Zehnte Vorlesung

[143] [Begriff des absoluten Staats. Drei mögliche Grundformen des wirklichen, zur Vollkommenheit fortschreitenden Staats. – Unterschied zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit.]


Ehrwürdige Versammlung!


Zu zeigen, auf welcher Stufe seiner Ausbildung der Staat in unserem Zeitalter stehe, ist unser in der vorigen Rede angekündigtes nächstes Geschäft. Die Verständlichkeit dieser ganzen Darlegung hängt offenbar davon ab, dass wir von einem genau bestimmten Begriffe des absoluten Staates ausgehen.

Ueber nichts ist, ganz besonders in der Zeitepoche, die wir durchlebt, mehr geschrieben, gelesen und gesprochen worden, als über den Staat; man kann daher bei jedem nur gebildeten, wenngleich nicht eigentlich wissenschaftlichen Publicum hier fast sicherer, als bei jedem anderen Gegenstande auf mancherlei Vorkenntnisse und Vorkenntnisse rechnen. Was nun insbesondere das anbelangt, was wir über denselben hier beizubringen gedenken, so müssen wir zuvörderst anzeigen, dass wir, nur aus anderen und tiefer liegenden Gründen, zum Theil mit sehr bekannten Schriftstellern zusammentreffen, von denen wir in anderen bedeutenden Dingen wiederum abgehen: und dass die unter den deutschen Philosophen verbreitetste Ansicht vom Staate, nach der er fast nur ein juridisches Institut seyn soll, uns nicht etwa unbekannt ist, sondern wir mit sehr bewusster Besonnenheit uns ihr entgegensetzen. Sodann ist zu erinnern, dass wir genöthigt sind, mit einigen, ein sehr trockenes Ansehen habenden Sätzen anzuheben, die ich zuvörderst nur in das Gedächtniss zu fassen bitte: diese Sätze sollen noch vor Ende dieser Rede durch die weitere Fortbestimmung und Anwendung hoffentlich ganz klar werden.[143]

Der absolute Staat in seiner Form ist nach uns eine künstliche Anstalt, alle individuellen Kräfte auf das Leben der Gattung zu richten und in demselben zu verschmelzen: also, die oben sattsam beschriebene Form der Idee überhaupt äusserlich an den Individuen zu realisiren und darzustellen. Da hierbei auf das innere Leben und die ursprüngliche Thätigkeit der Idee in den Gemüthern der Menschen nicht gerechnet wird, – von welcher letzten Art alles Leben in der Idee war, das wir in unseren früheren Reden beschrieben; – da vielmehr die Anstalt von aussenher wirkt auf Individuen, die gar keine Lust, sondern vielmehr ein Widerstreben empfinden, ihr individuelles Leben der Gattung aufzuopfern, so versteht es sich, dass diese Anstalt eine Zwangs-Anstalt seyn werde. Für solche Individuen, in denen die Idee ein eigenes inneres Leben bekommen hätte, und die gar nichts anderes wollten und wünschten, als ihr Leben der Gattung zu opfern, bedürfte es des Zwanges nicht, er fiele für diese weg: und der Staat bliebe in Rücksicht dieser bloss nur noch diejenige Einheit, welche das Ganze stets übersähe, den jedesmal ersten und nächsten Zweck der Gattung erklärte und deutete, und die willige Kraft an ihren rechten Platz stellte. Er ist eine künstliche Anstalt, haben wir gesagt: – in strengem Sinne, als Anstalt freier und sich selber klarer Kunst freilich erst dann, nachdem im Zeitalter der Vernunftwissenschaft sein gesammter Zweck und die Mittel für dessen Erreichung wissenschaftlich durchdrungen, und das fünfte Zeitalter der Vernunftkunst schon eingetreten ist: – aber es giebt auch einen zweckmässigen Gang in der höheren Natur, d. i. in den Schicksalen des Menschengeschlechtes, durch welchen dasselbe, ohne sein Wissen noch Wollen, seinem wahren Zwecke entgegengeführt wird, welchen Gang man die Kunst der Natur nennen könnte; und in diesem Sinne allein nenne ich in den ersten Zeitaltern des Menschengeschlechtes den Staat eine künstliche Anstalt. – Was wir angegeben und ausgesprochen: – Richtung aller individuellen Kräfte auf den Zweck der Gattung, – ist der absolute Staat seiner Form nach, haben wir gesagt: d.h. bloss und lediglich darauf, dass nur die individuelle Kraft einem Zwecke der Gattung aufgeopfert werde, welches auch nun insbesondere[144] dieser Zweck der Gattung sey, beruht es, ob überhaupt ein Staat sey: ganz unentschieden aber und an seinen Ort gestellt bleibt durch diese Bestimmung des Staates, wie mancherlei Zwecke der Gattung in den besonderen Staaten gesetzt werden können; deren Erreichung jedoch allemal die individuelle Kraft gewidmet wird: ebenso unentschieden bleibt durch dieselbe Bestimmung, welches der absolute Zweck der Gattung sey; durch welche letztere Angabe die Materie des Staates, der wahre innere Gehalt und Zweck desselben, beschrieben wer den wurde.

Um nun nach diesen vorläufigen Grenzbestimmungen den aufgestellten Begriff naher zu erörtern – zuvörderst: der Staat, der eine nothwendig endliche Summe individueller Kräfte auf den gemeinschaftlichen Zweck zu richten hat, betrachtet sich nothwendig als ein geschlossenes Ganzes, und da sein Gesammtzweck der Zweck der menschlichen Gattung ist, er betrachtet die Summe seiner Bürger als die menschliche Gattung selbst. Es widerspricht diesem nicht, dass er dennoch Zwecke haben kann, gerichtet auf andere, die nicht unter seine Bürger gehören; denn immer sind dieses seine eigenen, lediglich um sein selbst willen unternommenen Zwecke, auf deren Erreichung er die individuellen Kräfte seiner Bürger richtet; – immer daher opfert er diese nur sich selber, und zwar als dem höchsten, als der Gattung, auf. Es ist daher ganz einerlei, ob man sage wie oben: der Staat richte alle individuelle Kräfte auf das Leben der Gattung, oder wie hier: er richte sie auf sein eigenes Leben, als Staat; nur dass, wie wir bald schon werden, dieser letztere Ausdruck erst durch jenen seine wahre Bedeutung erhält.

Nochmals: darin, dass alle individuellen Kräfte gerichtet werden auf das Leben der Gattung – als welche Gattung der Staat zunächst die geschlossene Summe seiner Bürger aufstellt, – darin bestellt das Wesen des absoluten Staates. Es wird dadurch gefordert: erstens, dass alle Individuen, durchaus ohne Ausnahme eines einzigen in denselben Anspruch genommen werden; zweitens, dass jedes mit allen seinen individuellen Kräften, ohne Ausnahme und Rückhalt einer einzigen, in denselben Anspruch genommen werde. Dass in dieser Notfassung, wo alle[145] als Individuen der Gattung aufgeopfert sind, zugleich allen, ohne Ausnahme eines einzigen, in allen ihren, als Bestandtheile der Gattung ihnen zukommenden Rechten, alle übrigen Individuen aufgeopfert sind, folgt aus dem ersten von selbst. Denn worauf sind die Kräfte aller gerichtet? Auf die Gattung: was aber ist dem Staate die Gattung? Alle seine Mitbürger, ohne Ausnahme eines einzigen. Wären einige Individuen für den Gesammtzweck entweder gar nicht, oder nicht mit allen ihren Kräften in Anspruch genommen, indess die übrigen es wären: so genössen die ersteren alle Vortheile der Verbindung, ohne alle ihre Lasten mit zu tragen, – und es wäre Ungleichheit. Nur da, wo alle ohne Ausnahme ganz in Anspruch genommen sind, kann Gleichheit stattfinden. – Somit geht in dieser Verfassung ganz und durchaus die Individualität aller auf in der Gattung aller; und ein jeder erhält seinen Beitrag zur allgemeinen Kraft, durch die allgemeine Kraft aller übrigen verstärkt, zurück. Der Zweck des isolirten Individuums ist eigener Genuss; und er gebraucht seine Kräfte als Mittel desselben: der Zweck der Gattung ist Cultur und derselben Bedingung würdige Subsistenz: im Staate gebraucht jeder seine Kräfte unmittelbar gar nicht für den eigenen Genuss, sondern für den Zweck der Gattung; und er erhält dafür zurück den gesammten Culturstand derselben, ganz, und dazu seine eigene würdige Subsistenz. – Man hüte sich nur, den Staat nicht zu denken, als ob er in diesen oder jenen Individuen, oder als ob er überhaupt auf Individuen beruhe und aus ihnen zusammengesetzt sey: – fast die einzige Weise, wie die gewöhnlichen Philosophen ein Ganzes zu denken vermögen. – Er ist ein an sich unsichtbarer Begriff; gerade so, wie in den ersten Reden die Gattung beschrieben worden: er ist – nicht die Einzelnen, sondern ihr fortdauerndes Verhältniss zueinander, dessen immer fortlebender und wandelnder Hervorbringer die Arbeit der Einzelnen ist, wie sie im Raume existiren. So sind, um auch an einem Beispiele meinen Gedanken klarzumachen, keinesweges die Regierenden der Staat, sondern sie sind Mitbürger desselben, sowie alle übrigen; und es giebt im Staate überhaupt keine Individuen, ausser Bürger. Die Regierenden sind so gut als alle übrigen mit allen ihren individuellen[146] Kräften in Anspruch genommen, um die Kräfte der Regierten, die nun ebensowenig der Staat sind, auf den Gesammtzweck, so gut sie denselben verstehen, immerfort zu richten, und die Widerstrebenden zu zwingen. Erst das Resultat, was aus ihrer Leitung, und aus der geleiteten Kraft der Regierten für alle insgesamt hervorgeht, nennen wir Staat, im strengen Sinne des Worts.

Nur Eine Einwendung ist hier vorauszusehen, welcher ich sogleich begegne. Man dürfte nemlich sagen: warum sollen denn gerade alle Begriffe der Individuen für den Staatszweck in Anspruch genommen werden? Wenn dieser Zweck etwa mit geringerem Aufwande erreicht werden könnte: – würde es sodann für die gleichfalls geforderte Gleichheit nicht hinreichen, dass dieser hinlängliche Kraftaufwand nur auf alle Individuen gleich vertheilt, die übrigbleibende Kraft aber dem eigenen freien Gebrauche eines jeden anheimgestellt werde? Wir antworten darauf: zuvörderst, der vorausgesetzte Fall, dass nicht die gesammte Kraft der Individuen für den Staatszweck erforderlich sey, könne nie eintreten und sey unmöglich. Zwar nicht alle, den Individuen vielleicht selbst nicht bekannte, auch nicht alle, ihnen zwar, aber dem Staate nicht bekannte oder nicht zugängliche, – sicherlich aber alle ihm bekannte und ihm zugängliche, Kraft der Individuen ist dem Staate für die Beförderung seines Zwecks nöthig: denn sein Zweck ist die Cultur; und um sich auf dem Standpuncte derselben, den ein Staat schon erschwungen, zu erhalten und sogar weiter zu kommen, bedarf es allemal der Anstrengung aller Kraft. Denn nur durch die gesammte Kraft ist man auf diesen Punct gekommen. Nimmt er sie nicht ganz in Anspruch, so kommt er zurück, statt vorwärts zu kommen, und verliert seinen Rang in dem Reiche der Cultur: und was hieraus noch weiter folge, werden wir zu einer anderen Zeit sehen. Zweitens frage ich: was sollen denn die Bürger mit der ihnen zu freien Gebrauche übriggebliebenen Kraft anfangen? Sollen sie müssig bleiben und diese Kraft ruhen lassen? Dies ist gegen die Form aller Cultur, und schon selbst Barbarei; – der gebildete Mensch kann nicht unthätig seyn, noch ruhen, – über die von seiner sinnlichen Natur geforderte[147] nothwendige Ruhezeit, die ihm der Staat auf alle Fälle gelassen haben wird. Oder sollen sie dieselbe für Beförderung ihrer individuellen Zwecke anwenden? Aber es soll im vollkommenen Staate durchaus kein gerechter individuelle, Zweck stattfinden, der nicht in die Berechnung des Ganzen eingegangen, und für dessen Erreichung durch das Ganze nicht gesorgt sey. Wollte man endlich sagen: diese Kraft solle verwendet werden, dass der Einzelne sich selbst in stiller Ruhe bilde: so antworte ich: es giebt keine Art der Bildung, die nicht von der Gesellschaft, d. i. vom Staate im strengsten Sinne, ausgehe, und die nicht wieder in dieselbe zurückzulaufen streben müsse; diese Bildung ist daher selbst Staatszweck. und der vollkommene Staat wird dessen Beförderung, jedem nach seinem Maasse, schon ohnedies in Anschlag gebracht haben. Dass dies in der Anwendung nicht misgedeutet werde, dafür werden wir in der Zukunft sorgen; hier reden wir vom vollkommenen Staate, und von ihm gilt das Gesagte uneingeschränkt.

Zu diesem absoluten Staate der Form nach, als einem durch die Vernunft geforderten menschlichen Verhältnisse, sich allmählig mit Freiheit zu erheben, ist die Bestimmung des menschlichen Geschlechts. Diese allmählige Erhebung kann weder in Stande der Unschuld, unter dem Normalvolke, – noch kann sie in dem der ursprünglichen Rohheit, unter den, Wilden, stattfinden.

Nicht unter dem ersten: da, finden die Menschen sich ganz von selber in dem vollkommensten gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne dass sie eines Zwanges oder einer Aufsicht bedürfen; jeder thut von selbe, das Rechte, dem Ganzen Zuträgliche, ohne dass er selbst, oder dass für ihn einmal er dabei denke; und ohne dass durch eigene Kunst oder irgend einen Naturfortgang dieses Verhältniss erst hervorgebracht werde. Es ist hier überhaupt nicht genetisch. Ebensowenig unter dem zweiten: da sorgt jeder nur für, sich, und zwar nur für seine ersten, seine thierischen Bedürfnisse und zu dem, Begriffe eines höheren erhebt sich keiner. Mithin konnte die Enwickelung des Staates nur in der Mischung beider Grundstämme unseres[148] Geschlechts, als dem eigentlichen Menschengeschlechte für die Geschichte, anheben und fortgesetzt werden.

Die allererste Bedingung eines Staates, und das erste wesentliche Merkmal unseres oben aufgestellten Begriffs von ihm ist dies: dass nur erst Freie dem Willen und der Aufsicht anderer unterworfen werden. Freie, sage ich, im Gegensatze der Sklaven; und verstehe darunter solche, deren eigener Klugheit und Ermessen die Sorge, sich und ihrer Familie die Mittel der Subsistenz zu verschaffen, überlassen bleibt; welche demnach in ihrem Hause souveräne Familienväter sind, und es auch nach ihrer Unterwerfung unter einen fremden Willen, der auf andere Zwecke geht, fortdauernd bleiben. Sklav dagegen ist derjenige, der nicht einmal die Sorge für seinen eigenen Unterhalt hat, sondern der ernährt wird, dagegen alle seine Kräfte der Familie seines Herrn nach dessen eigener Willkür unterworfen sind: der daher keinesweges Familienvater, sondern Mitglied einer fremden Familie, und bis auf Leib und Leben verbunden ist, – indem der Herr gar keinen anderen Grund hat, ihn zu erhalten, als inwiefern seine Erhaltung ihm selber mehr nützt, als sein Untergang. Freie, sagte ich, als solche, und in der Voraussetzung, dass sie frei bleiben sollten, mussten einem fremden Willen unterworfen werden; und zwar sagte ich das deswegen: Zum Begriffe eines Staates gehört es durchaus, dass die Unterworfenen selbst Zweck wenigstens werden können, – und das können sie nur, wenn sie bei der Unterwerfung in einer gewissen Sphäre frei bleiben, welche Sphäre hinterher, sowie der Staat zu höherer Ausbildung schreitet, Zweck des Staats werde; der Sklav aber, als solcher, und falls er etwa nicht freigelassen wird, kann nie Zweck werden, sondern er ist höchstens, ebenso wie jedes Thier es auch ist, als Mittel für seinen Herrn, diesem letzteren Zweck; keinesweges aber an und für sich. Bei dieser Unterwerfung von Freien unter die Vorsicht und den Willen anderer Freien sind nun folgende zwei, oder, wenn man anders zählt, drei Fälle möglich; und – da diese Unterwerfung der Ursprung des Staats ist, – es sind ebenso viele Grundformen des Staats möglich, durch welche derselbe zu seiner Vollendung hindurchgeht; und ich ersuche, diese[149] Grundformen, als das Gerüst, auf welches wir alle unsere folgenden Erörterungen dieses Gegenstandes aufzuführen gedenken, wohl zu bemerken und in das Gedächtniss zu fassen.

Nemlich, – nach der geschehenen Unterwerfung die Summe von Individuen, welche dadurch in Verbindung gekommen, als ein geschlossenes Ganzes betrachtet: – entweder sind alle ohne Ausnahme allen, d. i. dem Gesammtzwecke, unterworfen, wie es im vollkommenen Staate seyn soll; oder es sind nicht alle allen unterworfen. Findet der letztere Fall, dass nicht alle allen unterworfen sind, statt, so lässt sich dies, – da die Unterworfenen wenigstens alle unterworfen sind, nur so denken, dass die Unterwerfer nicht wiederum gegenseitig jenen, und ihren nothwendigen Zwecken, sich unterworfen haben. Die Unterwerfer haben sonach die Unterworfenen nur ihrem eigenen, von ihnen allein beabsichtigten Zwecke unterworfen; welcher, – da er doch nicht, wenigstens nicht durchaus, der des eigenen sinnlichen Genusses seyn kann, indem sie in diesem Falle sie gleich zu Sklaven machen, und alle Freiheit derselben hätten vernichten müssen, – der Zweck des Herrschens, um des Herrschens willen, seyn muss. Dies wäre unser erster Fall; sowie es in der Zeit die ursprünglichste Form des Staates ist – die absolute Ungleichheit der Staatsglieder, welche in die Klasse der Herrscher und Beherrschten zerfallen, die beim Fortbestande der Verfassung nie die Rollen umtauschen können. – Es erhellet hier im Vorbeigehen: dass und warum ein solcher Staat die Unterjochten seinem Zwecke nicht durchaus mit allen ihren Kräften unterwerfen könne; so wie es der Staat mit einem besseren Zwecke allerdings kann; der erstere müsste sie nemlich sodann ganz zu Sklaven machen, wodurch er völlig aufhörte den Namen auch nur eines beginnenden Staates zu verdienen. – Unser zweiter Fall war der: dass alle ohne Ausnahme allen unterworfen seyen. Dies ist wiederum auf zwei Weisen möglich; zuvörderst also: dass alle allen nur negativ unterworfen seyen; d.h. dass jedem ohne Ausnahme ein Zweck zugesichert sey, in dessen Erreichung keiner, ohne irgend eine Ausnahme, ihn stören dürfe. Ein solcher durch die Verfassung gegen jedweden gesicherter Zweck heisst ein Recht; jeder daher[150] in einer solchen Verfassung hat ein Recht, dem alle ohne Ausnahme unterworfen sind. – Gleichheit des Rechts aller, als Rechts: keinesweges noch der Rechte; denn die den verschiedenen Individuen zugesicherten Zwecke können an Ausdehnung sehr verschieden seyn, und meistentheils wird der, als das Reich der Gesetze begann, vorhandene Besitzstand hierüber zum Maassstabe angenommen werden. Es erhellet, dass der auf dieser Stufe befindliche Staat, indem er einigen seiner Bürger Rechte ertheilt, welche über die Rechte anderer, die dabei doch auch bestehen können, hinausgehe, weit entfernt ist, alle Kräfte dieser Begünstigten seinem Zwecke zu unterordnen; ja, – da er durch diese Rechte der Begünstigten auch die übrigen in dem freien Gebrauche ihrer Kräfte stört, – dass er sogar diese Kräfte für Zwecke von Individuen vergeudet; dass er daher, bei aller Gleichheit des Rechts, noch weit entfernt ist sogar von der absoluten Form des Staats. Der beschriebene Zustand wäre die zweite Grundform des Staats, und die zweite Stufe, auf welcher unser Geschlecht im Fortschreiten zur vollkommenen Staatsform sich befinden könnte. – Endlich, – alle sind allen unterworfen kann auch heissen: sie sind nicht bloss negativ, sondern auch positiv unterworfen, so dass durchaus kein einziger irgend einen Zweck sich setzen und befördern könne, der bloss sein eigener, und nicht zugleich der Zweck aller ohne Ausnahme sey. Es ist klar, dass in einer solchen Verfassung alle Kräfte aller für den Gesammtzweck in Beschlag genommen sind; denn der Gesammtzweck ist kein anderer, als der Zweck aller ohne Ausnahme, dieselben als Gattung genommen; dass daher in dieser Verfassung die absolute Form des Staats ausgedruckt ist, und Gleichheit der Rechte und des Vermögens aller eintritt. Diese Gleichheit schliesst keinesweges aus den Unterschied der Stände, d.h. der bestimmten Zweige menschlicher Kraftanwendung, die einigen ausschliessend überlassen sind, indess dieselben die übrigen Zweige derselben Anwendung andern ausschliessend überlassen. Nur soll durchaus kein Stand und keine ausschliessende Kraftanwendung geduldet werden, die nicht auf das Ganze berechnet und für das Ganze schlechthin nothwendig sey, und deren Ertrag nicht auch wirklich allen übrigen[151] Ständen und allen Individuen derselben, nach aller ihrer Fähigkeit, desselben zu geniessen, zu Theil werde. Dies wäre die dritte Stufe des Staats, auf welcher er, wenigstens seiner Form nach, vollendet wäre. –

Es dürfte sich finden, es dürfte vielleicht für den aufmerksameren und vorbereiteteren Zuhörer sich von selber verstehen, dass der Staat erst durch diese Vollendung seiner eigenthümlichen Form sich in den Besitz seiner wahren Materie, d. i. des ächten Zwecks der menschlichen Gattung, welche in ihm sich vereinigt hat, setze: und nun noch manche Stufe seines Fortschreitens zu durchlaufen haben möge, ehe er am Ziele stehe: – wir inzwischen reden dermalen nur von der Form des Staats.

Um anzugeben und zu zeigen, auf welcher Stufe in unserem Zeitalter der Staat, es versteht sich immer, da, wo er am weitesten vorgerückt ist, sich befinde, unternahmen wir alle diese Erörterungen. Ich erkläre indessen nur vorläufig, dass er, meines Erachtens, dermalen noch an der Vollendung seiner Form arbeite, – auf der in unserer Beschreibung als der zweiten aufgeführten Stufe sich festgesetzt habe, und strebe, die dritte zu erringen; auch dieselbe schon theilweise errungen habe, theilweise aber noch nicht. Dass in unserem Zeitalter mehr als je zuvor jeder Bürger mit allen seinen Kräften dem Staate untergeordnet, von ihm innerlich durchdrungen und sein Werkzeug sey, und dass der Staat strebe, diese Unterwerfung allgemein und vollkommen zu machen: würde daher, nach uns, den charakteristischen Grundzug des Zeitalters in bürgerlicher Rücksicht ausmachen. Was wir damit eigentlich meinen, und dass es sich wirklich also verhalte, wird sich am leichtesten ergeben, wenn wir Zeiten schildern, wo es nicht also war, und historisch darlegen, wie und durch welchen Naturgang es allmählig also geworden, wie es jetzt ist. Wir behalten diese historische Ableitung nebst noch einigen anderen Erörterungen, die wir derselben vorauszusenden haben, den folgenden Reden vor.

Nur Einen, nicht unbedeutenden Punct dieser Materie lassen Sie uns noch heute erörtern: den von der politischen Freiheit. – Selbst in der ersten Form des Staats blieb der Unterworfene[152] persönlich frei, er wurde nicht zum Sklaven; und wären alle zu Sklaven gemacht worden, so wäre das Wesen des ganzen Instituts verloren gegangen. Dennoch war in dieser Lage selbst die persönliche Freiheit des Einzelnen nicht garantirt: er konnte von einem der Unterwerfer sogar in die Sklaverei gebracht werden; er hatte daher gar keine bürgerliche Freiheit, d.h., wie wir oben uns erklärten, kein durch die Verfassung ihm zugesichertes Recht; und er war in der That nicht Bürger, sondern nur Unterthan; es versteht sich, da er doch nicht Sklave war, nur in einem gewissen Grade, und jenseits des Grades dieser seiner Unterthänigkeit war er frei; – nicht durch das Gesetz, sondern durch die Natur und das Ohngefähr. In der zweiten Form des Staates erhielt jeder ohne Ausnahme einen Theil von Freiheit, d.h. nicht gerade von Willkür, sondern von Selbstständigkeit, durch die er alle andere einen gewissen Zweck oder ein Recht zu respectiren nöthigte, durch die Staatsverfassung zurück; jeder hatte daher seinen Grad von nicht bloss persönlicher, sondern gesicherter, und darum bürgerlicher Freiheit; jenseits derselben aber war er Unterthan, und, falls die Rechte anderer, die ihn beschränkten, ausgedehnter waren als die seinigen, mehr Unterthan, denn Bürger. In der absoluten Form des Staats, wo alle Kräfte aller für die nothwendigen Zwecke aller in Thätigkeit gesetzt sind, verbindet jeder alle anderen eben so weit, als er durch sie verbunden wird; alle haben gleiche bürgerliche Rechte oder bürgerliche Freiheit, und jeder ist zugleich ganz Bürger und ganz Unterthan, – und alle sind es eben darum auf die gleiche Weise Will man den, der in der That und Wahrheit und realiter dem Staate seinen Zweck aufgiebt, den Souverän nennen, – so gehört, in dieser zuletzt genannten Verfassung, jeder Bürger auf dieselbe Weise und in demselben Grade zum Souverän; und will man nun in dieser Rücksicht auch den Einzelnen souverän nennen, so lässt sich der eben gesagte Satz auch so ausdrücken: jeder ist, in Absicht seines nothwendigen Zwecks, als Glied der Gattung ganz souverän, und in Absicht seines individuellen Kraftgebrauchs ganz unterthan; und alle sind eben darum beides auf die gleiche Weise.[153]

So verhält es sich in Beziehung auf den Staat in strengerem Sinne, wie wir ihn oben beschrieben haben, als eine Idee. Eine ganz andere, mit der ersten Frage und Untersuchung durchaus nichts gemein habende Frage ist diese: Wer denn nun den, allerdings realiter durch das Ganze aufgegebenen, aber verborgenen Staatszweck einsehen und ermessen, und nach diesem seinem Ermessen die Kräfte der Bürger leiten, und die allenfalls Widerstrebenden zwingen solle: oder mit Einem Worte, wer denn regieren solle? – Da über die erwähnte Einsicht und das Ermessen des an sich freilich durch das Ganze gesetzten Staatszwecks im Staate selbst kein höheres Ermessen stattfinden kann, indem dem ersteren Ermessen ja alle übrigen Staatskräfte und Einsichten unterworfen und danach geleitet werden: – so ist dieses Ermessen äusserlich unabhängig oder frei, und zwar politische Freiheit; wenn das griechische Wort, das diesem Ausdrucke zum Grunde liegt, für ein thätiges und wirksames Staatmachen genommen wird. – Das erst vorgetragene wäre die Untersuchung der Staatsverfassung, welche, wie sie seyn soll, schlechthin durch die Vernunft bestimmt ist; die jetzt in Anregung gebrachte Frage ist die Frage über die Regierungsverfasssung.

Offenbar sind in Absicht der letzteren nur zwei Fälle möglich. Entweder alle Individuen ohne Ausnahme nehmen an jenem Ermessen und, vermittelst dessen, an der Leitung aller Staatskräfte, dem Rechte nach, in völlig gleichem Maasse Theil; so sind Alle Theilhaber der politischen Freiheit, und sind es in gleichem Grade: oder dieses Ermessen, und die Leitung zufolge desselben, wird einer Anzahl von Individuen ausschliessend überlassen; welches letztere nun unseren obigen Erörterungen zufolge nichts weiter heisst, als soviel: ein besonderer Stand wird künstlich errichtet, oder findet sich natürlich und historisch vor, dem das Ermessen des Staatszwecks und das Regieren nach diesem Ermessen, als ausschliessender Zweig seiner Kraftanwendung, überlassen wird, indess die übrigen Stände die ihrige auf etwas anderes richten, und insgesammt, dem Regierenden gegenüber, die Regierten sind. Hier ist die politische Freiheit nur bei den Regierenden; die Regierten sind insgesammt[154] ohne politische Freiheit, und in Beziehung auf die Regierung nur Unterthanen.

Zuvörderst: durch eine Regierungsverfassung wie die letztere wird die Staatsverfassung, wie sie zufolge der Vernunft seyn soll, durchaus in keinem Stücke geändert oder geschmälert. Der regierende Stand bleibt dem allgemeinen Staatszwecke, der durch die Bedürfnisse aller bestimmt wird, unterworfen, und hat unmittelbar auf dessen Erreichung alle seine Kraft ohne Ausnahme oder Rückhalt zu verwenden, so gut wie die übrigen auf denselben Zweck mittelbar ihre Arbeit zu richten haben; er ist daher, in Rücksicht auf diesen Zweck, ebenso ganz und ungetheilt unterthan, als alle übrigen es sind; derselbe Stand gehört, als Bestandtheil der Gattung, selber zum Staatszwecke: und die Erreichung seiner Bedürfnisse als solchen Bestandtheils, keinesweges als regierenden Standes, muss gleichfalls gesichert seyn; er ist daher ebenso ganz, aber in keinem höheren Grade, als alle übrigen, Bürger.

Sodann: nur die Form der Staatsverfassung ist durch die Vernunft bestimmt, und ihre Realisirung schlechthin gefordert, keinesweges aber die der Regierungsverfassung. Wird nur der Staatszweck so klar, als es in jedem Zeitalter möglich ist, eingesehen, und auf die Realisirung dieser besten Einsicht alle vorhandene Kraft aufgewendet: so ist die Regierung recht und gut, ob sie nun in den Händen aller, oder in den Händen einzelner mehrerer, oder endlich in der eines Einzigen ruhe; – das letzte in dem Sinne, dass dieser Einzige nach eigenem Ermessen sich seine Gehülfen wähle, die ihm unterwürfig und verantwortlich bleiben. Es soll schlechthin bürgerliche Freiheit, und zwar Gleichheit derselben seyn; der politischen Freiheit aber bedarf es höchstens nur für Einen. Alle Untersuchungen, welche von jeher, und besonders in den letzten Zeiten, über die beste Regierungsverfassung angestellt worden sind, haben zuletzt die Absicht, ein Mittel zu finden, um die alle zwingende Regierungsgewalt wiederum zu zwingen: – zuvörderst, da richtige Einsicht sich nicht erzwingen lässt, wenigstens dazu, dass die bestmöglichste Einsicht wirklich an die Regierung komme; sodann, dass diese bestmöglichste Einsicht wirklich mit aller[155] Kraft realisirt werde. So nützlich auch an sich diese Untersuchungen seyn mögen, und so möglich auch die theoretische Auflösung des Problems, welches denn auch irgendwo wirklich gelöst seyn möchte: – so dürften dennoch unserem Geschlechte wohl noch Jahrtausende untergehen, ehe diese Lösung in eine philosophische Charakteristik der gegenwärtigen Zeit gehören wird. Zu unserem Glücke und unserer Beruhigung giebt es in der dermaligen Lage aller cultivirten Staaten, und in dem ganzen gegenwärtigen Cuturzustande, Nöthigungsgründe in Menge für jede Regierung, nach der möglichst klaren Einsicht in den wahren Staatszweck zu streben, und immer mit allen ihren Kräften nach ihrer besten Einsicht zu verfahren.

Wir werden im Verfolge unserer Untersuchung Gelegenheit haben, diese Nöthigungsgründe nachzuweisen. Könnte diese Nachweisung und die ganze Reihe der Untersuchungen, die wir heute begonnen haben, etwas beitragen, um uns insbesondere diejenige Verfassung, unter der wir leben, verständlicher, und eben dadurch theurer und werther zu machen: so würde ein Zweck, der auch unter die Zwecke dieser Vorlesungen gehört, dadurch zugleich mit erreicht werden.

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 143-156.
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