Elftes Kapitel

Unsterblichkeit der Seele

[195] Monistische Studien über Thanatismus und Athanismus.

Kosmische und persönliche Unsterblichkeit.

Aggregatzustand der Seelensubstanz.


Indem wir uns von der genetischen Betrachtung der Seele zu der großen Frage ihrer »Unsterblichkeit« wenden, betreten wir jenes höchste Gebiet des Aberglaubens, welches gewissermaßen die unzerstörbare Zitadelle aller mystischen und dualistischen Vorstellungskreise bildet. Denn bei dieser Kardinalfrage knüpft sich an die rein philosophischen Vorstellungen mehr als bei jedem anderen Problem das egoistische Interesse der menschlichen Person, welche um jeden Preis ihre individuelle Fortdauer über den Tod hinaus garantiert haben will. Dieses »höhere Gemütsbedürfnis« ist so mächtig, daß es alle logischen Schlüsse der kritischen Vernunft über den Haufen wirft. Bewußt oder unbewußt werden bei den meisten Menschen alle übrigen allgemeinen Ansichten, also auch die ganze Weltanschauung, von dem Dogma der persönlichen Unsterblichkeit beeinflußt, und an diesen theoretischen Irrtum knüpfen sich praktische Folgerungen von weitestreichender Wirkung. Es wird daher unsere Aufgabe sein, alle Seiten dieses wichtigen Dogmas kritisch zu prüfen und seine Unhaltbarkeit gegenüber den empirischen Erkenntnissen der modernen Biologie nachzuweisen.

Um einen kurzen und bequemen Ausdruck für die beiden entgegengesetzten Grundanschauungen über die Unsterblichkeitsfrage zu haben, bezeichnen wir[195] den Glauben an die »persönliche Unsterblichkeit des Menschen« als Athanismus (abgeleitet von Athanes oder Athanatos = unsterblich). Dagegen nennen wir Thanatismus (abgeleitet von Thanatos = Tod) die Überzeugung, daß mit dem Tode des Menschen nicht nur alle übrigen physiologischen Lebenstätigkeiten erlöschen, sondern auch die »Seele« verschwindet, d.h. jene Summe von Gehirnfunktionen, welche der psychische Dualismus als ein eigenes »Wesen«, unabhängig von den übrigen Lebensäußerungen des lebendigen Körpers, betrachtet.

Indem wir hier das physiologische Problem des Todes berühren, betonen wir nochmals den individuellen Charakter dieser organischen Naturerscheinung. Wir verstehen unter Tod ausschließlich das definitive Aufhören der Lebenstätigkeit des organischen Individuums, gleichviel welcher Kategorie oder Stufenfolge der Individualität das betreffende Einzelwesen angehört. Der Mensch ist tot, wenn seine Person stirbt, gleichviel, ob er gar keine Nachkommenschaft hinterlassen hat, oder ob er Kinder erzeugt hat, deren Nachkommen sich durch viele Generationen fruchtbar fortpflanzen. Man sagt ja in gewissem Sinne, daß der »Geist« großer Männer (z.B. in einer Dynastie hervorragender Herrscher, in einer Familie talentvoller Künstler) durch Generationen fortlebt; und ebenso sagt man, daß die »Seele« ausgezeichneter Frauen oft in den Kindern und Kindeskindern sich forterhält. Allein in diesen Fällen handelt es sich stets um verwickelte Vorgänge der Vererbung, bei welchen eine abgelöste mikroskopische Zelle (die Spermazelle des Vaters, die Eizelle der Mutter) gewisse Eigenschaften der Substanz auf die Nachkommen überträgt. Die einzelnen Personen, welche jene Geschlechtszellen zu Tausenden produzieren, bleiben trotzdem sterblich, und mit ihrem Tode erlischt ihre individuelle Seelentätigkeit ebenso wie jede andere physiologische Funktion.

Neuerdings ist von mehreren namhaften Zoologen – am eingehendsten 1882 von Weismann – die Ansicht[196] verteidigt worden, daß nur die niedersten einzelligen Organismen, die Protisten, unsterblich seien, im Gegensatze zu allen vielzelligen Tieren und Pflanzen, deren Körper aus Geweben zusammengesetzt ist. Besonders wurde diese seltsame Auffassung dadurch begründet, daß die meisten Protisten sich vorwiegend auf ungeschlechtlichem Wege vermehren, durch Teilung oder Sporenbildung. Dabei zerfällt der ganze Körper des einzelligen Organismus in zwei oder mehr gleichwertige Stücke (Tochterzellen), und jedes dieser Stücke ergänzt sich wieder durch Wachstum, bis es der Mutterzelle an Größe und Form gleich geworden ist. Allein durch den Teilungsprozeß selbst ist ja bereits die Individualität des einzelligen Organismus vernichtet, ebenso die physiologische wie die morphologische Einheit. Der Begriff des Individuums selbst, des »Unteilbaren«, widerlegt logisch die Auffassung von Weismann; denn er bedeutet ja eine Einheit, die man nicht teilen kann, ohne ihr Wesen aufzuheben. In diesem Sinne sind die einzelligen Urpflanzen (Protophyta) und die einzelligen Urtiere (Protozoa) zeitlebens ebenso Bionten oder physiologische Individuen, wie die vielzelligen, gewebebildenden Pflanzen und Tiere. Auch bei den letzteren kommt ungeschlechtliche Fortpflanzung durch einfache Teilung vor (z.B. bei manchen Nesseltieren, Korallen, Medusen u. a.); das Muttertier, aus dessen Teilung die beiden Tochtertiere hervorgehen, hat auch hier mit der Trennung aufgehört zu existieren. Weismann behauptet: »Es gibt keine Individuen und keine Generationen bei den Protozoen im Sinne der Metazoen.« Ich muß diesen Satz entschieden bestreiten. Da ich selbst zuerst (1872) den Begriff der Metazoen aufgestellt und diese vielzelligen, gewebebildenden Tiere den einzelligen Protozoen (Infusorien, Rhizopoden usw.) gegenübergestellt habe, da ich selbst ferner zuerst den prinzipiellen Unterschied in der Entwicklung beider (dort aus Keimblättern, hier nicht) begründet habe, muß ich um so mehr betonen, daß ich die Protozoen im physiologischen (also auch[197] im psychologischen) Sinne ebenso für sterblich halte wie die Metazoen; unsterblich ist in beiden Gruppen weder der Leib noch die Seele. Die übrigen irrtümlichen Folgerungen Weismanns sind bereits (1894) durch Moebius widerlegt worden, der mit Recht hervorhebt, daß »alles in der Welt periodisch geschieht«, und daß es »kerne Quelle gibt, aus welcher unsterbliche organische Individuen hätten entspringen können«.

Wenn man den Begriff der Unsterblichkeit ganz allgemein auffaßt und auf die Gesamtheit der erkennbaren Natur ausdehnt, so gewinnt er wissenschaftliche Bedeutung; er erscheint dann der monistischen Philosophie nicht nur annehmbar, sondern selbstverständlich. Denn die These von der Unzerstörbarkeit und ewigen Dauer alles Seienden fällt dann zusammen mit unserem höchsten Naturgesetz, dem Substanzgesetz (12. Kapitel). Da wir diese kosmische Unsterblichkeit später, bei Begründung der Lehre von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, ausführlich erörtern wer den, halten wir uns nicht weiter auf. Vielmehr wenden wir uns sogleich zur Kritik jenes »Unsterblichkeitsglaubens«, der gewöhnlich allein unter diesem Begriffe verstanden wird, der Immortalität der persönlichen Seele. Wir untersuchen zunächst die Verbreitung und Entstehung dieser mystischen und dualistischen Vorstellung und betonen dabei besonders die weite Verbreitung ihres Gegenteils, des monistischen, empirisch begründeten Thanatismus. Ich unterscheide hier als zwei wesentlich verschiedene Erscheinungen desselben den primären und den sekundären Thanatismus; bei ersterem ist der Mangel des Unsterblichkeitsdogmas ein ursprünglicher (bei primitiven Naturvölkern); der sekundäre Thanatismus dagegen ist das späte Erzeugnis vernunftgemäßer Naturerkenntnis bei hochentwickelten Kulturvölkern.

In vielen philosophischen und besonders theologischen Schriften lesen wir noch heute die Behauptung, daß der Glaube an die persönliche Unsterblichkeit[198] der menschlichen Seele allen Menschen – oder doch allen »vernünftigen Menschen« – ursprünglich gemeinsam ist. Das ist falsch. Dieses Dogma ist weder eine ursprüngliche Vorstellung der menschlichen Vernunft, noch hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieser Beziehung ist vor allem wichtig die sichere, erst neuerdings durch die vergleichende Ethnologie festgestellte Tatsache, daß mehrere Naturvölker der ältesten und primitivsten Stufe ebensowenig von einer Unsterblichkeit als von einem Gotte irgendeine Vorstellung haben. Das gilt namentlich von den Weddas auf Ceylon, jenen primitiven Pigmäen, die wir auf Grund der ausgezeichneten Forschungen der Herren Sarasin für einen Überrest der ältesten indischen »Urmenschen« halten; ferner von mehreren ältesten Stämmen der nächstverwandten Dravidas, von den indischen Seelongs und einigen Stämmen der Australneger. Ebenso kennen mehrere der primitivsten Urvölker der amerikanischen Rasse, im inneren Brasilien, am oberen Amazonenstrom usw., weder Götter noch Unsterblichkeit. Dieser primäre Mangel des Unsterblichkeits- und Gottesglaubens ist eine wichtige Tatsache; er ist selbstverständlich wohl zu unterscheiden von dem sekundären Mangel desselben, welchen erst der höchst entwickelte Kulturmensch auf Grund kritisch-philosophischer Studien spät und mühsam gewonnen hat.

Im Gegensatz zu dem primären Thanatismus, der sicher bei den ältesten Urmenschen ursprünglich bestand und immer eine weite Verbreitung besaß, ist der sekundäre Mangel des Immortalitätsglaubens erst spät entstanden; er ist erst die reife Frucht eingehenden Nachdenkens über »Leben und Tod«, also ein Produkt echter und unabhängiger philosophischer Reflexion. Als solcher tritt er uns schon im sechsten Jahr hundert vor Christus bei einem Teile der jonischen Naturphilosophen entgegen, später bei den Gründern der alten materialistischen Philosophie, bei Demokritos und Empedokles, aber auch bei Simonides und Epikur, bei Seneca und Plinius, am[199] meisten durchgebildet bei Lucretius Carus. Als dann nach dem Untergange des klassischen Altertums das Christentum sich ausbreitete, gewann mit ihm der Athanismus, als einer seiner wichtigsten Glaubensartikel, die höchste Bedeutung.

Während der langen Geistesnacht des christlichen Mittelalters wagte begreiflicherweise nur selten ein kühner Freidenker seine abweichende Überzeugung zu äußern; die Beispiele von Galilei, von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philosophen, welche von den »Nachfolgern Christi« der Tortur und dem Scheiterhaufen überliefert wurden, schreckten genügend jedes freie Bekenntnis ab. Dieses wurde erst wieder möglich, nachdem die Reformation und die Renaissance die Allmacht des Papismus gebrochen hatten. Die Geschichte der neueren Philosophie zeigt die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menschliche Vernunft dem Aberglauben der Unsterblichkeit zu entrinnen versuchte. Immerhin verlieh demselben trotzdem die enge Verknüpfung mit dem christlichen Dogma auch in den freieren protestantischen Kreisen solche Macht, daß selbst die meisten überzeugten Freidenker ihre Meinung still für sich behielten. Nur selten wagten einzelne hervorragende Männer, ihre Überzeugung von der Unmöglichkeit der Seelenfortdauer nach dem Tode frei zu bekennen. Besonders geschah dies in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich von Voltaire, Danton, Mirabeau u. a., ferner von den Hauptvertretern des damaligen Materialismus, Holbach, Lamettrie u. a. Dieselbe Überzeugung vertrat auch der geistreiche Freund der letzteren, der größte der Hohenzollernfürsten, der monistische »Philosoph von Sanssouci«. Was würde Friedrich der Große, dieser »gekrönte Thanatist und Atheist«, sagen, wenn er heute seine monistischen Überzeugungen mit denjenigen seiner Nachfolgervergleichen könnte!

Unter den denkenden Ärzten ist die Überzeugung, daß mit dem Tode des Menschen auch die Existenz[200] seiner Seele aufhöre, wohl seit Jahrhunderten sehr verbreitet gewesen; aber auch sie hüteten sich meistens wohl, dieselbe auszusprechen. Auch blieb immerhin noch im achtzehnten Jahrhundert die empirische Kenntnis des Gehirns so unvollkommen, daß die »Seele« als rätselhafter Bewohner desselben ihre freie Existenz fortfristen konnte. Endgültig beseitigt wurde sie erst durch die Riesenfortschritte der Biologie im neunzehnten Jahrhundert und besonders in dessen zweiter Hälfte. Die Begründung der Deszendenztheorie und der Zellentheorie, die überraschenden Entdeckungen der Ontogenie und der Experimentalphysiologie, vor allem aber die bewundernswürdigen Fortschritte der mikroskopischen Gehirnanatomie entzogen dem Athanismus allmählich jeden Boden, so daß jetzt nur selten ein sachkundiger und ehrlicher Biologe noch für die Unsterblichkeit der Seele eintritt. Die monistischen Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts (Strauß, Feuerbach, Büchner, Moleschott, Rau, Spencer usw.) waren sämtlich überzeugte Thanatisten.

Die weiteste Verbreitung und die höchste Bedeutung hat das Dogma der persönlichen Unsterblichkeit erst durch seine innige Verbindung mit den Glaubenslehren des Christentums gefunden; und diese hat auch zu der irrtümlichen, heute noch sehr verbreiteten Ansicht geführt, daß dasselbe überhaupt einen wesentlichen Grundbestandteil jeder geläuterten Religion bilde. Das ist durchaus nicht der Fall! Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele fehlt vollständig den meisten höher entwickelten orientalischen Religionen; er fehlt dem Buddhismus, der heute noch über 30 Prozent der gesamten menschlichen Bevölkerung der Erde beherrscht; er fehlt ebenso der alten Volksreligion der Chinesen wie der reformierten, später an deren Stelle getretenen Religion des Confucius; und, was das Wichtigste ist, er fehlt der älteren und reineren jüdischen Religion; weder in den fünf Büchern Moses' noch in jenen älteren Schriften des Alten Testamentes, welche vor[201] dem babylonischen Exil geschrieben wurden, ist die Lehre von der individuellen Fortdauer nach dem Tode zu finden.

Die mystische Vorstellung, daß die Seele des Menschen nach seinem Tode fortdauere und unsterblich weiterlebe, ist sicher wiederholt (polyphyletisch) entstanden. Sie fehlte dem ältesten, schon mit Sprache begabten Urmenschen (dem Homo primigenius) gewiß ebenso wie seinen Vorfahren, dem Pithecanthropus und Prothylobates, und wie seinen modernen, wenig entwickelten Nachkommen, den Weddas von Ceylon, den Seelongs von Indien und anderen zerstreut wohnenden Naturvölkern. Erst bei zunehmender Vernunft, bei eingehenderem Nachdenken über Leben und Tod, über Schlaf und Traum, entwickelten sich bei verschiedenen älteren Menschenrassen – unabhängig voneinander – mystische Vorstellungen über die dualistische Komposition unseres Organismus. Sehr verschiedene Motive werden bei diesem polyphyletischen Vorgange zusammengewirkt haben: Ahnenkultus, Verwandtenliebe, Lebenslust und Wunsch der Lebensverlängerung, Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse im Jenseits, Hoffnung auf Belohnung der guten und Bestrafung der schlechten Taten usw. Die vergleichende Psychologie hat uns neuerdings eine große Anzahl von sehr verschiedenen derartigen Glaubensdichtungen kennen gelehrt; großenteils hängen dieselben eng zusammen mit den ältesten Formen des Gottesglaubens und der Religion überhaupt. In den meisten modernen Religionen ist der Athanismus eng verknüpft mit dem Theismus, und die materialistische Vorstellung, welche sich die meisten Gläubigen von ihrem »persönlichen Gott« bilden, übertragen sie auf ihre »unsterbliche Seele«. Das gilt vor allem von der herrschenden Weltreligion der modernen Kulturvölker, vom Christentum.

Wie allgemein bekannt, hat das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele in der christlichen Religion schon lange diejenige feste Form angenommen, welche sich in dem Glaubensartikel ausspricht: »Ich[202] glaube an die Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.« Wie am Osterfest Christus selbst von den Toten auferstanden ist und nun in Ewigkeit als »Gottes Sohn, sitzend zur rechten Hand Gottes«, gedacht wird, versinnlichen uns unzählige Bilder und Legenden. In gleicher Weise wird auch der Mensch »am jüngsten Tage auferstehen« und seinen Lohn für die Führung seines einstigen Erdenlebens empfangen. Dieser ganze christliche Vorstellungskreis ist durch und durch materialistisch und anthropistisch; er erhebt sich nicht viel über die entsprechenden rohen Vorstellungen vieler niederen Naturvölker. Daß die »Auferstehung des Fleisches« unmöglich ist, weiß eigentlich jeder, der einige Kenntnisse in Anatomie und Physiologie besitzt. Die Auferstehung Christi, welche von Millionen gläubiger Christen an jedem Osterfeste gefeiert wird, ist ebenso ein reiner Mythus wie die »Auferweckung von den Toten«, welche derselbe mehrfach ausgeführt haben soll. Für die reine Vernunft sind diese mystischen Glaubensdichtungen ebenso unannehmbar wie die damit verknüpfte Hypothese eines »ewigen Lebens«.

Die phantastischen Vorstellungen, welche die christliche Kirche über die ewige Fortdauer der unsterblichen Seele nach dem Tode des Leibes lehrt, sind ebenso rein materialistisch wie das damit verknüpfte Dogma von der »Auferstehung des Fleisches«. Sehr richtig bemerkt in dieser Beziehung Savage in seinem interessanten Werke »Die Religion im Lichte der Darwinschen Lehre« (1886): »Eine der stehenden Anklagen der Kirche gegen die Wissenschaft lautet, daß letztere materialistisch sei. Ich möchte im Vorbeigehen darauf aufmerksam machen, daß die ganze kirchliche Vorstellung vom zukünftigen Leben von jeher und noch jetzt der reinste Materialismus war und ist. Der materielle Leib soll auferstehen und in einem materiellen Himmel wohnen.« Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man nur unbefangen eine der unzähligen Predigten oder auch der phrasenreichen, neuerdings sehr beliebten Tischreden zu lesen,[203] in denen die Herrlichkeit des ewigen Lebens als höchstes Gut des Christen und der Glaube daran als Grundlage der Sittenlehre gepriesen wird. Da erwarten den frommen spiritualistischen Gläubigen im »Paradiese« alle Freuden des hochentwickelten geselligen Kulturlebens, während die gottlosen Materialisten vom »liebenden Vater« durch ewige Höllenqualen gemartert werden. Auf zahlreichen Bildern berühmter Maler sind diese Dichtungen sinnlich dargestellt.

Gegenüber dem materialistischen Athanismus, welcher in der christlichen und mohammedanischen Kirche herrschend ist, vertritt scheinbar eine reinere und höhere Glaubensform der metaphysische Athanismus, wie ihn die meisten dualistischen und spiritualistischen Philosophen lehren. Als der bedeutendste Begründer desselben ist Plato zu betrachten; er lehrte schon im vierten Jahrhundert vor Christus jenen vollkommenen Dualismus zwischen Leib und Seele, welcher dann in der christlichen Glaubenslehre zu einem der theoretisch wichtigsten und praktisch wirkungsvollsten Artikel wurde. Der Leib ist sterblich, materiell, physisch; die Seele ist unsterblich, immateriell, metaphysisch. Beide sind nur während des individuellen Lebens vorübergehend verbunden. Da Plato ein ewiges Leben der autonomen Seele sowohl vor als nach dieser zeitweiligen Verbindung annimmt, ist er auch Anhänger der »Seelenwanderung«; die Seelen existierten als solche, als »ewige Ideen«, schon bevor sie in den menschlichen Körper eintraten. Nachdem sie denselben verlassen, suchen sie sich als Wohnort einen anderen Körper aus, der ihrer Beschaffenheit am meisten angemessen ist; die Seelen von grausamen Tyrannen schlüpfen in den Körper von Wölfen und Geiern, diejenigen von tugendhaften Arbeitern in den Leib von Bienen und Ameisen usw. Die kindlichen und naiven Anschauungen dieser platonischen Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen erscheinen sie völlig unvereinbar mit den sichersten psychologischen Erkenntnissen,[204] welche wir der modernen Anatomie und Physiologie, der fortgeschrittenen Histologie und Ontogenie verdanken; wir erwähnen sie hier nur, weil sie trotz ihrer Absurdität den größten kulturhistorischen Einfluß erlangten. Denn einerseits knüpfte an die platonische Seelenlehre die Mystik der Neuplatoniker an, welche in das Christentum Eingang gewann; andererseits wurde sie später zu einem Hauptpfeiler der spiritualistischen und idealistischen Philosophie. Die platonische »Idee« verwandelte sich später in den Begriff der Seelensubstanz, die allerdings ebenso unfaßbar und metaphysisch ist, aber doch oft einen physikalischen Anschein gewann.

Die Auffassung der Seele als »Substanz« ist bei vielen Psychologen sehr unklar; bald wird dieselbe in abstraktem und idealistischem Sinne als ein »immaterielles Wesen« von ganz eigentümlicher Art betrachtet, bald in konkretem und realistischem Sinne, bald als ein unklares Mittelding zwischen beiden. Halten wir an dem monistischen Substanzbegriffe fest, wie wir ihn (im 12. Kapitel) als einfachste Grundlage unserer gesamten Weltanschauung entwickeln, so ist in demselben Energie und Materie untrennbar verbunden. Dann müssen wir an der »Seelensubstanz« die eigentliche, uns allein bekannte psychische Energie unterscheiden (Empfinden, Vorstellen, Wollen) und die psychische Materie, durch welche allein dieselbe zur Wirkung gelangen kann, also das lebendige Plasma. Bei den höheren Tieren bildet dann der »Seelenstoff« einen Teil des Nervensystems bei den niederen, nervenlosen Tieren und den Pflanzen einen Teil ihres vielzelligen Plasmakörpers, bei den einzelligen Protisten einen Teil ihres plasmatischen Zellenkörpers. Somit kommen wir wieder auf die Seelenorgane und gelangen zu der naturgemäßen Erkenntnis, daß diese materiellen Organe für die Seelentätigkeit unentbehrlich sind; die Seele selbst aber ist aktuell, ist die Summe ihrer physiologischen Funktionen. Ganz anders gestaltet sich der Begriff der spezifischen[205] Seelensubstanz bei jenen dualistischen Philosophen, welche eine solche annehmen. Die unsterbliche »Seele« soll dann zwar materiell sein, aber doch unsichtbar und ganz verschieden von dem sichtbaren Körper, in welchem sie wohnt. Die Unsichtbarkeit der Seele wird dabei als sehr wesentliches Attribut derselben betrachtet. Einige vergleichen dabei die Seele mit dem Äther und betrachten sie gleich diesem als einen äußerst feinen und leichten, höchst beweglichen Stoff und ein imponderables Agens, welches überall zwischen den wägbaren Teilchen des lebendigen Organismus schwebt. Andere hingegen vergleichen die Seele mit dem wehenden Winde und schreiben ihr also einen gasförmigen Zustand zu; dieser Vergleich ist ja auch derjenige, welcher zuerst bei den Naturvölkern zu der später so allgemein gewordenen dualistischen Auffassung führte. Wenn der Mensch starb, blieb der Körper als Leiche zurück; die unsterbliche Seele aber »entfloh aus demselben mit dem letzten Atemzuge«.

Die Vergleichung der menschlichen Seele mit dem physikalischen Äther als qualitativ ähnlichem Gebilde hat in neuerer Zeit eine konkretere Gestalt gewonnen durch die großartigen Fortschritte der Optik und der Elektrik (besonders seit Heinrich Hertz, 1888). Denn diese haben uns mit der Energie des Äthers bekannt gemacht und damit zugleich gewisse Schlüsse auf die materielle Natur dieses raumerfüllenden Wesens gestattet. Da ich diese wichtigen Verhältnisse später (im 12. Kapitel) besprechen werde, will ich mich hier nicht weiter dabei aufhalten, sondern nur kurz darauf hinweisen, daß dadurch die Annahme einer Ätherseele vollkommen unhaltbar geworden ist. Eine solche »ätherische Seele«, d.h. eine Seelensubstanz, welche dem physikalischen Äther ähnlich ist und gleich ihm zwischen den wägbaren Teilchen des lebendigen Plasma oder den Gehirnmolekülen schwebt, kann unmöglich individuelles Seelen leben hervorbringen. Weder die mystischen Anschauungen, welche darüber um die Mitte des neunzehnten[206] Jahrhunderts lebhaft diskutiert wurden, noch die Versuche des unklaren modernen Neovitalismus, die mystische »Lebenskraft« mit dein physikalischen Äther in Beziehung zu setzen, sind heute mehr der Widerlegung bedürftig.

Viel allgemeiner verbreitet und auch heute noch in hohem Ansehen steht jene Anschauung, welche der Seelensubstanz eine gasförmige Beschaffenheit zuschreibt. Uralt ist die Vergleichung des menschlichen Atemzuges mit dem wehenden Windhauche; beide wurden ursprünglich für identisch gehalten und mit demselben Namen belegt. Anemos und Psyche der Griechen, Anima und Spiritus der Römer sind ursprünglich Bezeichnungen für den Lufthauch des Windes; sie wurden von diesem auf den Atemhauch des Menschen übertragen. Später wurde dann dieser »lebendige Odem« mit der »Lebenskraft« identifiziert und zuletzt als das Wesen der Seele selbst angesehen oder in engerem Sinne als deren höchste Äußerung, der »Geist«. Davon leitete dann weiterhin wieder die Phantasie die mystische Vorstellung der individuellen Geister ab, der »Gespenster« (»Spirits«); auch diese werden ja heute noch meistens als »luftförmige Wesen« – aber begabt mit physiologischen Funktionen des Organismus, – vorgestellt; in manchen berühmten Spiritistenkreisen werden dieselben freilich trotzdem photographiert!

Der Experimentalphysik ist es in den letzten Dezennien des neunzehnten Jahrhunderts gelungen, alle gasförmigen Körper in den tropfbarflüssigen – und die meisten auch in den festen – Aggregatzustand überzuführen. Es bedarf dazu weiter nichts als geeigneter Apparate, welche unter sehr hohem Druck und bei sehr niederer Temperatur die Gase sehr stark komprimieren. Nicht allein die luftförmigen Elemente, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, sondern auch zusammengesetzte Gase (Kohlensäure) und Gasgemenge (atmosphärische Luft) sind so aus dem luftförmigen in den flüssigen Zustand versetzt worden.[207] Dadurch sind aber jene unsichtbaren Körper für jedermann sichtbar und in gewissem Sinne »handgreiflich« geworden. Mit dieser Änderung der Dichtigkeit ist der mystische Nimbus verschwunden, welcher früher das Wesen der Gase in der gemeinen Anschauung verschleierte, als unsichtbare Körper, die doch sichtbare Wirkungen ausüben. Wenn nun die Seelensubstanz wirklich, wie viele »Gebildete« noch heute glauben, gasförmig wäre, so müßte man auch imstande sein, sie durch Anwendung von hohem Druck und sehr niederer Temperatur in den flüssigen Zustand überzuführen. Man könnte dann die Seele, welche im Momente des Todes »ausgehaucht« wird, auffangen, unter sehr hohem Druck bei niederer Temperatur kondensieren und in einer Gasflasche als »unsterbliche Flüssigkeit« aufbewahren (Fluidum animae immortale). Durch weitere Abkühlung und Kondensation müßte es dann auch gelingen, die flüssige Seele in einen festen Zustand überzuführen (»Seelenschnee«). Bis jetzt ist das Experiment noch nicht gelungen.

Wenn der Athanismus wahr wäre, wenn wirklich die »Seele« des Menschen in alle Ewigkeit fortlebte, so müßte man ganz dasselbe auch für die Seele der höheren Tiere behaupten, mindestens für diejenige der nächststehenden Säugetiere (Affen, Hunde usw.). Denn der Mensch zeichnet sich vor diesen letzteren nicht durch eine besondere neue Art oder eine eigentümliche, nur ihm zukommende Funktion der Psyche aus, sondern lediglich durch einen höheren Grad der psychischen Tätigkeit, durch eine vollkommenere Stufe ihrer Entwicklung. Besonders ist bei vielen Menschen (aber durchaus nicht bei allen!) das Bewußtsein höher entwickelt als bei den Tieren, die Fähigkeiten der Ideenassozion, des Denkens und der Vernunft. Indessen ist dieser Unterschied bei weitem nicht so groß, als man gewöhnlich annimmt, und er ist in jeder Beziehung viel geringer als der entsprechende Unterschied zwischen den höheren und niederen Tierseelen oder selbst als der Unterschied[208] zwischen den höchsten und tiefsten Stufen der Menschenseele. Wenn man also der letzteren »persönliche Unsterblichkeit« zuschreibt, so muß man sie auch den höheren Tieren mit gleichem Rechte zugestehen.

Diese Überzeugung von der individuellen Unsterblichkeit der Tiere ist denn auch ganz naturgemäß bei vielen Völkern alter und neuer Zeit zu finden, aber auch jetzt noch bei vielen denkenden Menschen, welche für sich selbst ein »ewiges Leben« in Anspruch nehmen und gleichzeitig eine gründliche empirische Kenntnis des Seelenlebens der Tiere besitzen. Ich kannte einen alten Oberförster, der, frühzeitig verwitwet und kinderlos, mehr als dreißig Jahre einsam in einem herrlichen Walde in Ostpreußen gelebt hatte. Seinen einzigen Umgang bildeten einige Dienstleute, mit denen er nur die nötigsten Worte wechselte, und eine große Meute der verschiedensten Hunde, mit denen er im innigsten Seelenverkehr lebte. Durch vieljährige Erziehung und Dressur derselben hatte sich dieser feinsinnige Beobachter und Naturfreund tief in die individuelle Psyche seiner Hunde eingelebt, und er war von deren persönlicher Unsterblichkeit ebenso fest überzeugt wie von seiner eigenen. Einzelne seiner intelligentesten Hunde standen nach seinem objektiven Vergleiche auf einer höheren psychischen Stufe als seine alte, stumpfsinnige Magd und der rohe, einfältige Knecht. Jeder unbefangene Beobachter, der jahrelang das bewußte und intelligente Seelenleben ausgezeichneter Hunde studiert, der aufmerksam die physiologischen Vorgänge ihres Denkens, Urteilens, Schließens verfolgt hat, wird zugeben müssen, daß sie mit gleichem Rechte die »Unsterblichkeit« für sich in Anspruch nehmen können wie der Mensch.

Die Gründe, welche man seit zweitausend Jahren für die Unsterblichkeit der Seele anführt, und welche auch heute noch dafür geltend gemacht werden, entspringen zum größten Teile nicht dem Streben nach Erkenntnis der Wahrheit, sondern vielmehr dem sogenannten[209] »Bedürfnis des Gemütes«, d.h. dem Phantasieleben und der Dichtung. Um mit Kant zu reden, ist die Unsterblichkeit der Seele nicht ein Erkenntnisobjekt der reinen Vernunft, sondern ein »Postulat der praktischen Vernunft«. Diese letztere und die mit ihr zusammenhängenden »Bedürfnisse des Gemütes, der moralischen Erziehung« usw. müssen wir aber ganz aus dem Spiele lassen, wenn wir ehrlich und unbefangen zur reinen Erkenntnis der Wahrheit gelangen wollen; denn diese ist einzig und allein durch empirisch begründete und logisch klare Schlüsse der reinen Vernunft möglich. Es gilt also hier vom Athanismus dasselbe wie vom Theismus: beide sind nur Gegenstände der mystischen Dichtung, des transzendenten »Glaubens«, nicht der vernünftig schließenden und auf Erfahrung gestützten Wissenschaft.

Wollten wir alle die einzelnen Gründe analysieren, welche für den Unsterblichkeitsglauben geltend gemacht worden sind, so würde sich ergeben, daß nicht ein einziger derselben wirklich wissenschaftlich ist; kein einziger verträgt sich mit den klaren Erkenntnissen, welche wir durch die physiologische Psychologie und die Entwicklungstheorie in den letzten Dezennien gewonnen haben. Der theologische Beweis, daß ein persönlicher Schöpfer dem Menschen eine unsterbliche Seele (meistens als Teil seiner eigenen Gottesseele betrachtet) eingehaucht habe, ist reiner Mythus. Der kosmologische Beweis, daß die »sittliche Weltordnung« die ewige Fortdauer der menschlichen. Seele erfordere, ist unbegründetes Dogma. Der teleologische Beweis, daß die »höhere Bestimmung« des Menschen eine volle Ausbildung seiner mangelhaften irdischen Seele im Jenseits erfordere, beruht auf einem falschen Anthropismus. Der moralische Beweis, daß die Mängel und die unbefriedigten Wünsche des irdischen Daseins durch eine »ausgleichende Gerechtigkeit« im Jenseits befriedigt werden müssen, ist ein frommer Wunsch, weiter nichts. Der ethnologische Beweis, daß der Glaube an die Unsterblichkeit ebenso wie an Gott[210] eine angeborene, allen Menschen gemeinsame Wahrheit sei, ist tatsächlicher Irrtum. Der ontologische Beweis, daß die Seele als ein »einfaches, immaterielles und unteilbares Wesen« unmöglich mit dem Tode verschwinden könne, beruht auf einer ganz falschen Auffassung der psychischen Erscheinungen: sie ist ein spiritualistischer Irrtum. Alle diese und andere ähnliche »Beweise für den Athanismus« sind hinfällig geworden; sie sind durch die wissenschaftliche Kritik der letzten Dezennien definitiv widerlegt.

Gegenüber den angeführten, sämtlich unhaltbaren Gründen für die Unsterblichkeit der Seele ist es bei der hohen Bedeutung dieser Frage wohl zweckmäßig, die wohlbegründeten, wissenschaftlichen Beweise gegen dieselbe hier kurz zusammenzufassen. Der physiologische Beweis lehrt uns, daß die menschliche Seele ebenso wie die der höheren Tiere kein selbständiges, immaterielles Wesen ist, sondern der Kollektivbegriff für eine Summe von Gehirnfunktionen; diese sind ebenso wie alle anderen Lebenstätigkeiten durch physikalische und chemische Prozesse bedingt, also auch dem Substanzgesetz unterworfen. Der histologische Beweis gründet sich auf den höchst verwickelten mikroskopischen Bau des Gehirns und lehrt uns in den Ganglienzellen desselben die wahren »Elementarorgane der Seele« kennen. Der experimentelle Beweis überzeugt uns, daß die einzelnen Seelentätigkeiten an einzelne Bezirke des Gehirns gebunden und ohne deren normale Beschaffenheit unmöglich sind; werden diese Bezirke zerstört, so erlischt damit auch deren Funktion; insbesondere gilt dies von den »Denkorganen«, den einzigen zentralen Werkzeugen des »Geisteslebens«. Der pathologische Beweis ergänzt den physiologischen; wenn bestimmte Gehirnbezirke (Sprachzentren, Sehsphäre, Hörsphäre) durch Krankheit zerstört werden, so verschwindet auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die Natur selbst führt hier das entscheidende physiologische Experiment aus. Der ontogenetische Beweis[211] führt uns unmittelbar die Tatsachen der individuellen Entwicklung der Seele vor Augen; wir sehen, wie die Kindesseele ihre einzelnen Fähigkeiten nach und nach entwickelt; der Jüngling bildet sie zur vollen Blüte, der Mann zur reifen Frucht aus; im Greisenalter findet allmähliche Rückbildung der Seele statt, entsprechend der senilen Degeneration des Gehirns. Der phylogenetische Beweis stützt sich auf die Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Physiologie des Gehirns; in ihrer gegenseitigen Ergänzung begründen diese Wissenschaften vereinigt die Gewißheit, daß das Gehirn des Menschen (und also auch dessen Funktion, die Seele) sich stufenweise und allmählich aus demjenigen der Säugetiere und weiterhin der niederen Wirbeltiere entwickelt haben muß.

Die vorhergehenden Untersuchungen, die durch viele andere Ergebnisse der modernen Wissenschaft ergänzt werden könnten, haben das alte Dogma von der »Unsterblichkeit der Seele« als völlig unhaltbar nachgewiesen; dasselbe kann im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr Gegenstand ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern nur noch des transzendenten Glaubens sein. Die »Kritik der reinen Vernunft« weist aber nach, daß dieser hochgeschätzte Glaube, bei Licht betrachtet, der reine Aberglaube ist, ebenso wie der oft damit verknüpfte Glaube an den »persönlichen Gott«. Nun halten aber noch heute Millionen von »Gläubigen« – nicht nur aus den niederen, ungebildeten Volksmassen, sondern aus den höheren und höchsten Bildungskreisen – diesen Aberglauben für ihr teuerstes Besitztum, für ihren »kostbarsten Schatz«. Es wird daher nötig sein, in den damit verknüpften Vorstellungskreis noch etwas tiefer einzudringen und – seine Wahrheit vorausgesetzt – seinen wirklichen Wert einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Da ergibt sich denn für den objektiven Kritiker die Einsicht, daß jener Wert zum größten Teile auf Einbildung beruht, auf Mangel an klarem Urteil und an folgerichtigem Denken.[212] Der definitive Verzicht auf diese »athanistischen Illusionen« würde nach meiner festen und ehrlichen Überzeugung für die Menschheit nicht nur keinen schmerzlichen Verlust, sondern einen unschätzbaren positiven Gewinn bedeuten.

Das menschliche »Gemütsbedürfnis« hält den Unsterblichkeitsglauben besonders aus zwei Gründen fest, erstens in der Hoffnung auf ein besseres zukünftiges Leben im Jenseits und zweitens in der Hoffnung auf Wiedersehen der teueren Lieben und Freunde, welche uns der Tod hier entrissen hat. Was zunächst die erste Hoffnung betrifft, so entspricht sie einem natürlichen Vergeltungsgefühl, das zwar subjektiv berechtigt, aber objektiv ohne jeden Anhalt ist. Wir erheben Ansprüche auf Entschädigung für die zahllosen Mängel und traurigen Erfahrungen dieses irdischen Daseins, ohne irgendeine reale Aussicht oder Garantie dafür zu besitzen. Wir verlangen eine unbegrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Lust und Freude, keine Unlust und keinen Schmerz erfahren wollen. Die Vorstellungen der meisten Menschen über dieses »selige Leben im Jenseits« sind höchst seltsam und um so sonderbarer, als darin die »immaterielle Seele« sich an höchst materiellen Genüssen erfreut. Die Phantasie jeder gläubigen Person gestaltet sich diese permanente Herrlichkeit entsprechend ihren persönlichen Wünschen. Der amerikanische Indianer, dessen Athanismus Schiller in seiner nadowessischen Totenklage so anschaulich schildert, hofft in seinem Paradiese die herrlichsten Jagdgründe zu finden mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo erwartet dort sonnenbestrahlte Eisflächen mit einer unerschöpflichen Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polartieren; der sanfte Singhalese gestaltet sich sein jenseitiges Paradies entsprechend dem wunderbaren Inselparadiese Ceylon mit seinen herrlichen Gärten und Wäldern; nur setzt er voraus, daß jederzeit unbegrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüssen und anderen Früchten bereitstehen; der[213] mohammedische Araber ist überzeugt, daß in seinem Paradiese blumenreiche, schattige Gärten sich ausdehnen, durchrauscht von kühlen Quellen und bevölkert mit den schönsten Mädchen; der katholische Fischer in Sizilien erwartet dort täglich einen Überfluß der köstlichsten Fische und der feinsten Makkaroni und ewigen Ablaß für alle Sünden, die er auch im ewigen Leben noch täglich begehen kann; der evangelische Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gotischen Dom, in welchem »ewige Lobgesänge auf den Herrn der Heerscharen« ertönen. Kurz, jeder Gläubige erwartet von seinem ewigen Leben in Wahrheit eine direkte Fortsetzung seines individuellen Erdendaseins, nur in einer bedeutend »vermehrten und verbesserten Auflage«.

Besonders muß hier noch die durchaus materialistische Grundanschauung des christlichen Athanismus betont werden, die mit dem absurden Dogma von der »Auferstehung des Fleisches« eng zusammenhängt. Wie uns Tausende von Ölgemälden berühmter Meister versinnlichen, gehen die »auferstandenen Leiber« mit ihren »wiedergeborenen Seelen« droben im Himmel gerade so spazieren wie hier im Jammertal der Erde; sie schauen Gott mit ihren Augen, sie hören seine Stimme mit ihren Ohren, sie singen Lieder zu seinen Ehren mit ihrem Kehlkopf usw. Kurz, die modernen Bewohner des christlichen Paradieses sind ebenso Doppelwesen von Leib und Seele, ebenso mit allen Organen des irdischen Leibes ausgestattet wie unsere Altvordern in Odins Saal zu Walhalla, wie die »unsterblichen« Türken und Araber in Mohammeds lieblichen Paradiesgärten, wie die altgriechischen Halbgötter und Helden an Zeus' Tafel im Olymp, im Genüsse von Nektar und Ambrosia.

Mag man sich dieses »ewige Leben« im Paradiese auch noch so herrlich ausmalen, so muß dasselbe auf die Dauer unendlich langweilig werden. Und nun gar: »Ewig!« Ohne Unterbrechung diese ewige individuelle Existenz fortführen! Der tiefsinnige Mythus[214] vom »Ewigen Juden«, das vergebliche Ruhesuchen des unseligen Ahasverus, sollte uns über den Wert eines solchen »ewigen Lebens« aufklären! Das Beste, was wir uns nach einem tüchtigen, nach unserem besten Gewissen gut angewandten Leben wünschen können, ist der ewige Friede des Grabes: »Herr, schenke ihnen die ewige Ruhe!«

Jeder vernünftige Gebildete, der die geologische Zeitrechnung kennt und der über die lange Reihe der Jahrmillionen in der organischen Erdgeschichte nachgedacht hat, muß bei unbefangenem Urteil zugeben, daß der banale Gedanke des »ewigen Lebens« auch für den besten Menschen kein herrlicher Trost, sondern eine furchtbare Drohung ist. Nur Mangel an klarem Urteil und folgerichtigem Denken kann dies bestreiten.

Den besten und den am meisten berechtigten Grund für den Athanismus gibt die Hoffnung, im »ewigen Leben« die teueren Angehörigen und Freunde wiederzusehen, von denen uns hier auf Erden ein grausames Schicksal früh getrennt hat. Aber auch dieses vermeintliche Glück erweist sich bei näherer Betrachtung als Illusion; und jedenfalls würde es stark durch die Aussicht getrübt, dort auch allen den weniger angenehmen Bekannten und den widerwärtigen Feinden zu begegnen, die hier unser Dasein getrübt haben. Selbst die nächsten Familienverhältnisse dürften dann noch manche Schwierigkeiten bereiten! Viele Männer würden gewiß gern auf alle Herrlichkeiten des Paradieses verzichten, wenn sie die Gewißheit hätten, dort »ewig« mit ihrer »besseren Hälfte« oder gar mit ihrer Schwiegermutter zusammen zu sein. Auch ist es fraglich, ob dort König Heinrich VIII. von England mit seinen sechs Frauen sich dauernd wohl fühlte; oder gar König August der Starke von Polen, der seine Liebe über hundert Frauen schenkte und mit ihnen 352 Kinder zeugte! Da derselbe mit dem Papste, als dem »Statthalter Gottes«, auf dem besten Fuße stand, müßte auch er das Paradies bewohnen, trotz aller[215] seiner Mängel und trotzdem seine törichten Kriegsabenteuer mehr als hunderttausend Sachsen das Leben kosteten.

Unlösbare Schwierigkeiten bereitet auch den gläubigen Athanisten die Frage, in welchem Stadium ihrer individuellen Entwicklung die abgeschiedene Seele ihr »ewiges Leben« fortführen soll? Sollen die Neugeborenen erst im Himmel ihre Seele entwickeln, unter demselben harten »Kampf ums Dasein«, der den Menschen hier auf der Erde erzieht? Soll der talentvolle Jüngling, der dem Massenmorde des Krieges zum Opfer fällt, erst in Walhalla seine reichen, ungenutzten Geistesgaben entwickeln? Soll der altersschwache, kindisch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit dem Ruhm seiner Taten erfüllte, ewig als rückgebildeter Greis fortleben? Oder soll er sich gar in ein früheres Blütestadium zurückentwickeln? Wenn aber die unsterblichen Seelen, im Olymp als vollkommene Wesen verjüngt fortleben sollen, dann ist auch der Reiz und das Interesse der Persönlichkeit für sie ganz verschwunden.

Ebenso unhaltbar erscheint uns heute im Lichte der reinen Vernunft der anthropistische Mythus vom »jüngsten Gericht«, von der Scheidung aller Menschenseelen in zwei große Haufen, von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieses, der andere zu den ewigen Qualen der Hölle bestimmt ist – und das von einem persönlichen Gotte, welcher »der Vater der Liebe« ist! Hat doch dieser liebende Allvater selbst die Bedingungen der Vererbung und Anpassung »geschaffen«, unter denen sich einerseits die bevorzugten Glücklichen notwendig zu straflosen Seligen, andererseits die unglücklichen Armen und Elenden ebenso notwendig zu strafwürdigen Verdammten entwickeln mußten.

Eine kritische Vergleichung der unzähligen bunten Phantasiegebilde, welche der Unsterblichkeitsglaube der verschiedenen Völker und Religionen seit Jahrtausenden erzeugt hat, gewährt das merkwürdigste[216] Bild; eine hochinteressante, auf ausgedehnte Quellenstudien gegründete Darstellung derselben hat Adalbert Svoboda gegeben in seinen ausgezeichneten Werken: »Seelenwahn« (1886) und »Gestalten des Glaubens« (1897). Wie absurd uns auch die meisten dieser Mythen erscheinen mögen, wie unvereinbar sie sämtlich mit der vorgeschrittenen Naturerkenntnis der Gegenwart sind, so spielen sie dennoch auch heute eine höchst wichtige Rolle und üben trotzdem als »Postulate der praktischen Vernunft« den größten Einfluß auf die Lebensanschauungen der Individuen und die Geschicke der Völker.

Die idealistische und spiritualistische Philosophie der Gegenwart wird nun freilich zugeben, daß diese herrschenden materialistischen Formen des Unsterblichkeitsglaubens unhaltbar seien, und sie wird behaupten, daß an ihre Stelle die geläuterte Vorstellung von einem materiellen Seelenwesen, von einer platonischen Idee oder einer transzendenten Seelensubstanz treten müsse. Allein mit diesen unfaßbaren Vorstellungen kann die realistische Naturanschauung der Gegenwart absolut nichts anfangen; sie befriedigen weder das Kausalitätsbedürfnis unseres Verstandes, noch die Wünsche unseres Gemütes. Fassen wir alles zusammen, was vorgeschrittene Anthropologie, Physiologie, Psychologie und Kosmologie der Gegenwart über den Athanismus ergründet haben, so müssen wir unzweifelhaft zu dem bestimmten Schlusse kommen: »Der Glaube an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist ein Dogma, welches mit den sichersten Erfahrungssätzen der modernen Naturwissenschaft in unlösbarem Widerspruche steht.«[217]

Quelle:
Ernst Haeckel: Gemeinverständliche Werke. Band 3, Leipzig und Berlin [o.J.], S. 195-218.
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