[822] Im Pariser Louvre ist ein Bild von RAFFAEL, ein kleines, wenig beachtetes, Apollo und Marsyas darstellend. Marsyas sitzt da und bläst fleißig seine gemeinen Melodien, der Gott aber steht daneben und sieht auf ihn herab, voll unsäglich mitleidiger Verachtung, und von seiner hehren Stirne leuchtet weithin unsichtbar sichtbar das Heil. So gibt es Marsyas-Wahrheiten und Apollo-Wahrheiten, alltägliche und hohe. Manche gemeine Wahrheit mag zu Zeiten recht lustig und kurzweilig dünken: vor dem Strahl der hohen, der höchsten Wahrheit verblaßt sie zu ödem Leiden, zu nichts. Die Melodien des Marsyas sind wahr und die Melodien Apollos sind wahr, beide haben ihre eigene Gültigkeit. Jene singen die Unseligkeit der Welt, diese künden die Gewißheit des Heils. Wem Marsyas gefällt, dem erscheint die hohe Wahrheit traurig, wie dem Jüngling zu Saïs. Wer sich zum lichten Gotte hinwendet, dem erscheint diese Marsyas-Welt traurig; durch Leiden wissend schmeckt er die Heiterkeit der hohen Wahrheit. »Zweierlei Freuden gibt es, ihr Mönche«, sagt der Buddho, »welche zwei? Die weltliche Freude und die weltfremde Freude. Das, ihr Mönche, sind zweierlei Freuden. Die erhabenere dieser zwei Freuden, ihr Mönche, ist die weltfremde Freude.«
Nur in diesem Sinne gibt es eine exoterische und esoterische Lehre des Buddhismus, in keinem anderen. Die exoterische ist die Marsyas-Wahrheit, die vor der hohen als falscher, leerer Schein vergeht, die weltliche Freude. Weit entfernt diese zu leugnen spricht der Buddho oft von ihr, und nachdem er sie klar definiert hat, zeigt er ihre [822] Wesenlosigkeit. Er betrachtet diese Wandelwelt genau, prüft sie und wendet sich von ihr ab. »So habt ihr denn, Mönche, lange hindurch Leid erfahren, Pein erfahren, Verderben erfahren, das Leichenfeld vergrößert: so daß es nun, ihr Mönche, wohl genug wäre aller Unterscheidungen satt zu sein, genug wäre sich abzuwenden, genug wäre sich abzulösen.« Ist Lebensdurst, taṇhā, da, dann ist auch die Wahnwelt da, ewig wechselnd. Es gibt keine Entwicklung im evolutionistischen Sinne, sondern nur einen sich stets wiederholenden Kreislauf mannigfaltigster Formen des Lebenswillens. Um dies recht zu verstehn muß man freilich den Begriff des Nunc stans erfassen, in seiner ganzen fürchterlichen Größe, man muß einsehn lernen, daß Zeit und Raum nur unsere Anschauungsformen, nicht objektiv, nur subjektiv vorhanden sind, daß also eine Entwickelung sensu proprio nicht nur nicht möglich, sondern schlechterdings undenkbar ist: denn was sich entwickeln soll müßte ja schon urlängst entwickelt sein, da die endlose Ewigkeit, wo es geschehn konnte, hinter uns liegt. Ebenso wenig nun wie es bisher geschehn ist, kann es je in Zukunft, diesem anderen Truggegensatz zur ewigen Vergangenheit, geschehn. Wir sehn nur die Gegenwart, in unaufhörlichem Flusse und scheinbarer Entwickelung dahinrasen, und dieser Schein, der Reflex des Nunc stans, verleitet uns eine Weiterentwickelung zu wähnen, ähnlich wie der blinde Faust wähnt, das Meer werde eingedämmt, für neues Leben und weiteres Schaffen und höhere Ziele – während sein eigenes Grab gegraben wird. Man hat nichts besseres Zukünftiges, sich immer mehr Vervollkommnenderes zu erwarten, o nein, sondern diese entsetzliche Welt des Sterbens und Jammers als ewiges Korrelat eines anfangs- und endlosen, sich stets das Gleichgewicht haltenden Weltprozesses zu erkennen. Geradeso wie das ϑαυμαζειν der Beginn philosophischer Betrachtung ist, so ist die klare Erkenntnis, daß nichts wird, sondern alles ist, nämlich in ewigem Wandel ist, der Kern der Philosophie. Aus solcher Erkenntnis entwickelt sich alles Höhere, zuletzt sogar die Heiligkeit. Wenn ich hier sage »zuletzt«, »entwickelt«, so ist das allerdings nur bildlich gesprochen. Keine Erkenntnis entwickelt sich als selbständig Bestehendes, ebenso wenig als die Sonne aufgeht und am Himmel emporsteigt: licht wird's und die Nacht verschwindet. Die Entwickelung gleicht dem Aufgang der Himmelskörper. Jedes Wesen existiert schon vor seiner Sichtbarwerdung, als platonische Idee; sie allein, der Spiegel des Willens, liegt der Scheinentwickelung zu Grunde. Scheinbar entsteht die Rose3, entwickelt sich die Tierwelt bis hinauf zum Menschen, verwelkt und vergeht, um sich wieder zu entwickeln, u.s.w. in infinitum. Dies Beharren, das Nunc stans des Wandelseins aus innerstem Herzensgrunde verneinen, nicht wollen, aufheben ist Heiligkeit, höchste Weisheit.
Dolor decrescit ubi quo crescat non habet.
(Publilius Syrus.)
Ob nun das Leben auf unserem Planeten erlischt, um auf der Venus oder im fernsten Himmelsraume irgendwo wieder neu aufzuflackern und sich zu entwickeln, um wieder zu ersterben und anderswo ins Dasein zu treten; oder aber, was wahrscheinlicher ist, ob zahllose mit unserer Welt identische Objektivationen gleichzeitig existieren: dem Willenswahn ist dieser »Fingerhut voll Leben«, wie sich der hohe SCHILLER einmal ausdrückt, immer gewiß, in den verschiedensten Formen, dieses Leben, wohlverstanden, welches wir schaudernd vor Augen haben, kein Märchentraum, sondern [823] die reif gewordene Marsyas-Wahrheit. Το μη δυνον πως ἀν τις λαϑοι hat der dunkle, tiefe HERAKLIT gefragt: wie dem Leben zu entrinnen sei hat sein größerer Zeitgenosse GOTAMO BUDDHO beantwortet.
Offen und klar, ohne Rückhalt. »Die von dem Vollendeten verkündete Lehre und Ordnung, ihr Mönche, leuchtet vor aller Welt, nicht im Geheimen.« – Und was hat man aus dieser Lehre für unkenntliches Zerrbild gemacht, in Asien und bei uns. Der sogenannte nördliche Buddhismus in Tibet etc. entbehrt wenigstens nicht einer gewissen philosophischen Tiefe. Doch die scheußliche Fratze des »esoterischen« Buddhismus, wie unerhört frech tritt diese Phorkyas-Gestalt neuerdings bei uns auf, mit ihren Geister- und Gespenstergeschichten, mit ihrem spiritistischen Hokuspokus, hypnotischen Wunderkuren, telenergischem Zauberkram und anderem krausen Zeuge mehr, ein Stück Mittelalter in der Neuzeit, mit wissenschaftlichen Abfällen gedüngt. Spiritistische und andere okkulte Tatsachen kennt der Buddhismus sehr wohl. Aber nichts liegt ihm ferner als solchen Dingen eine irgendwie hervorragende Rolle zuzuschreiben, er betrachtet und erklärt sie als dem Menschen sehr untergeordnet, als Manifestierungen sogenannter Petos, Yakkhos, Bhūtos, Verstorbener, Gespenster, ruheloser Geister, sämtlich Wesen, die tief, tief unter dem Menschen stehn, zuweilen gutmütig, meistens bösartig. Man kann in spätbuddhistischen Schriften von dergl. Phänomenen mehr hören, stets wird jedoch scharf betont, wie untergeordnet jene Wesen im Vergleich zum Menschen, der höchsten Daseinsform4, sind, ja, sie werden etwa den Tieren gleichgestellt, indem es als selbstgeschaffne Strafe für schlechten Lebenswandel gilt, »im Tierreiche oder im Gespensterreiche wiedergeboren zu werden«, dagegen als selbstgeschaffnes Glück, »unter den Göttern« oder als Höchstes »unter den Menschen wieder zu neuem Dasein zu gelangen«. An den Menschen wendet sich der Buddhismus und nur das verkündet er, was zum Heile führt. Diese Welt, die man täglich sieht und greift, ist sein Rhodos, sie enthält alle Weisheit, sie offenbart reichlich genug. Er warnt den Menschen, sich in Zaubertrug einzulassen, damit er nicht klage wie Faust:
Könnt' ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
Stünd' ich, Natur! vor dir ein Mann allein,
Da wär's der Mühe werth, ein Mensch zu sein.
Das war ich sonst, eh' ich's im Düstern suchte,
Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte.
Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll,
Daß Niemand weiß, wie er ihn meiden soll.
Wenn auch Ein Tag uns klar vernünftig lacht,
In Traumgespinst verwickelt uns die Nacht;
Wir kehren froh von junger Flur zurück,
Ein Vogel krächzt; was krächzt er? Mißgeschick.
Von Aberglauben früh und spat umgarnt –
Es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt –
Und so verschüchtert, stehen wir allein.
[824] Als Licht in dieser Finsternis zeigt der Buddhismus den Weg über den Abgrund des Daseins, den Weg, der sicher ist, wenn Geister spuken, den Weg, der zur Weltüberwältigung, zum Ziel des Leidens führt. Wie der tiefergriffene Faust erstrebt er nur eines, erkämpft und erringt es durch eigene Kraft: Erlösung.
Ich sollte wohl im Jammer weilen,
Nachdem ich einmal dich geschaut –!
Sieh mich entschlossen, sieh mich eilen:
Das Ende such' ich, keine Braut5.
Im Aṉguttaranikāyo I, 3, 129 heißt es: »Drei Dingen, ihr Mönche, ist das Heimlichtun eigen, nicht die Offenheit; welchen dreien? Den Weibern, ihr Mönche, ist das Heimlichtun eigen, nicht die Offenheit; der Priesterweisheit, ihr Mönche, ist das Heimlichtun eigen, nicht die Offenheit; falscher Lehre, ihr Mönche, ist das Heimlichtun eigen, nicht die Offenheit. Diesen drei Dingen, ihr Mönche, ist das Heimlichtun eigen, nicht die Offenheit.«
Eine solche Lehre bietet nun freilich wenig Stoff für vergleichende religionsgeschichtlich-philosophi sche Forschungen. Wer das hier suchte, wäre schlecht entlohnt. Er mag allenfalls zum Jātakam greifen, zur späten, apokryphen, doch sehr schönen Legendensammlung. In diesem wahren Sagenborne findet der religionsphilosophische Folklorist genügend abenteuerlichen Märchenstoff. Die einfachen, erhabenen, rein menschlichen Motive, die selbst dort noch häufig hervorleuchten, kann er ja ruhig ausscheiden, um hübsch bei der Hauptsache zu bleiben. Noch besser aber, er greift auf die alten Vedalieder zurück. Das ist so recht der Tummelplatz für seinen genialen Spürsinn. Da findet er Stoff, o welchen Stoff! für viele, viele Bände aller möglichen Studien und Abhandlungen. Darüber läßt sich prächtig reden und schreiben. Unsere Lehre, unser Text bietet aber, wie ersichtlich, all diese Herrlichkeiten nicht, erweist sich überhaupt eigentümlich spröde. Es läßt sich kaum etwas Rechtes mit ihm anfangen, wie mit dem unbrauchbaren Schwerte Nothung. Man mag sogar ein berühmter Textherausgeber sein, mag kritisieren wie Momus, mag durch scharfsinnige Untersuchungen die Lage der Butter auf dem vedischen Opferlöffel genau bestimmen, so daß jeder Zweifel über das wahre Verhältnis der beiden unmöglich erscheint: und immer noch ist all dieser Geist, all dieser Witz bei der Übersetzung schwieriger indischer Texte nutzlos verschwendet, fruchtlos.
Und auch für die Geschichte sind Texte wie der unserige ohne sonderlichen Wert. Man kann höchstens ein paar hundert Seiten schreiben, über brāhmanische Hierarchie, starres Formenwesen, unglückliches indisches Volk, Mangel an politischem Bewußtsein, daraus folgenden Pessimismus der Upanischaden und zum Schluß den milden Buddhismus vom endlich erreichten hohen modernen Standpunkte aus wohlwollend oder absprechend erledigen. Die Haupt- und Staatsaktionen fehlen hier, ebenso die Rumpelkammern und Kehrichtfässer ehrwürdiger Archive, nicht einmal Palimpseste besitzen wir, aus denen der historische Himmel uns entgegenstauben könnte, nur junge Palmblattmanuskripte und alte Felseninschriften. Wir gestehn aber unverhohlen, daß uns ein wahres, tiefsinniges Wort lieber ist, als die gesamte vielwissende Geschiehtsforscherei. Wir sind eben unfähig einzusehn, was es fromme, den ALEXANDERZUG haargenau zu verfolgen, die Leistungen NAPOLEONS sorgfältigst zu rekonstruieren und alles hübsch pragmatisch darzustellen, wenn die Summe [825] der ganzen Mühsal sich jederzeit und überall in die paar Worte zusammenfassen läßt, womit der edle VOLTAIRE in den »Fragmens historiques sur l'Inde« seinen Bericht über den Mogulkaiser Baber schließt: »Enfin, ayant étendu ses conquêtes de Caboul au Gange, il faut finir son histoire par ces mots qui en montrent la vanité: il mourut.« Geschichtsforschung cum grano salis ist allerdings eine schöne Sache. So haben sie THUKYDIDES, so TACITUS, so MACHIAVELLI und noch einige wenige getrieben. Nur diese echte Geschichtswissenschaft läßt sogar unser weitherziger GOETHE gelten:
Die geschichtlichen Symbole –
Thörig, wer sie wichtig hält;
Immer forschet er ins Hohle
Und versäumt die reiche Welt.
Die reiche Welt: das ist's, was wir immer vor Augen haben sollen. Von diesem Gesichtspunkte aus wird einst an Ort und Stelle die kräftige, wahre Geschichte Indiens geschrieben werden6. Wer will die See beschreiben, wohl gar malen, ohne sie zu kennen? Indien, dieser von der Natur ohne Vergleich großartig ausgestattete Erdteil für sich, mit seinem Himālayo, seinem Ganges, mit seinen elementargewaltigen meteorologischen [826] Verhältnissen, mit seinen jeder Schilderung spottenden siedend wallenden und wieder tief beruhigten Meeren, mit seiner zwanzigtausend Arten umfassenden Flora, seiner reichen Fauna, seinen reinsten Aryern: dies Land hat auf so beispiellos üppigem Boden naturgemäß auch die reifsten Geistesfrüchte gezeitigt, in allem und jedem, im Höchsten und Niedrigsten und allen Zwischengattungen, im Erhabenen und im Gemeinen, sowohl in seinen artibus moriendi als in seinen artibus amandi, in Philosophie, Religion, Epos und Drama. Wenn wir auch heute, in der europäischen Neuzeit, durch die sogenannten exakten Wissenschaften aus dem Zustande mittelalterlicher Unwissenheit befreit, im Mittag der Entwickelung uns sonnen: als Gesamtbild der Kultur steht Indien unerreicht da; und dieser Jahrtausende alten, tiefwurzelnden, unendlich mannigfaltigen Kultur edelste Frucht ist der Buddhismus.
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