|
[671] 256
Nicht also ist man rechtschaffen,
Daß hastig man ein Urteil fällt;
Wer beide Teile sichtend klärt,
So Recht wie Unrecht, einsichtvoll,
257
Und dann nach wohlerwognem Recht
Ein unparteiisch Urteil spricht:
Der Rechtbewahrer, Rechtkenner,
Der wird »Rechtschaffener« genannt.
258
Nicht jener ist ein Weisheitfreund,
Der große schöne Reden hält:
Der Ruhige, ohne Zorn und Furcht,
Der wird ein »Weisheitfreund« genannt.
259
Nicht weil man große Reden hält,
Ist man ein Wahrheitkundiger;
Wenn einer wenig nur gelernt
Und durch die Tat der Wahrheit lebt:
Der ist ein Wahrheitkundiger,
Der Wahrheit bis zum Tode treu.
260
Ein Ehrwürdiger ist nicht der,
Des Haupt mit weißem Haar bedeckt;
Herangereift ist seine Zeit,
»Umsonst gealtert« heißt man ihn;
[672] 261
In jenem, wo die Wahrheit wohnt,
Recht, Güte, Selbstverzicht, Geduld:
Der Fleckenreine, Standhafte,
Der wird »Ehrwürdiger« genannt.
262
Nicht durch der Rede Glanz und Macht,
Nicht durch des Leibes Wohlgestalt
Wird liebenswürdig schön ein Mann,
Der neidisch, selbstisch, listig ist;
263
Wer aber alle Gier vertilgt,
Mit Stumpf und Stiel vernichtet hat:
Der Einsichtvolle, rein von Haß,
Wird »liebenswürdig schön« genannt.
264
Tonsur macht nicht den Büßer aus;
Ein Zuchtloser, Verlogener,
Voll Wunschbegier und Willensdrang,
Wie könnte der ein Büßer sein!
265
Wer aber jede Sünde tilgt,
So groß wie klein, restlos, total:
Weil er das Böse abgebüßt,
Deshalb wird »Büßer« er genannt.
266
Nicht also ist man Bettelmönch,
Weil man erbittet mildes Mahl:
Wer völlig treu der Lehre lebt,
Ist Bettelmönch, kein anderer.
267
Wer heilig überwunden hat,
Was hier als gut und bös erscheint,
Und wissensklar sein Leben lebt:
Der, wahrlich, heißet »Bettelmönch«.
[673] 268
Nicht Einsilbigkeit Töriger,
Beschränkter macht zum Einsiedler;
Wer aber prüfend abwägend
Einzig bewahrt das beßre Teil
269
Und alles Böse schüttelt ab:
Nur der wird also Einsiedler;
Wer beide Welten einsichtig
Durchschaut, der heißet »Einsiedler«.
270
Nicht also wird zum Herren man,
Weil herrisch man die Wesen quält:
Wer alle Wesen herzlich liebt,
Ist weit und breit als »Herr« bekannt.
Nicht durch des Ordens strenge Zucht,
Auch nicht durch vieles Studium,
Erst durch der Selbstvertiefung Glück
Und durch die hehre Einsamkeit
Empfind' ich der Entsagung Heil,
Vor dem die Welt mit Grausen flieht,
Als Mönch; beruhigt bin ich nun,
Zerstört ist aller Willenswahn.
Buchempfehlung
Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.
358 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro