I. Der unbewusste Wille in den selbstständigen Rückenmarks- und Ganglienfunctionen

Die Zeit ist vorüber, wo man dem freien Menschen die Thiere als wandelnde Maschinen, als Automaten ohne Seele gegenüber stellte. Eine eingehendere Betrachtung des Thierlebens, die eifrige Bemühung um das Verständniss ihrer Sprache und die Motive ihrer Handlungen hat gezeigt, dass der Mensch von den höchsten Thieren, ebenso wie die Thiere unter einander, nur graduelle, aber nicht wesentliche Unterschiede der geistigen Befähigung zeigt; dass er vermöge dieser höheren Befähigung sich eine vollkommenere Sprache geschaffen, und durch diese die Perfectibilität durch Generationen hindurch erworben hat, welche den Thieren eben wegen ihrer unvollkommenen Mittheilungsmittel fehlt. Wir wissen also jetzt, dass wir nicht den heutigen Gebildeten mit den Thieren vergleichen dürfen, ohne gegen diese ungerecht zu sein, sondern nur die Völker, die sich noch wenig von dem Zustande entfernt haben, in welchem sie aus der Hand der Natur entlassen wurden, denn wir wissen, dass auch unsere jetzt durch höhere Anlagen bevorzugte Race dereinst gewesen, was jene noch heute sind, und dass unsere heutigen höheren Gehirn- und Geistesanlagen nur durch das Gesetz der Vererbung auch des Erworbenen allmählich diese Höhe erreicht haben. So steht das Thierreich als eine geschlossene Stufenreibe von Wesen vor uns, mit durchgehender Analogie behaftet; die geistigen Grundvermögen müssen in allen dem Wesen nach dieselben sein, und was in höheren als neu hinzutretende Vermögen erscheint, sind nur secundäre Vermögen, die sich durch höhere Ausbildung der gemeinsamen Grundfähigkeiten nach gewissen Richtungen hin entwickeln. Diese Grund- oder Urthätigkeiten des Geistes in allen Wesen sind Wollen und Vorstellen,[51] denn das Gefühl lässt sich (wie ich Cap. B. III zeigen werde) aus diesen beiden mit Hülfe des Unbewussten entwickeln.

Wir sprechen in diesem Capitel bloss vom Willen. Dass dasselbe, was wir als unmittelbare Ursache unseres Handelns zu kennen glauben und Wille nennen, dass eben dieses auch in dem Bewusstsein der Thiere als causales Moment ihres Handelns lebt, und auch hier Wille genannt werden muss, unterliegt wohl keinem Zweifel, wenn man nicht so vornehm sein will (wie bei essen, trinken und gebären), für dieselbe Sache beim Thier andere Namen zu gebrauchen (fressen, saufen, werfen). Der Hund will sich nicht von seinem Herrn trennen, er will das in's Wasser gefallene Kind von dem ihm wohlbekannten Tode retten, der Vogel will seine Jungen nicht beschädigen lassen, das Männchen will den Besitz seines Weibchens nicht mit einem anderen theilen u.s.w. – Ich weiss wohl, dass es Viele giebt, die den Menschen zu heben glauben, wenn sie möglichst viel bei den Thieren, namentlich den unteren, als Reflexwirkung erklären. Wenn diese die gewöhnliche physiologische Tragweite des Begriffes Reflexwirkung als unwillkürliche Reaction auf äussern Reiz im Sinne haben, so kann man wohl sagen, sie müssen nie Thiere beobachtet haben, oder sie müssen mit sehenden Augen blind sein; wenn sie aber die Reflexwirkung über ihre gewöhnliche physiologische Bedeutung in ihren wahren Begriff ausdehnen, so haben sie zwar Recht, aber sie vergessen dann bloss: erstens, dass auch der Mensch in lauter Reflexwirkungen lebt und webt, dass jeder Willensact eine Reflexwirkung ist, zweitens aber, dass jede Reflexwirkung ein Willensact ist, wie in Cap. V. gezeigt wird.

Behalten wir also vorläufig die gewöhnliche engere Bedeutung von Reflex bei, und sprechen nur von solchen Willensacten, welche nicht in diesem Sinne Reflexe, also nicht unwillkürliche Reactionen des Organismus auf äussere Reize sind. Zwei Merkmale sind es hauptsächlich, an denen man den Willen von den Reflexwirkungen unterscheiden kann, erstens der Affect, und zweitens die Consequenz in Ausführung eines Vorsatzes. Die Reflexe vollziehen sich mechanisch und affectlos, es gehört aber nicht allzuviel Physiognomik dazu, um auch an den niedrigen Thieren das Vorhandensein von Affecten deutlich wahrzunehmen. Bekanntlich führen manche Ameisenarten Kriege untereinander, in denen ein Staat den andern unterwirft und dessen Bürger zu seinen Sclaven macht, um durch dieselben seine Arbeiten verrichten zu lassen. Diese Kriege werden durch eine Kriegerkaste geführt, deren Mitglieder grösser und stärker und mit kräftigeren[52] Zangen bewehrt sind. Man braucht nur einmal gesehen zu haben, wie diese Armee an den feindlichen Bau anklopft, die Arbeiter sich zurückziehen und die Krieger herauskommen, um den Kampf aufzunehmen, mit welcher Erbitterung gekämpft wird, und wie sich nach unglücklichem Ausgang der Schlacht die Arbeiter des Baues gefangen geben, dann wird man nicht mehr zweifeln, dass dieser prämeditirte Raubzug einen sehr entschiedenen Willen zeigt, und nichts mit Reflexwirkungen zu thun hat. Aehnlich ist es bei Raubbienenschwärmen.

Die Reflexwirkung verschwindet und wiederholt sich mit dem äussern Reiz, aber sie kann nicht einen Vorsatz fassen, den sie unter veränderten äusseren Umständen mit zweckmässiger Aenderung der Mittel längere Zeit hindurch verfolgt. Z.B. wenn ein geköpfter Frosch, der lange nach der Operation ruhig liegen geblieben ist, plötzlich anfängt Schwimmbewegungen zu machen, oder fortzuhüpfen, so könnte man noch geneigt sein, dies als blosse physiologische Reflexwirkungen auf Reizungen der Luft an den durchschnittenen Nervenenden anzusehen, wenn aber der Frosch in verschiedenen Versuchen verschiedene Hindernisse bei gleichem Hautreiz an gleicher Stelle auf verschiedene Weise, aber gleich zweckmässig überwindet, wenn er eine bestimmte Richtung einschlägt und, aus dieser Richtung herausgebracht, mit seltenem Eigensinn dieselbe stets wieder zu gewinnen sucht, wenn er sich unter Spinde und in andere Winkel verkriecht, offenbar um vor den Verfolgern Schutz zu suchen, so liegen hier unverkennbar nichtreflectorische Willensacte vor, in Bezug auf welche sogar der Physiologe Goltz mit Recht aus seinen sorgfältigen Versuchen schliesst, dass man die Annahme einer nicht am Grosshirn haftenden, sondern für die verschiedenen Functionen an verschiedene Centralorgane (z.B. für die Behauptung des Gleichgewichts an die Vierhügel) gebundenen Intelligenz nicht umgehen könne.

Aus diesem Beispiel vom geköpften Frosch und dem Willen aller wirbellosen Thiere (z.B. der Insecten) geht hervor, dass zum Zustandekommen des Willens durchaus kein Gehirn erforderlich ist. Da bei den wirbellosen Thieren die Schlundganglien das Gehirn ersetzen, werden wir annehmen müssen, dass diese zum Willensact auch genügen, und bei jenem Frosch muss Kleinhirn und Rückenmark die Stelle des Grosshirns vertreten haben. Aber auch nicht bloss auf die Schlundganglien der wirbellosen Thiere werden wir den Willen beschränken dürfen, denn wenn von einem durchschnittenen Insect das Vordertheil den Act des Fressens, und von[53] einem anderen durchschnittenen Insect das Hintertheil den Act der Begattung fortsetzt, ja wenn sogar Fangheuschrecken mit abgeschnittenen Köpfen noch gerade wie unversehrte, Tage lang ihre Weibchen aufsuchen, finden und sich mit ihnen begatten, so ist wohl klar, dass der Wille zum Fressen ein Act des Schlundringes, der Wille zur Begattung aber wenigstens in diesen Fällen ein Act anderer Ganglienknoten des Rumpfes gewesen sei. Die nämliche Selbstständigkeit des Willens in den verschiedenen Ganglienknoten eines und desselben Thieres sehen wir darin, dass von einem zerschnittenen Ohrwurm häufig, von einer australischen Ameise regelmässig, sich beide Hälften gegen einander kehren und unter den unverkennbaren Affecten des Zorns und der Kampflust sich mit Fresszange resp. Stachel bis zum Tode oder zur Erschöpfung wüthend bekämpfen. Aber selbst auf die Ganglien werden wir die Willensthätigkeit nicht beschränken dürfen, denn wir finden selbst bei jenen tiefstehenden Thieren noch Willensacte, wo das Mikroskop des Anatomen noch keine Spur weder von Muskelfibrin, noch von Nerven, sondern statt beider nur die Mulder'sche Fibroine (jetzt Protoplasma genannt) entdeckt hat und wo vermuthlich die halbflüssige, schleimige Körpersubstanz des Thieres ebenso wie in den ersten Stadien der Embryoentwickelung die Bedingungen selbst schon in untergeordnetem Maasse erfüllt, welchen die Nervensubstanz ihre Reizbarkeit, Leitungsfähigkeit und Mittlerschaft für die Bethätigung der Willensacte verdankt, nämlich die leichte Verschiebbarkeit und Polarisirbarkeit der Molecule. Wenn man einen Polypen in einem Glas mit Wasser hat, und dieses so stellt, dass ein Theil des Wassers von der Sonne beschienen ist, so rudert der Polyp sogleich aus dem dunkeln nach dem beschienenen Theile des Wassers. Thut man ferner ein lebendes Infusionsthierchen hinein und dieses kommt dem Polyp auf einige Linien nahe, so nimmt er dasselbe, weiss Gott wodurch, wahr, und erregt mit seinen Armen einen Wasserstrudel, um es zu verschlingen. Nähert sich ihm dagegen ein todtes Infusionsthier, ein kleines pflanzliches Geschöpf oder ein Stauhöhen auf dieselbe Entfernung, so bekümmert er sich gar nicht darum. Der Polyp nimmt also das Thierchen als lebendig wahr, schliesst daraus, dass es für ihn zur Nahrung geeignet sei, und trifft die Anstalten, um es bis zu seinem Munde heranzubringen. Nicht selten sieht man auch zwei Polypen um eine Beute in erbittertem Kampfe.A18 Einen durch so feine Sinneswahrnehmung motivirten und so deutlich kundgegebenen Willen wird niemand mehr physiologischen Reflex im gewöhnlichen Sinne nennen können, es müsste[54] denn auch Reflex sein, wenn der Gärtner einen Baumast niederbeugt, um die reifen Früchte erlangen zu können. Wenn wir somit in nervenlosen Thieren noch Willensacte sehen, werden wir gewiss nicht Anstand nehmen dürfen, dieselben in Ganglien anzuerkennen.

Dies Resultat wird auch durch die vergleichende Anatomie unterstützt, welche lehrt, dass das Gehirn ein Conglomerat von Ganglien in Verbindung mit Leitungsnerven, und das Rückenmark in seiner grauen Centralsubstanz ebenfalls eine Reihe mit einander verwachsener Ganglienknoten sei. Die Gliederthiere zeigen zuerst ein schwaches Analogen des Gehirnes in Gestalt zweier durch den Schlundring zusammenhängenden Knötchen und des Rückenmarks im sogenannten Bauchstrang, ebenfalls Knoten, die durch Fäden verbunden sind, und von denen je einer einem Gliede und Fusspaare des Thieres entspricht. Dem analog nehmen die Physiologen soviel selbstständige Centralstellen im Rückenmark an, als Spinalnervenpaare aus demselben entspringen. Unter Wirbelthieren kommen noch Fische vor, deren Gehirn und Rückenmark aus einer Anzahl Ganglien besteht, welche in einer Reihe gedrängt hinter einander liegen. Eine mehr als ideelle, eine volle Wahrheit erhält die Zusammensetzung eines Centralorgans aus mehreren Ganglien in der Metamorphose der Insecten, indem dort gewisse Ganglien, welche in dem Larvenzustand des Thieres getrennt sind, in der höheren Entwickelungsstufe zur Einheit verschmolzen erscheinen.

Diese Thatsachen möchten genügen, um die Wesensgleichheit von Hirn und Ganglien, von Hirnwille und Ganglienwille zu bezeugen. Wenn nun aber die Ganglien niederer Thiere ihren selbstständigen Willen haben, wenn das Rückenmark eines geköpften Frosches ihn hat, warum sollen dann die soviel höher organisirten Ganglien und Rückenmark der höheren Thiere und des Menschen nicht auch ihren Willen haben? Wenn bei Insecten der Wille zum Fressen in vorderen, der Wille zur Begattung in hinteren Ganglien liegt, warum soll dann beim Menschen nicht auch eine solche Arbeitstheilung für den Willen vorgesehen sein? Oder wäre es denkbar, dass dieselbe Naturerscheinung in unvollkommenerer Gestalt eine hohe Wirkung zeigt, die ihr in vollkommenerer Gestalt gänzlich fehlt? Oder wäre etwa im Menschen die Leitung so gut, dass jeder Ganglienwille sofort nach dem Hirn geleitet würde und uns von dem im Hirn erzeugten Willen ununterscheidbar in's Bewusstsein träte? Dies kann für die oberen Theile des Rückenmarks vielleicht bis zu einem gewissen Maasse wahr sein, für alles übrige gewiss nicht, da ja schon[55] die Empfindungsleitungen aus dem Unterleibsgangliensystem bis zum Verschwinden dumpf sind. Es bleibt also nichts übrig, als auch den menschlichen Ganglien und Rückenmark selbstständigen Willen zuzuerkennen, dessen Aeusserungen wir nur noch empirisch nachzuweisen haben. Dass bei höheren Thieren die Muskelbewegungen, welche die äussern Handlungen bewirken, mehr und mehr dem kleinen Gehirn unterworfen und somit centralisirt werden, ist bekannt, wir werden also in dieser Hinsicht weniger Thatsachen auffinden, und ist dies auch der Grund, warum bis jetzt die Selbstständigkeit des Gangliensystems in höheren Thieren von Physiologen wenig anerkannt worden ist, obwohl die neuesten Forscher sie vertheidigen. Diejenigen Willensacte dagegen, welche wirklich den Ganglien zuzuschreiben sind, hat man sich gewöhnlich als Reflexwirkungen vorgestellt, deren Beize im Organismus selbst liegen sollten, welche Reize dann willkürlich angenommen wurden, wenn sie nicht nachweisbar waren. Zum Theil mögen diese Annahmen berechtigt sein, dann gehören sie eben in das Capitel über Reflexwirkungen; ein grosser Theil ist es aber jedenfalls nicht, und ausserdem kann es auch nicht schaden, selbst dasjenige, was Reflexwirkungen sind, hier vom Standpuncte des Willens zu betrachten, da später nachgewiesen wird, dass jede Reflexwirkung einen unbewussten Willen enthält.

Die selbstständig, d.h. ohne Mitwirkung des Gehirns und Rückenmarks vom sympathischen Nervensystem geleiteten Bewegungen sind: 1) der Herzschlag, 2) die Bewegung des Magens und des Darms, 3) der Tonus der Eingeweide, Gefässe und Sehnen, 4) ein grosser Theil der vegetativen Processe, insofern sie von Nerventhätigkeit abhängig sind. Herzschlag, Tonus der Arterien und Darmbewegungen zeigen den intermittirenden Typus der Bewegung, die übrigen den continuirenden. Der Herzschlag beginnt, wie man an einem blossgelegten Froschherzen sieht, bei den contractilen Hohlvenen, dann folgt die Zusammenziehung der Vorhöfe, dann der Ventrikel, endlich des Bulbus aortae. In einem ausgeschnittenen und mit Salzwasser ausgespritzten Froschherzen vollziehen die Herzganglien noch stundenlang ihre Function, den Herzschlag anzuregen. Am Darm beginnt die Bewegung am unteren Theile der Speiseröhre, und schreitet wurmförmig von oben nach unten fort, aber eine Welle ist noch nicht abgelaufen, so beginnt schon die nächste. Haben diese Darmbewegungen nicht die täuschendste Aehnlichkeit mit dem Kriechen eines Wurmes, bloss mit dem Unterschiede, dass der Wurm sich dadurch auf der Unterlage fortschiebt, während hier der Wurm befestigt ist,[56] und die (innere) Unterlage, die Speisemassen und die Fäces fortgeschoben werden, – sollte das eine Wille heissen dürfen und das andere nicht? – Der Tonus ist eine gelinde Muskelcontraction, welche unaufhörlich bei Lebzeiten an allen Muskeln stattfindet, selbst in Schlaf und Ohnmacht. Bei den der Willkür, dem Hirnwillen, unterworfenen Muskeln bewirkt ihn das Rückenmark, und es entstehen nur deshalb keine Bewegungen der Glieder, weil die Wirkungen der entgegengesetzten Muskeln (Antagonisten) sich aufheben. Wo daher keine entgegengesetzten Muskeln sind (wie z.B. bei den kreisförmigen Schliessmuskeln), da ist auch der Erfolg der Contraction deutlich, und kann nur durch starken Andrang der den Ausweg suchenden Massen überwunden werden. Der Tonus der Eingeweide, Arterien und Venen hängt vom Sympathicus ab und ist letzterer für die Blutcirculation durchaus nothwendig. – Was endlich die Absonderung und Ernährung betrifft, so können die Nerven dieselben theils durch Erweiterung und Verengerung der Capillargefässe, theils durch Spannung und Erschlaffung der endosmotischen Membranen, theils endlich durch Erzeugung von chemischen, elektrischen und thermischen Strömungen beeinflussen; alle solche Functionen werden ausschliesslich von untergeordneten Ganglien aus durch die allen Körpernerven beigemengten sympathischen Nervenfasern geleitet, die sich namentlich durch geringere Stärke vor den sensiblen und motorischen Fasern auszeichnen.

Die sichersten Beweise für die Unabhängigkeit des Gangliensystems liegen in Bidder's Versuchen mit Fröschen. Bei vollständig zerstörtem Rückenmark lebten die Thiere oft noch sechs, bisweilen zehn Wochen (mit allmälig langsamer werdendem Herzschlage). Bei Zerstörung des Gehirns und Rückenmarkes mit alleiniger Schonung des verlängerten Markes (zum Athmen) lebten sie noch sechs Tage; wenn auch dieses zerstört war, konnte man Herzschlag und Blutkreislauf noch bis in den zweiten Tag hinein beobachten. Die Frösche mit geschontem verlängertem Mark frassen und verdauten ihre Regenwürmer noch nach sechsundzwanzig Tagen, wobei auch die Urinabsonderung regelmässig vor sich ging.

Das Rückenmark (inclusive des verlängerten Markes) steht ausser dem schon erwähnten Tonus der willkürlichen Muskeln allen unwillkürlichen Bewegungen der willkürlichen Muskeln (Reflexbewegungen siehe Cap. V.) und den Athembewegungen vor. Letztere haben ihr Centralorgan im verlängerten Mark, und wirken zu diesen höchst complicirten Bewegungen nicht bloss ein grosser Theil der Spinalnerven,[57] sondern auch der n. phrenicus, aecessorius Willisii, vagus und facialis mit. Wenn auch der Hirnwille eine kurze Zeit lang im Stande ist, die Athembewegungen zu verstärken oder zu unterdrücken, so kann er sie doch nie ganz aufheben, da nach kleiner Pause der Rückenmarkswille wieder die Oberhand gewinnt.

Die Unabhängigkeit des Rückenmarkes vom Gehirn ist ebenfalls durch schöne physiologische Versuche nachgewiesen. Eine Henne, welcher Flourens das ganze grosse Gehirn fortgenommen hatte, sass zwar für gewöhnlich regungslos da; aber beim Schlafen steckte sie den Kopf unter den Flügel, beim Erwachen schüttelte sie sich und putzte sich mit dem Schnabel. Angestossen lief sie geradeaus weiter, in die Luft geworfen flog sie. Von selbst frass sie nicht, sondern verschluckte nur das in den Gaumen geschobene Futter. Voit wiederholte diese Versuche an Tauben; dieselben verfielen zunächst in tiefen Schlaf, aus dem sie erst nach einigen Wochen erwachten; dann aber flogen sie und bewegten sich von selbst, und benahmen sich so, dass man an dem Vorhandensein ihrer Sinnesempfindungen nicht zweifeln konnte, nur dass ihnen der Verstand fehlte, und sie nicht freiwillig frassen. Als z.B. eine Taube mit dem Schnabel an eine aufgehängte hölzerne Fadenspule stiess, liess sie es sich über eine Stunde lang bis zu Voit's Dazwischenkunft gefallen, dass die pendelnde Spule immer von neuem gegen ihren Schnabel stiess. Dagegen sucht eine solche Taube der nach ihr greifenden Hand zu entschlüpfen, beim Fliegen Hindernissen sorgfältig auszuweichen und weiss sich geschickt auf schmalen Vorsprüngen niederzulassen. Kaninchen und Meerschweinchen, denen das grosse Gehirn ausgenommen, laufen nach der Operation frei umher; das Benehmen eines geköpften Frosches war schoß oben erwähnt. Alle diese Bewegungen, wie das Schütteln und Putzen der Henne, das Herumlaufen der Kaninchen und Frösche erfolgen ohne merklichen äussern Reiz, und sind den nämlichen Bewegungen bei gesunden Thieren so völlig gleich, dass man unmöglich in beiden Fällen eine Verschiedenheit des ihnen zu Grunde liegenden Princips annehmen kann; es ist eben hier wie dort Willensäusserung. Nun wissen wir aber, dass das höhere thierische Bewusstsein von der Integrität des grossen Gehirns bedingt ist (siehe Cap. C. II.), und da dieses zerstört ist, sind auch jene Thiere, wie man sagt, ohne Bewusstsein, handeln also unbewusst und wollen unbewusst. Indessen ist das Hirnbewusstsein keineswegs das einzige Bewusstsein im Thiere, sondern nur das höchste, und das einzige, was in höheren Thieren und dem Menschen zum Selbstbewusstsein,[58] zum Ich kommt, daher auch das einzige, welches ich mein Bewusstsein nennen kann. – Dass aber auch die untergeordneten Nervencentra ein Bewusstsein, wenn auch von geringerer Klarheit, haben müssen, geht einfach aus dem Vergleich der allmälig absteigenden Thierreihe und des Ganglienbewusstseins der wirbellosen Thiere mit den selbstständigen Ganglien und Rückenmarkscentralstellen der höheren Thiere hervor.

Es ist unzweifelhaft, dass ein des Gehirns beraubtes Säugethier immer noch klareren Empfindens fähig ist, als ein unversehrtes Insect, weil das Bewusstsein seines Rückenmarkes jedenfalls immer noch höher steht, als das der Ganglien des Insects. Demnach ist der in den selbstständigen Functionen des Rückenmarkes und der Ganglien sich documentirende Wille keineswegs ohne Weiteres als unbewusst an sich hinzustellen, vielmehr müssen wir vorläufig annehmen, dass er für die Nervencentra, von denen er ausgeht, gewiss klarer oder dunkler bewusst werde; dagegen ist er in Bezug auf das Hirnbewusstsein, welches der Mensch ausschliesslich als sein Bewusstsein anerkennt, allerdings unbewusst, und es ist damit gezeigt, dass in uns ein für uns unbewusster Wille existirt, da doch diese Nervencentra alle in unserem leiblichen Organismus, also in uns, enthalten sind.A19

Es scheint erforderlich, hier zum Schluss eine Bemerkung anzufügen über die Bedeutung, in der hier das Wort Willen gefasst ist. Wir sind davon ausgegangen, unter diesem Wort eine bewusste Intention zu verstehen, in welchem Sinne dasselbe gewöhnlich verstanden wird. Wir haben aber im Laufe der Betrachtung gefunden, dass in Einem Individuum, aber in verschiedenen Nervencentren mehr oder weniger von einander unabhängige Bewusstseine und mehr oder weniger von einander unabhängige Willen existiren können, deren jeder höchstens für das Nervencentrum bewusstsein kann, durch welches er sich äussert. Hiermit hat sich die gewöhnliche beschränkte Bedeutung von Wille selbst aufgehoben, denn ich muss jetzt auch noch anderen Willen in mir anerkennen, als solchen, welcher durch mein Gehirn hindurchgegangen und dadurch mir bewusst geworden ist. Nachdem diese Schranke der Bedeutung gefallen, können wir nicht umhin, den Willen nunmehr als immanente Ursache jeder Bewegung in Thieren zu fassen, welche nicht reflectorisch erzeugt ist. Auch möchte dies das einzige charakteristische und unfehlbare Merkmal für den uns bewussten Willen sein, dass er Ursache der vorgestellten Handlung ist; man sieht nunmehr, dass es etwas für den[59] Willen zufälliges ist, ob er durch das Hirnbewusstsein hindurchgeht oder nicht, sein Wesen bleibt dabei unverändert. Was durch das Wort »Wille« also hier bezeichnet wird, ist nichts als das in beiden Fällen wesensgleiche Princip. Will man aber beide Arten Wille in der Bezeichnung noch besonders unterscheiden, so bietet für den bewussten Willen die Sprache bereits ein diesen Begriff genau deckendes Wort: Willkür, während das Wort Wille für das allgemeine Princip beibehalten werden muss. Der Wille ist bekanntlich die Resultante aller gleichzeitigen Begehrungen; vollzieht sich dieser Kampf der Begehrungen im Bewusstsein, so erscheint er als Wahl des Resultats, oder Willkür, während die Entstehung des unbewussten Willens sich dem Bewusstsein entzieht, folglich auch der Schein der Wahl unter den Begehrungen hier nicht eintreten kann. Man sieht aus dem Vorhandensein dieses Wortes Willkür, dass die Ahnung eines Willens von nicht erkorenem Inhalt oder Ziel, dessen Handlungen dann also dem Bewusstsein nicht als frei, sondern als innerer Zwang erscheinen, im Volksbewusstsein auch schon längst vorbanden war.

Es ist nicht bloss die naheliegende Berufung auf die Vorgängerschaft Schopenhauer's und auf die weitverbreitete Anerkennung (selbst im Auslande), zu welcher dessen Gebrauch des Wortes Wille bereits gelangt ist, sondern auch die Erwägung, dass kein anderes in der deutschen Sprache übliches Wort besser geeignet ist, das allgemeine Princip zu bezeichnen, um welches es sich hier und in dem Folgenden handelt. Das »Begehren« ist noch ein unfertiges, erst in der Bildung begriffenes, weil einseitiges und noch nicht die Probe des Widerstandes anderer Begehrungen überstanden habendes Wollen, es ist nur ein Glied aus der psychologischen Werkstatt des Wollens, nicht der endgültige Gesammtausdruck der Bethätigung des ganzen Individuums (höherer oder niederer Ordnung), es ist nur eine Componente des Wollens, die in Folge der Paralysirung durch entgegengesetzte andere Begehrungen dazu verurtheilt werden kann, Velleität zu bleiben. Wenn schon das »Begehren« nicht das »Wollen« ersetzen kann, so ist es der »Trieb« noch weniger im Stande, da er nicht nur an derselben Einseitigkeit und Partialität wie das Begehren leidet, sondern auch nicht einmal wie dieses den Begriff der Actualität in sich schliesst, vielmehr nur die latente Disposition zu gewissen einseitigen Richtungen der Bethätigung darstellt, welche, wenn sie in Folge eines Motivs zur Actualität hervortreten, nicht mehr Trieb sondern Begehrungen heissen. Jeder Trieb[60] bezeichnet also eine bestimmte Seite nicht des Wollens, sondern des Charakters, d.h. die Disposition desselben, auf gewisse Motivklassen mit Begehrungen von bestimmter Richtung zu reagiren (z.B. Geschlechtstrieb, Wandertrieb, Erwerbstrieb u.s.w. vergl. die phrenologischen »Triebe« oder »Grundvermögen«). Als specifische Charakteranlagen gelten die Triebe mit Recht als die innern Triebfedern des Handelns, wie die Motive als die äussern. Der Trieb hat also als solcher nothwendig einen bestimmten concreten Inhalt, welcher durch die physischen Prädispositionen der allgemeinen Körperconstitution und der molecularen Constitution des Centralnervensystems bedingt ist; der Wille hingegen steht als allgemeines formelles Princip der Bewegung und Veränderung überhaupt hinter den concreten Dispositionen, welche, als durchlebt von dem Willen gedacht, Triebe genannt werden, und bethätigt sich in dem resultirenden Wollen, das seinen specifischen Inhalt eben durch jenen angedeuteten psychologischen Mechanismus der Motive, Triebe und Begehrungen erhält (vgl. Cap. B. IV.). Wenngleich sich dieser Mechanismus in niederen Thieren und in den untergeordneten menschlichen Centralorganen im Verhältniss zu dem im menschlichen Gehirn vereinfacht, so ist er doch vorhanden, und namentlich bei den Reflexbewegungen leicht kenntlich. Auch bei den selbstständigen Functionen des Rückenmarks und der Ganglien kann man sehr wohl z.B. die durch Ererbung angeborene materielle Prädisposition des verlängerten Marks zu Vermittlung der Athembewegungen einen »Athmungstrieb« nennen, wenn man nur nicht vergisst, dass hinter dieser materiellen Disposition das Princip des Willens steht, ohne welches sie so wenig in Function treten würde, wie etwa die angeborene Hirndisposition für das Mitleid, und dass die Ausübung der Athembewegungen selbst ein wirkliches Wollen ist, dessen Richtung und Inhalt durch jene Prädisposition mit bedingt ist.A20[61]

A18

S. 54 Z. 3 v. u. (Vgl. die drei letzten Seiten im dritten Theile dieses Werkes.)

A19

S. 59 Z. 21. Genauere Darlegungen über die selbstständigen Functionen der niederen Nervencentra findet man in dem Anhang »Zur Physiologie der Nervencentra«; die Betrachtung beschränkt sich in diesem Anhang nicht auf das Rückenmark, sondern erstreckt sich auch auf die relative Selbstständigkeit der niederen und mittleren Hirntheile gegenüber den Grosshirnhemisphären. In jedem dieser Hirntheile bestehen Empfindungen, Anschauungen, vorbereitete Associationen und Prädispositionen zu bestimmten Reflexactionen; jeder dieser Hirntheile hat einen eigenen Willen, ein eigenes Vorstellungsleben und eigenes Gedächtniss. Unsre geistige Persönlichkeit ist in demselben Sinne ein kunstvoller organischer Stufenbau von übergeordneten und untergeordneten Bewusstseinssphären und Willenssphären, wie unser leiblicher Organismus ein Stufenbau von höheren und niederen Centralorganen des Nervensystems ist. Schon im Traume des normalen Schlafes treten andere Hirntheile für die ruhebedürftigen Theile des Grosshirns ein, und unser Ich oder Selbstbewusstsein, welches immer an dem höchsten, jeweilig in Thätigkeit befindlichen Centrum haftet, wandert oder steigt von diesen zu anderen Hirntheilen hinab. In noch höherem Maasse ist dies der Fall in den verschiedenen somnambulen Bewusstseinszuständen dem des gewöhnlichen Somnambulismus und dem des (neuerdings von Pierre Janet bestätigten) Hochschlafs oder Tiefschlafs; es treten dann die für gewöhnlich latenten subordinirten Bewusstseinssphären für andere Beobachter zu Tage, indem die Reflexhemmungen des Grosshirns aufhören und die mittleren Hirntheile über die Sinneswerkzeuge, das Sprachorgan und die willkürlichen Muskeln freie Verfügung und damit die Möglichkeit selbstständiger Kundgebungen bekommen. (Vgl. Dessoir »Das Doppel-Ich« Leipzig, Günther 1889.)

A20

S. 61 letzte Z. Diese Bemerkungen dürften hinreichen, um es zu rechtfertigen, dass für die Bezeichnung des allen Kundgebungen des Willensgebietes unzweifelhaft zu Grunde liegenden einheitlichen Princips kein anderer Ausdruck gewählt worden ist als »Wille«. Diese schon von Schopenhauer richtig getroffene Bezeichnung konnte nur deshalb so lange Zeit auf so heftige Abneigung bei der Schulphilosophie stossen, weil die Psychologie derselben ganz auf das Gebiet bewusster Seelenthätigkeit beschränkt war, und dieses als etwas specifisch Höheres und Anderes von seinem unbewussten Naturgrunde loszulösen bemüht war, so dass die Erweiterung einer zunächst aus dem bewussten Seelenleben entlehnten Bezeichnung auf unbewusst psychische Functionen ihr als ein Verbrechen an der Majestät des künstlich von der Natur lospräparirten Geistes erschien. Je mehr die Lehre von der Wesensgleichheit des bewussten Geistes mit der unbewussten Natur neuerdings um sich gegriffen hat, desto mehr Anhänger und Nachfolger hat auch Schopenhauer's Gebrauch des Ausdrucks Wille gefunden (vgl. Göring: »System der kritischen Philosophie«, Leipzig, bei Voit & Co., 1874, Theil I Cap. III, besonders S. 68-71, wo verschiedene Einwände gegen den Begriff des unbewussten Willens widerlegt werden). * Insbesondere mehren sich neuerdings die Fälle, dass Philosophen, die sich im Ganzen ablehnend gegen Schopenhauer verhalten, sich dennoch seine Verallgemeinerung des Willensbegriffes aneignen (z.B. Wundt, Stricker).

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 49,62.
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Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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