich aber darin, daß überhaupt sein Geist weder ein echt philosophisch noch mathematisch spekulativer Geist, daß sein Geist ein sinnlicher, rein physikalischer Geist war.

B. war daher auch hauptsächlich dazu bestimmt und berufen, das Studium der Physik, inwiefern sie Physik, nicht bloß »angewandte Mathematik« ist, zu erwecken; sein Geist war eben wegen seiner inneren Verwandtschaft mit dem Wesen der Sinnlichkeit ein auf die Besonderheit und Differenz, die Qualität der Dinge gerichteter, die Dinge in ihrem spezifischen, qualitativen Sein und Leben zu erfassen bestrebter Geist. Der ihn beherrschende und bestimmende Begriff ist der der Qualität; daher er auch die Erfahrung so hervorhebt, so dringend auf sie hinweist. Denn die Qualität in der Natur ist nur Gegenstand der sinnlichen Empfindung, der Erfahrung, sie wird nur mittelbar erst Gegenstand des Denkens; in ihrem eigentümlichen Wesen ist sie aber immer nur Gegenstand der unmittelbaren sinnlichen Empfindung und Wahrnehmung. Daher B. auch der Mathematik nur eine untergeordnete Stelle in der Physik anweist und sich also über sie äußert: »Quantitas (quae subjectum est Mathematicae) materiae applicata veluti dosis Naturae est, et plurimorum effectuum in rebus naturalibus causativa, ideoque inter Formas essentiales numeranda est. Illud interim verum est, quantitatem inter formas naturales (quales nos eas intelligimus) omnium maxime esse abstractam et a materia separabilem, quod ipsum in causa fuit, cur et diligentius exculta et acrius inquisita ab hominibus fuerit, quam aliae quaecunque formae, quae omnes in materia magis sunt immersae... Nescio quo fato fiat, ut Mathematica et Logica, quae ancillarum loco erga Physicam se gerere debebant,[40] nihilominus certitudinem suam prae ea jactantes dominatum contra exercere praesumant.« (»De Augm. Scient.«, III, c. 6) Darum steht auch B. in dieser Beziehung einzig in seiner Art da. Denn der den Hobbes und Cartesius und andere Naturforscher seiner und späterer Zeiten in ihren Anschauungen von der Natur beherrschende Begriff ist der der Quantität, ihnen ist die Natur nur von Seite ihrer mathematischen Bestimmbarkeit Gegenstand. B. dagegen hebt die Form der Qualität hervor, die Natur ist ihm nur unter dieser Form Gegenstand, sie ist ihm die primitive Form der Natur. Daher er auch sagt, daß selbst die erste Materie mit der Bewegung und Qualität in Verbindung gedacht werden müsse. Deswegen interessieren ihn auch die Gegenstände der Astronomie nur als physikalische Gegenstände, will er das Hauptaugenmerk auf ihre physikalische Beschaffenheit gerichtet wissen. »Neque enim calculos aut praedictiones tantum meditamur, sed Philosophiam, eam scilicet, quae de superiorum corporum non motu solummodo, ejusque periodis, sed substantia quoque et omnimoda qualitate, potestate atque influxu intellectum humanum informare secundum rationes naturales atque indubitatas possit, atque rursus in motu ipso invenire, atque explicare, non quid phaenomenis sit consentaneum, sed quid in Natura penitus repertum atque actu et re ipsa verum sit. Itaque plurimum et Praesidii ad contemplationem coelestium in Physicis rationibus collocamus.«[41] (»Descript. Glob. Intell.«, cap. V) Darum sagt er auch von sich selber, daß er die passiones oder appetitus materiae besonders zu erforschen suche.33 (»Nov. Org.«, II, Aph. 48)

27

Aufs heftigste spricht sich daher B. gegen den Paracelsus aus. Er sagt von ihm z.B., daß er das Licht der Natur, dessen heiligen Namen er so oft mißbrauche, nicht verborgen, sondern ausgelöscht habe, daß er nicht nur ein Deserteur, sondern Verräter der Erfahrung wäre. Die Dreiheit seiner Prinzipien nennt er jedoch – gewiß eine den spekulativen Trinitariern interessante Bemerkung! – ein »commentum haud ita prorsus inutile et rebus aliqua ex parte finitimum.« S. Imp. Philos., »De Interpret. Nat. Sent.«, c. II.

28

B. nennt selbst die Naturwissenschaft die Mutter der übrigen. Ob er gleich der Philosophie von Gott, der Natur und dem Menschen eine allgemeine Wissenschaft, die philosophia prima, voraussetzt, deren erster Teil von den mehreren Wissenschaften gemeinschaftlichen Grundsätzen handeln soll, so bestimmt er doch sogleich, daß in dem andern Teile der philosophia prima, der von den conditionibus adventitiis rerum handelt, z.B. der Gleichheit und Ungleichheit, diese Gegenstände nicht logisch, sondern physikalisch betrachtet werden sollen. »De Augm. Scient.«, III, c. 1, und V, c. 4.

29

Vergl. z.B. »Nov. Org.«, I, Aph. 95.

30

Z.B. »Nov. Org.«, Aph. 37. »Illi enim nihil sciri posse, simpliciter asserunt; Nos non multum sciri posse in natura ea, quae nunc in usu est, via.« und »De Augm. Scient.«, III, c. 4.

31

Z.B. »Recte ponitur: Vere scire esse per causas scire.« »Nov. Org.«, II, Aph. 2. – »Satis scimus nullum de rebus raris aut notabilibus judicium fieri posse, multo minus res novas in lucem protrahi, absque vulgarium rerum causis et causarum causis rite examinatis et repertis etc.« Ebendaselbst, I, Aph. 109. – Gegen die Art und Weise, wie die französischen Empiristen und Enzyklopädisten B. auffaßten, ist dieser Punkt besonders hervorgehoben von Le Sage und De Luc, vergl, dessen »Précis de la Philosophie de Bacon etc.« à Paris 1802, T. I, S. 60 etc.

32

Mit Recht sagt daher Goethe (zur Farbenlehre) »Höchst unerfreulich (ist) die Unempfindlichkeit (B.s) gegen Verdienste der Vorgänger, gegen die Würde des Altertums. Denn wie kann man mit Gelassenheit anhören, wenn er die Werke des Aristoteles und Plato mit leichten Tafeln vergleicht, die eben, weil sie aus keiner tüchtigen gehaltvollen Masse bestünden, auf der Zeitflut gar wohl zu uns herüber geschwemmt werden können.« Übrigens ist B. hauptsächlich nur auf Plato und besonders Aristoteles erpicht; den ältern Philosophen, welche materielle sinnliche Prinzipien der Natur zugrunde legten, läßt er volle Gerechtigkeit widerfahren.

33

Unter diesen Passionen und Begierden der Materie versteht B. hier nichts anderes als die Erscheinungen der Expansion, Kontraktion, Attraktion usw., welche ebensowohl auf den Himmelskörpern als auf der Erde stattfänden, also allgemeine Eigenschaften der Materien wären, auf welche die Ortsdifferenz keinen Einfluß hätte.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 35-42.
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