[295] Ich muss bei dieser Betrachtung den sogenannten Schopenhauer'schen Pessimismus als bekannt voraussetzen (siehe: Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I. §. 56-59, Bd. II. Cap. 46, Parerga, 2. Aufl. Bd. I. S. 430-39 und Bd. II. Cap. XI. und XII.) und bitte die angeführten Abschnitte einmal in der bezeichneten Reihenfolge durchzulesen, was bei Schopenhauer's pikantem Styl ein Ansuchen ist, für das mir der noch damit unbekannte Leser gewiss Dank wissen wird. In wie weit ich von den dort angenommenen Auffassungen abweiche, geht grösstentheils schon aus früher Gesagtem hervor. Der (Welt als W. und V. 3. Aufl. Bd. II. S. 667-668) versuchte Beweis, dass diese Welt die schlechteste unter allen möglichen sei, ist ein offenbares Sophisma; überall sonst will auch Schopenhauer selbst nichts weiter behaupten und beweisen, als dass das Sein dieser Welt schlimmer sei als ihr Nichtsein, und diese Behauptung halte ich für richtig. Das Wort Pessimismus ist also eine unangemessene Nachbildung des Wortes Optimismus. – So nutzlos ich ferner die Versuche des Leibniz erachten musste, zur Rettung der Allweisheit und der bestmöglichen Welt das Elend der Welt wegzudemonstriren, so wenig kann ich es billigen, dass Schopenhauer die Weisheit der Welteinrichtung über dem Elend der Welt so sehr übersieht, und wenn er sie auch nicht ganz läugnen kann, doch möglichst unbeachtet lässt und gering schätzt. – Alsdann verwahre ich mich gegen den Begriff der Schuld, welchen Schopenhauer in die Weltschöpfung hineinträgt. Schon mehrmals habe ich mich gegen einen transcendenten Gebrauch ethischer Begriffe ausgesprochen, weil diese nur für Bewusstseinsindividuen im Verkehr mit Bewusstseinsindividuen eine Bedeutung haben. Nur das kann ich mit Schopenhauer aus dem Elend des Daseins folgern, dass die Weltschöpfung ihren ersten Ursprung einem unvernünftigen Acte verdankt, d.h. einem solchen, bei welchem die Vernunft nicht mitgewirkt hat, also dem blossen grundlosen Willen. – Endlich aber habe ich noch Schopenhauer's falsche Benutzung des Begriffes der Negativität hervorzuheben. Wie nämlich Leibniz der[295] Unlust, so will Schopenhauer der Lust einen ausschliesslich negativen Charakter beilegen, zwar nicht ganz in dem privativen Sinne wie Leibniz, aber doch so, dass der Schmerz allein das direct Entstehende sein, die Lust aber nur indirect, durch Aufhebung oder Verminderung des Schmerzes möglich werden soll. Nun beabsichtige ich nicht im mindesten, zu bestreiten, dass jede Aufhebung oder Verminderung eines Schmerzes eine Lust ist, aber nicht jede Lust ist eine Aufhebung oder Verminderung des Schmerzes, und umgekehrt gilt es gerade so gut, dass die Aufhebung oder Verminderung der Lust eine Unlust ist.
Allerdings findet dabei schon eine Einschränkung statt, welche zu Gunsten des Schmerzes wirkt. Nämlich Lust wie Schmerz greifen das Nervensystem an, und bringen dadurch eine Art Ermüdung hervor, welche bei den höchsten Graden der Lust zur tödtlichen Erschlaffung werden kann. Hieraus ergiebt sich ein mit der Dauer und dem Grade des Gefühles wachsendes Bedürfniss, d.h. ein (bewusster oder unbewusster) Wille, das Aufhören oder Nachlassen des Gefühles eintreten zu lassen; bei der Unlust wirkt dieses aus dem Angriff auf die Nerven stammende Bedürfniss mit dem directen Widerwillen gegen die Ertragung eines Schmerzes zusammen, bei der Lust dagegen wirkt er der directen Begierde nach Festhaltung der Lust entgegen, und vermindert dieselbe allemal, ja er kann sie zuletzt überwiegen (man denke an die Erschöpfung im Geschlechtsgenuss). Der Schmerz wird (abgesehen von völliger Nervenabstumpfung durch grosse Schmerzen) um so schmerzlicher, die Lust um so gleichgültiger und überdrüssiger, je länger sie dauert.A64
Hier liegt schon der erste Grund versteckt, warum bei völlig gleichschwebender Waage für das Maass der directen Lust und Unlust in der Welt durch die hinzukommende Nervenaffection zu Gunsten des Schmerzes der Ausschlag gegeben werden würde. – Indem aber ferner durch dieses hinzukommende Bedürfniss des Nachlassens in Bezug auf jedes andauernde Gefühl die indirecte (d.h. durch Aufhören einer Lust entstandene) Unlust relativ vermindert, dagegen die indirecte (d.h. durch Aufhören einer Unlust entstandene) Lust relativ vermehrt wird, zeigt sich schon a priori, dass ein verhältnissmässig viel grösserer Theil der Lust, als der Unlust in der Welt auf eine indirecte Entstehung aus dem Nachlassen seines Gegentheiles hinweist. Da es nun aber, wie sich aus dieser ganzen Untersuchung ergeben wird, wahr ist, dass im Ganzen[296] weit mehr Schmerz, als Lust in der Welt ist, so ist es kein Wunder, dass in der That durch das Nachlassen dieses Schmerzes schon der bei Weitem grösste Theil aller Lust, der man in der Welt begegnet, seine genügende Erklärung findet, und für directe Entstehung nur wenig Lust mehr übrig bleibt.
Mithin kommt es für die Praxis nahezu auf das heraus, was Schopenhauer behauptet (nämlich dass die Lust indirecte Entstehung habe, und der Schmerz directe); dies darf aber die principielle Auffassung nicht alteriren, denn es ist und bleibt unbestreitbar, dass es auch Lust giebt, welche nicht durch Nachlassen eines Schmerzes entsteht, sondern sich positiv über den Indifferenzpunct der Empfindung erhebt; man denke an die Genüsse des Wohlgeschmackes und die der Kunst und Wissenschaft, welche letzteren Schopenhauer wohlweislich, weil sie ihm nicht in seine Theorie der Negativität der Lust passten, hinauswarf und als schmerzlose Freuden des willensfreien Intellectes behandelte, – als ob der willensfreie Intellect noch geniessen könnte, als ob es eine Lustempfindung geben könnte, ohne einen Willen, in dessen Befriedigung sie besteht! Wenn wir nicht umhin können, den Wohlgeschmack, den Geschlechtsgenuss rein physisch genommen und abgesehen von seinen metaphysischen Beziehungen, und die Genüsse der Kunst und Wissenschaft als Lustempfindungen in Anspruch zu nehmen, wenn wir zugeben müssen, dass dieselben ohne einen vorherigen Schmerz, ohne ein vorheriges Sinken unter den Indifferenzpunct oder Nullpunct der Empfindung sich positiv über denselben erheben; wenn wir endlich an unserem Principe festhalten, dass die Lust nur in der Befriedigung eines Begehrens bestehe, so muss nothwendig Schopenhauer's Behauptung falsch sein, dass die Lust nur ein Nachlassen oder Aufhören des Schmerzes sei.
Nun sagt er aber zum Beweise derselben: der Wille ist, so lange er besteht, unbefriedigt, denn sonst bestände er ja nicht mehr, der unbefriedigte Wille aber ist Mangel, Bedürfniss, Unlust; wird er nun befriedigt, so wird diese Unlust aufgehoben, und darin besteht diese Befriedigung oder Lust; eine andere giebt es nicht. Dies Argument scheint unwiderleglich und doch ist seine Consequenz wie gezeigt, im Widerspruch mit der Erfahrung. Die Vermittelung und Vereinbarung ergiebt sich leicht, wenn man sich den Genuss des Wohlgeschmackes oder einen Kunstgenuss näher darauf ansieht und sich fragt, wo denn der Wille stecken sollte, der, so lange er unbefriedigt ist, Unlust ist. Es ist weder eine Unlust, noch ein unbefriedigt[297] existirender Wille aufzufinden.A65 Es bleibt also nichts übrig, als anzunehmen, dass der Wille in demselben Moment erst hervorgerufen werde, wo er auch schon befriedigt wird, so dass zu seiner unbefriedigten Existenz keine Zeit vorhanden ist. Dies stimmt damit überein, dass es ja ein und dasselbe ist, was den Willen motivirt (erregt) und was ihn befriedigt, wie man sich sofort überzeugen kann wenn man einen übelschmeckenden Bissen zwischen wohlschmeckenden geniesst, oder wenn in einem Musikstück fehlerhafte Dissonanzen gegriffen werden; dann wird nämlich der Wille zwar motivirt (erregt), aber er wird nicht befriedigt, und nun ist sofort die Unlust da. Hier an dem Willen, der im Entstehen sofort der ihn wieder vernichtenden Befriedigung anheimfällt, zeigt sich nun auch deutlich, dass die Lust der Befriedigung allerdings etwas ganz Positives, nicht aus der Verminderung des Schmerzes direct und allein Hervorgehendes ist, dass vielmehr selbst die bei der Verminderung des Schmerzes sich zeigende indirecte Lust verstanden werden muss als directe Befriedigung des Willens, den Schmerz los zu werden. Hätte Schopenhauer nicht das Vorurtheil von dem willensfreien. Gemessen des Intellectes an diese Betrachtung mit herangebracht, so hätte er dieses Verhältniss wohl erkannt und wäre nicht bei seiner Auffassung der Negativität der Lust stehen geblieben.
Das Alles aber hätte vielleicht noch nicht genügt, um diese Ueberzeugung in ihm festzustellen, wenn nicht zu seiner Entschuldigung noch Eins hinzukäme. Wir haben Cap. C. III. S. 43-45 gesehen, dass die Nichtbefriedigung des Willens zwar ihrer Natur nach immer bewusst werden muss, die Befriedigung aber keineswegs unmittelbar, sondern nur dann, wenn der bewusste Verstand sich durch Vergleichung mit entgegengesetzten Erfahrungen zum Bewusstsein bringt, dass auch die Befriedigung von äusseren Umständen abhängig und nichts weniger als eine unmittelbare und unfehlbare Consequenz des Willens ist. Ich bitte die daselbst angeführten Beispiele noch einmal nachlesen zu wollen, um die Wiederholung an dieser Stelle zu ersparen.
Besondere Beachtung verdient es, dass man bei dem gesammten Pflanzenreich und den niederen Stufen des Thierreiches den Grad von fertigem Bewusstsein, welcher zur Vergleichung von Erfahrungen Uni Anerkennung ihrer Abhängigkeit von äusseren Ursachen gehört, nicht voraussetzen darf, dass man demnach dieselben auch keines Bewusstwerdens von Willensbefriedigungen, also keiner Lustempfindungen[298] fähig erachten darf, während Schmerz und Unlust sich auch dem dumpfesten Bewusstsein mit unerbittlicher Nothwendigkeit aufdringen. Aber selbst höhere Thiere dürften im Allgemeinen sich viel wenigerer Willensbefriedigungen bewusst werden, als man gewöhnlich nach menschlicher Analogie anzunehmen geneigt ist. Was den Menschen selbst betrifft, so werden auch ihm, da natürlich nicht jeder Mensch in jedem Moment einer kleinen Willensbefriedigung sich zu Vergleichen mit entgegengesetzten Erfahrungen nöthigt, im Allgemeinen nur solche Willensbefriedigungen bewusst, d.h. als Lust empfunden, deren begleitende Umstände den Menschen ohne sein Zuthun auf den Contrast mit entgegengesetzten Erfahrungen hinweisen, z. B, ungewöhnliche, seltene, sei es ihrer Art oder ihrem Grade nach, oder solche, welche durch Ideenassociation an entgegengesetzte Erfahrungen, sei es fremde, sei es frühere eigene, erinnern.
Alle zur Gewohnheit und Regel gewordenen Willensbefriedigungen werden immer weniger als solche, d.h. als Lust empfunden, je weniger sie noch die Erinnerung an entgegengesetzte Erfahrungen aufkommen lassen. Es ist klar, dass der bei Weitem grössere Theil (nicht dem Grade sondern der Anzahl nach) der Willensbefriedigungen dadurch dem Bewusstsein verloren geht, während die Nichtbefriedigungen unverkürzt empfunden werden. Daher sagt Schopenhauer ganz richtig (Welt als W. u. V. 3. Aufl. Bd. II. S. 657): »Wir fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und Durst fühlen; sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da er verschluckt wird, für unser Gefühl da zu sein, aufhört. Genüsse und Freuden vermissen wir schmerzlich, sobald sie ausbleiben; aber Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermisst, sondern höchstens wird absichtlich vermittelst der Reflexion ihrer gedacht. In dem Maasse, als die Genüsse zunehmen, nimmt die Empfänglichkeit für sie ab, das Gewohnte wird nicht mehr als Genuss empfunden. Eben dadurch aber nimmt die Empfänglichkeit für das Leiden zu; denn das Wegfallen des Gewohnten wird schmerzlich gefühlt.« – (Parerga, 2. Aufl. Bd. II. S. 312): »Wie wir die Gesundheit unseres ganzen Leibes nicht fühlen, sondern nur die kleine Stelle, wo uns der Schuh drückt, so denken wir auch nicht an unsere gesammten, vollkommen wohl gehenden Angelegenheiten, sondern an irgend eine unbedeutende Kleinigkeit, die uns verdriesst.« Falsch aber ist es, wenn er hinzufügt: »Hierauf beruht die von mir öfter hervorgehobene Negativität[299] des Wohlseins und Glücks, im Gegensatz der Positivität des Schmerzes.« Allerdings existirt für das Bewusstwerden von Lust und Schmerz ein gewisses Analogon dieser Begriffe, insofern der Schmerz von sich allein, die Lust aber nur im Gegensatz zur Vorstellung des Schmerzes bewusst wird; allerdings sind die Wirkungen häufig dieselben, als ob die Schopenhauer'sche Auffassung der Negativität der Lust richtig wäre, dennoch aber ist zwischen beiden ein himmelweiter Unterschied, und es bleibt im Princip stehen, dass Lust und Schmerz im Allgemeinen sich wie das mathematische Positive und Negative unterscheiden, d.h. so, dass es gleichgültig ist, welches Vorzeichen man dem Einen, welches dem Anderen giebt.
Es hat sich wieder einmal recht deutlich gezeigt, wie unendlich viel fruchtbarer als blosse Kritik das Nachdenken über die Gründe ist, durch welche grosse Männer zu falschen Hypothesen verleitet sind. Indem wir nämlich die Hypothese von der Negativität der Lust ebenso unrichtig als die des Leibniz von der Negativität des Uebels fanden, haben wir zugleich drei Momente erfasst, deren jedes zu Gunsten des Schmerzes in unsere Waagschale fällt, und welche in ihrer Vereinigung practisch fast dasselbe Resultat geben, wie die Schopenhauer'sche Theorie; es sind dies 1) die Erregung und Ermüdung der Nerven und das daraus entspringende Bedürfniss nach dem Aufhören des Genusses, wie des Schmerzes; 2) die Notwendigkeit, alle Lust als indirecte zu berücksichtigen, welche nur durch Aufhören oder Nachlassen einer Unlust, aber nicht durch momentane Befriedigung eines Willens im Augenblick der Erregung desselben entsteht; 3) die Schwierigkeiten, welche dem Bewusstwerden der Willensbefriedigung entgegenstehen, während die Unlust eo ipso Bewusstsein erzeugt; – wir können hinzufügen: 4) die kurze Dauer der Befriedigung, die wenig mehr als ein ausklingender Augenblick ist, während die Nichtbefriedigung so lange, wie der actuelle Wille währt, also, da es kaum einen Moment giebt, wo nicht ein actueller Wille vorhanden wäre, so zu sagen, ewig ist, und nur allenfalls limitirt durch die Befriedigung, welche die Hoffnung gewährt.
Der erste Punct beruht auf der Natur des organischen Lebens speciell der Nervenfunctionen als Grundlage des Bewusstseins, die letzten drei Puncte ergeben sich unmittelbar aus der Natur des Willens selbst. Die letzteren gelten daher ohne Weiteres nicht bloss für unsere Welt, sondern für jede Welt, die als Objectivation des[300] Willens nur irgend möglich ist. Aber auch der erste Punct wird überall zur Geltung kommen, wo es sich um eine Bilanz zwischen Lust und Unlust handelt; denn da die Lust nur durch den Contrast mit der Unlust in einem bereits hoch entwickelten Bewusstsein zu Stande kommen kann, ein Bewusstsein aber wiederum Individuation mit Hülfe der Materie oder eines Analogons derselben voraussetzt, so wird auch in jeder andern als Willensobjectivation denkbaren Welt an diesem Analogon der Materie das Gesetz der Ermüdung und die daraus entspringende Abstumpfung der Lust sich geltend machen. Wir können hiernach alle vier Puncte als nothwendige Folgen aus der Natur des Willens in Bezug auf Lust und Unlust ansehen, und haben in ihnen die ewigen Schranken zu erkennen, welchen das Unbewusste bei jedem Versuch einer Weltschöpfung begegnen muss, und welche es a priori unmöglich machen, eine Welt zu schaffen, in welcher die Unlust von Lust überwogen würde. Es haben aber diese vier Puncte auch die weitere Bedeutung, in dem Fortgang unserer aposteriorischen Untersuchungen bei jedem speciellen Gegenstand der Betrachtung als ein objectives Correctiv der mitgebrachten instinctiven Vorurtheile dienen zu können, in ähnlichem Sinne, wie die obige Angabe der wichtigsten subjectiven Fehlerquellen (S. 291-292) als subjectives Correctiv. Ich bitte deshalb den Leser, diese ebenso wie jene beständig vor den Augen zu behalten.
Dem zweiten der vier Puncte müssen wir noch einige Berücksichtigung schenken. Wenn wir Beispiele solcher Lustempfindungen suchen, welche nur in einem Aufhören oder Nachlassen der Unlust bestehen, so ist sorgfältig darauf zu achten, dass man nicht solche Fälle mit hineinzieht, wo die Lust noch durch eine anderweitig hinzukommende Willensbefriedigung verstärkt wird, wie z.B. zur Befriedigung des Hungers und Durstes der Wohlgeschmack der Speisen und die kühlende Erquickung des Trankes, zur Stillung der Liebessehnsucht der physische Geschlechtsgenuss hinzukommt. Reine Beispiele sind für das sinnliche Gebiet ein nachlassender Zahnschmerz, für das geistige die Genesung eines Freundes aus tödtlicher Krankheit. So wie man solche reine Beispiele betrachtet, wird kein Mensch mehr zweifelhaft sein, dass die durch Aufhören der Unlust entstehende Lust sehr viel geringer ist, als jene Unlust war, gerade wie umgekehrt die durch Aufhören einer Lust entstehende Unlust weit geringer als jene Lust ist.
Diese Erscheinung könnte im ersten Augenblick überraschen,[301] da man die Stärke des Gefühles nur von dem Grade der Aenderung nicht aber von der Lage des Anfangs- oder Endpunctes der Veränderung zum Indifferenzpuncte der Empfindung als abhängig betrachtet, jedoch erklärt sich dieselbe meines Erachtens bei der aufhörenden Unlust aus dem die Lust beeinträchtigenden nachwirkenden Aerger, dass man die Unlust so lange habe ertragen müssen; man fühlt sich gleichsam seinem Schicksale für die Befreiung vom Schmerz weniger zum Dank verpflichtet, als für die Auflegung des Schmerzes zum Murren und Rechenschaftfordern berechtigt, weil die ganze Bewegung unterhalb des Indifferenzpunctes vor sich ging, während bei der aufhörenden Lust das durch Ermüdung abgestumpfte Interesse gegen die Beendigung des Genusses gleichgültiger macht. Gemäss dieser Erklärung tritt jene Schmälerung der Lust im Verhältniss zu der Unlust, in deren Aufhören sie besteht, nur dann ein, wenn der Umstand, dass die ganze Bewegung unterhalb des Nullpunctes der Empfindung vor sich gegangen ist, auch wirklich in's Bewusstsein fällt. Je weniger das Bewusstsein des Betheiligten die Bewegung unterhalb den Nullpunct der Empfindung verlegt, desto mehr wird factisch die Lust dem Grade nach der Unlust gleich, in deren Aufhören sie besteht. Dies ist bei sinnlichem Schmerz am wenigsten möglich, daher sich Niemand auf die Folter spannen lassen wird, um das Vergnügen des Aufhörens der Schmerzen zu geniessen; auf geistigem Gebiet aber ist der Kampf mit der Noth und die Freude über jeden errungenen, die nächste Zukunft sichernden Sieg der Beweis davon. Sobald sich die Menschen klar machen werden, dass diese Freude zu der vorangehenden Sorge sich nicht anders verhält, wie das Nachlassen der Schmerzen zu den Folterqualen, und dass diese Bewegung ebenso wie jene völlig unterhalb des Nullpunctes der Empfindung fällt, sobald werden sie auch jene Siege über die Noth so wenig mehr geniessen, wie der Gefolterte das Nachlassen der Stricke geniesst.
Was man heutzutage das Gespenst der Massenarmuth nennt, ist nichts als dies in den Massen auftauchende Bewusstsein, dass der Kampf mit der Noth, die Sorge und ihre Linderung ganz auf der negativen (Schmerz-) Seite des Nullpunctes der Empfindung liegt, während früher, wo die Massenarmuth zehnmal grösser war, dies Bewusstsein fehlte und die Leute ihre Armuth wie von Gottes Gnaden trugen. Auch wieder ein Beweis, wie die fortschreitende Intelligenz die Menschen unglücklich macht. – Dieser Kampf der Menschen mit der Noth ist aber erst Ein Beispiel; wenn man sich[302] unter den möglichen Freuden der Welt umsieht, so wird man jedoch sehr bald gewahren, dass mit Ausnahme der physisch-sinnlichen, der ästhetischen und der wissenschaftlichen Genüsse kaum ein Glück zu gewähren ist, welches nicht auf der Befreiung von einer vorangegangenen Unlust beruhte, ganz besonders aber wird dies für grosse, lebhafte Freuden gelten. Voltaire sagt: »il n'est de vrais plaisirs qu'avec de vrais besoins.«
Es schliesst sich hieran unmittelbar die interessante Frage an, ob denn überhaupt die Lust ein aufwiegendes Aequivalent für den Schmerz sein könne, und welcher Coefficient oder Exponent zu einem Grade der Lust gesetzt werden müsse, um einen gleichen Grad von Schmerz für das Bewusstsein aufzuwiegen. Schopenhauer stellt unter Anführung des Petrarca'schen Verses: »Mille piacer' non vagliono un tormento (Tausend Genüsse sind nicht Eine Qual werth)« die excentrische Behauptung auf, dass ein Schmerz überhaupt nie und durch keinen Grad von Lust aufgewogen werden könne, dass also eine Welt, in der überhaupt der Schmerz vorkommen könne, unter allen Umständen bei noch so überwiegendem Glück schlechter als das Nichts sei. Diese Ansicht dürfte wohl kaum Unterstützung finden; ob aber nicht insofern ein richtiger Kern in ihr liegt, als der zur Aequivalenz nöthige Coefficient durchaus nicht = 1 zu sein brauche, wie man gewöhnlich annimmt, das wäre wohl einer Betrachtung werth.
Wenn ich die Wahl habe, entweder gar nichts zu hören, oder erst fünf Minuten lang Misstöne und dann fünf Minuten lang ein schönes Tonstück zu hören, wenn ich die Wahl habe, entweder nichts zu riechen, oder erst einen Gestank und dann einen Wohlgeruch zu riechen, wenn ich die Wahl habe, entweder nichts zu schmecken, oder erst etwas schlecht Schmeckendes und dann etwas Wohlschmeckendes zu kosten, so werde ich mich auf alle Fälle zu dem Nichts-hören, -riechen und -schmecken entscheiden, auch dann, wenn die aufeinander folgende gleichartige Unlust- und Lustempfindung mir nach gleichem Grade bemessen scheinen, obwohl es freilich sehr schwer sein dürfte, die Gleichheit des Grades zu constatiren. Hieraus schliesse ich, dass die Lust dem Grade nach merklich grösser sein muss, als eine gleichartige Unlust, wenn beide sich für das Bewusstsein so aufwiegen sollen, dass man ihre Verbindung dem Nullpunct der Empfindung gleich setzt und sie demselben bei einer kleinen Erhöhung der Lust oder Erniedrigung der Unlust vorzieht. Wahrscheinlich schwankt übrigens dieser Coefficient[303] bei verschiedenen Individuen zwischen gewissen Grenzen, und dürfte nur seine mittlere Grösse grösser als 1 sein.A66
Ueber die dieser merkwürdigen Erscheinung zu Grunde liegenden Ursachen wage ich keine Vermuthungen aufzustellen. So viel ist gewiss, dass, wenn die Thatsache richtig ist, auch dieser Umstand zu Ungunsten eines überwiegenden Glückes in der Welt spricht, denn gesetzt den Fall, es wäre dann selbst die Lust- und Unlustsumme objectiv genommen einander gleich, so würde doch ihre Verbindung subjectiv unter dem Nullpunct stehen, wie die Verbindung eines Gestanks und eines Wohlgeruchs unter dem Nullpunct steht. Die Welt gleicht somit einer Geldlotterie: die eingesetzten Schmerzen muss man voll einzahlen, aber die Gewinne erhält man nur mit einem Abzug ausbezahlt, welcher der Differenz des constanten Coefficienten der Lust- und Unlustgleichung von 1 entspricht. Würde diese merkwürdige Ungleichwerthigkeit von Lust und Unlust, welche mir höchst wahrscheinlich vorkommt, von anderen Seiten bestätigt, so würde dieselbe sich den obigen vier Puncten als fünfter anschliessen. In diesem Sinne sagt Schopenhauer (Parerga II. 313): »Hiermit stimmt auch dies, dass wir in der Regel die Freuden weit unter, die Schmerzen weit über unserer Erwartung finden.« (S. 321): »Sehr zu beneiden ist Niemand, sehr zu beklagen Unzählige.« (W. a. W. u. V. II. 658): »Ehe man so zuversichtlich ausspricht, dass das Leben ein wünschenswerthes oder dankenswerthes Gut sei, vergleiche man einmal gelassen die Summe der nur irgend möglichen Freuden, welche ein Mensch in seinem Leben geniessen kann, mit der Summe der nur irgend möglichen Leiden, die ihn in seinem Leben treffen können. Ich glaube, die Bilanz wird nicht schwer zu ziehen sein.«
Es ist nun unsere Aufgabe, im Leben des Individuums nachzuforschen, ob die Summe der Lust oder der Unlust überwiegt, und ob in dem Individuum als solchem die Bedingungen gegeben sind, um unter den denkbar günstigsten Umständen in seinem Leben einen Ueberschuss der Lust über die Unlust zu erreichen. Da das zu betrachtende Feld zu gross zu einem gleichzeitigen Ueberschauen ist, so wollen wir uns die Lösung erleichtern, indem wir die Summe der Lust und Unlust nach den Hauptrichtungen des Lebens gesondert betrachten.A67 Immer aber muss während der künftigen Betrachtungen der Leser die vorangeschickten allgemeinen Bemerkungen im Sinne behalten, da die in denselben erwähnten Umstände fortwährend als wesentlich beschränkende Coefficienten der Lust in[304] Wirksamkeit sind, wohingegen sie den Schmerz entweder vollgültig bestehen lassen, oder gar noch vermehren.
A64 | S. 296 Z. 14 v. u. (Vergl. Taubert's »Pessimismus« S. 27-28.) |
A65 | S. 298 Z. 1. Oder wenn wirklich ein unbewusster Wille bestehen sollte, so ist er doch zu schwach, um durch seine Nichtbefriedigung sich bemerklich zu machen, und man muss daraus schliessen, dass dieser Grad von Willen erst recht zu schwach sein müsse, um sich durch seine Befriedigung bemerklich zu machen. |
A66 | S. 304 Z. 2. (Vgl. meinen Aufsatz »Das Compensationsäquivalent von Lust und Unlust« in der Schrift »Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus«, 2. Auflage.) |
A67 | S. 304 Z. 4 v. u. (Vgl. meinen Aufsatz »Die Möglichkeit der Empfindungsbilance« in den »Phil. Fragen der Gegenwart« Bd I Nr. V 2.) |
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
|
Buchempfehlung
Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro