Erster Abschnitt

[29] Sokrates hatte nicht umsonst einen Bildhauer17 und eine Wehmutter zu Eltern gehabt. Sein Unterricht ist Jederzeit mit den Hebammenkünsten18 verglichen worden. Man vergnügt sich noch diesen Einfall zu wiederholen, ohne daß man selbigen als das Saamkorn einer fruchtbaren Wahrheit hätte aufgehen lassen. Dieser Ausdruck ist nicht blos tropisch, sondern zugleich ein Knäuel vortreflicher Begriffe, die jeder Lehrer zum Leitfaden in der Erziehung des Verstandes nöthig hat. Wie der Mensch nach der Gleichheit Gottes erschaffen worden, so scheint der Leib eine Figur oder Bild der Seelen zu seyn19. Wenn uns unser Gebein verholen ist, weil wir im Verborgenen gemacht, weil wir gebildet werden unten in der Erde; wie viel mehr werden unsere Begriffe im Verborgenen gemacht, und können als Gliedmassen unsers Verstandes betrachtet werden. Daß ich sie Gliedmaassen des Verstandes nenne, hindert nicht, jeden Begrif als eine besondere und ganze Geburt selbst anzusehen. Sokrates war also bescheiden genung seine Schulweisheit mit der Kunst eines alten Weibes zu vergleichen, welches blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeitigen Frucht zu Hülfe kommt, und beyden Handreichung thut.

Die Kraft der Trägheit und die ihr entgegengesetzt scheinende Kraft des Stolzes, die man durch so viel Erscheinungen und Beobachtungen veranlasset worden in unserm Willen anzunehmen, bringen die Unwissenheit, und die daraus entspringendeIrrthümer und Vorurtheile nebst allen ihren schwesterlichen Leidenschaften hervor. Von dieser Seite ahmte also Sokrates seinen Vater nach, einen Bildhauer, der, indem er wegnimmt und hauet, was am Holze nicht seyn soll, eben dadurch die Form des Bildes fördert20. Daher hatten die grossen Männer seiner Zeit zureichenden Grund über ihn zu schreyen, daß er alle Eichen ihrer Wälder fälle, alle ihre Klötzer verderbe, und aus ihrem Holze nichts als Späne zu machen verstünde.

Sokrates wurde vermuthlich ein Bildhauer, weil sein Vater einer war. Daß er in dieser Kunst nicht mittelmässig geblieben, hat man daraus geschlossen, weil zu Athen seine drey Bildsäulen der Gratien aufgehoben worden. Man war ehmals gewohnt gewesen diese Göttinnen zu kleiden; den altväterischen Gebrauch hatte Sokrates nachgeahmt, und seine Gratien wiedersprachen der Costume des damaligen Göttersystems und der sich darauf gründenden schönen Künste. Wie Sokrates auf diese Neuerung gekommen; ob es eine Eingebung seines Genius, oder eine Eitelkeit seine Arbeiten zu unterscheiden, oder die Einfalt einer natürlichen Schaamhaftigkeit gewesen, die einem andächtigen Athenienser wunderlich vorkommen muste; weiß ich nicht. Es ist aber nur gar zu wahrscheinlich, daß diese neugekleideten Gratien so wenig ohne Anfechtung werden geblieben seyn als die neugekleideten Gratien unserer heutigen Dichtkunst.[31]

Hier ist der Ort die Übersichtigkeit einiger gegen das menschliche Geschlecht und dessen Aufkommen gar zu witzig gesinnter Patrioten zu ahnden, die sich die Verdienste des Bildhauers im Sokrates so groß vorstellen, daß sie den Weisen darüber verkennen, die den Bildhauer vergöttern um desto füglicher über des Zimmermanns Sohn spotten zu können. Wenn sie in Ernst an Sokrates glauben; so sind seine Sprüche Zeugnisse wieder sie. Diese neuen Athenienser sind Nachkommen seiner Ankläger und Giftmischer, abgeschmacktere Verläumder und grausamere Mörder dann ihre Väter.

Bey der Kunst, in welcher Sokrates erzogen worden, war sein Auge an der Schönheit und ihren Verhältnissen so gewohnt und geübt, daß sein Geschmack an wohlgebildeten Jünglingen uns nicht befremden darf. Wenn man die Zeiten des Heydenthums21 kennt, in denen er lebte; so ist es eine thörichte Mühe ihn von einem Laster weiß zu brennen, das unsere Christenheit an Sokrates übersehen sollte, wie die artige Welt an einem Toußaint die kleinen Romane seiner Leidenschaften als Schönfleckchen seiner Sitten. Sokrates scheint ein auf richtiger Mann gewesen zu seyn, dessen Handlungen von dem Grund seines Herzens, und nicht von dem Eindruck, den andere davon haben, bestimmt werden. Er leugnete nicht, daß seine verborgene Neigungen mit den Entdeckungen des Gesichtsdeuters einträfen; er gestand daß dessen Brille recht gesehen hätte. Ein Mensch, der überzeugt ist, daß er nichts weiß, kann, ohne sich selbst Lügen zu strafen, kein Kenner seines guten Herzens seyn. Daß er das ihm beschuldigte Laster gehaßt, wissen wir aus seinem Eyfer gegen dasselbe, und in seiner Geschichte sind Merkmaleseiner Unschuld, die ihn bey nahe loßsprechen. Man kann keine lebhafte Freundschaft ohne Sinnlichkeit fühlen, und eine metaphysische Liebe sündigt vielleicht gröber am Nervensaft, als eine thierische an Fleisch und Blut. Sokrates hat also ohne Zweifel für seine Lust an einer Harmonie der äusserlichen und innerlichen Schönheit, in sich selbst leiden und streiten müssen. Überdem wurden Schönheit, Stärke des Leibes und Geistes nebst dem Reichthum an Kindern und Gütern in dem jugendlichen Alter der Welt für Sinnbilder göttlicher Eigenschaften und Fußstapfen göttlicher Gegenwart erklärt. Wir denken letzt zu abstrakt und männlich die menschliche Natur nach dergleichen Zufälligkeiten zu beurtheilen. Selbst die Religion lehrt uns einen Gott, der kein Ansehen der Person hat; ohngeachtet der Misverstand des Gesetzes die Juden an gleiche Vorurtheile hierinn mit den Heyden gebunden hielt. Ihre gesunde Vernunft, woran es den Juden und Griechen so wenig fehlte als unsern Christen und Muselmännern, stieß sich daran, daß der Schönste unter den Menschenkindern ihnen zum Erlöser versprochen war, und daß ein Mann der Schmerzen, voller Wunden und Striemen, der Held ihrer Erwartung seyn sollte. Die Heyden waren durch die klugen Fabeln ihrer Dichter an dergleichen Wiedersprüchen gewohnt; bis ihre Sophisten, wie unsere, solche als einen Vatermord verdammten, den man an den ersten Grundsätzen der menschlichen Erkenntnis begeht.

Von solchem Wiederspruch finden wir ein Beyspiel an dem Delphischen Orakel, das denjenigen für den weisesten erkannte, der gleichwol von sich gestand, daß er nichts wisse. Strafte Sokrates das Orakel Lügen, oder das Orakel ihn? Die stärksten Geister unserer Zeit haben für diesmal die Priesterinn für eine Wahrsagerinn gehalten, und sich innerlichüber ihre Ähnlichkeit mit dem Vater Sokrates gefreut, der es für gleich anständig hielt einen Idioten zu spielen oder Göttern zu glauben. Ist übrigens der Verdacht gegründet, daß sich Apoll nach den Menschen richte, weil diese zu dumm sind sich nach ihn zu richten: so handelt er als ein Gott, dem es leichter fällt zu philippisiren oder zu sokratisiren als uns Apollos zu seyn.

Die Überlieferung eines Götterspruches will aber so wenig als ein Komet sagen für einen Philosophen von heutigem Geschmack. Wir müssen nach seiner Meynung in dem Buche, welches das thörichste Volk auf uns gebracht, und in den Überbleibseln der Griechen und Römer, so bald es auf Orakel, Erscheinungen, Träume und dergleichen Meteoren22 ankommt, diese Mährchen unserer Kinder und Ammen (denn Kinder und Ammen sind alle verfloßne Jahrhunderte gegen unser lebendes in der Kunst zu erfahren und zu denken)23 absondern, oder selbigeals die Schnörkel unserer Alpendichter bewundern. Gesetzt, dieses würde alles so reichlich eingeräumt; als man unverschämt seyn könte es zu fordern: so wird Bayle, einer ihrer Propheten, zu dessen Füssen diese Kreter24 mit so viel Anstand zu gähnen25 gewohnt sind, weil ihr Gamaliel26 gähnt, diesen Zweiflern antworten; daß, wenn alle diese Begebenheiten mit dem Einfluß der Gestirne in gleichem Grade der Falschheit stehen, wenn alles gleichartig erlogen und erdacht ist, dennoch der Wahn, die Einbildung und der Glaube daran zu ihrer Zeit und an ihrem Ort würklich grössere Wunder veranlaßt habe und veranlassen könne, als man den Kometen, Orakelsprüchen und Träumen selbst jemals zugeschrieben hat noch zuschreiben wird. In diesem Verstande sollten aber die Zweifler mehr Recht als unsere Empyriker behalten, weil es menschlicher und Gott anständiger aussieht, uns durch unsere eigene Grillen und Hirngespinste, als durch eine so entfernte und kostbare Maschinerey wie das Firmament27 und die Geisterwelt28 unseren blöden Augen vorkommt, zu seinen Absichten zu regieren.[39]

Quelle:
Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Stuttgart 1968, S. 29-41.
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