[335] Schon im Cap. B. IX. haben wir erwähnt, dass die Erhebung des religiösen Gefühles in der Andacht und Erbauung, welche stets mehr oder weniger mystischer Natur ist, eine so hohe Beseligung zu gewähren im Stande ist, dass sie über alle Erdenleiden hinwegsetzt. Aber erstens sind diese hohen Grade der Erhebung selten, denn sie können, da sie wesentlich mystischer Natur sind, nicht durch Fleiss und Mühe erworben werden, sondern setzen eine Anlage, ein Talent dazu voraus, so gut wie der Kunstgenuss, und zweitens sind sie, wie jede Lust, nicht, ohne eigenthümliche Unlust mitzubringen. Man versteht dies am besten, wenn man das Leben der Büsser und Heiligen darauf ansieht. Die höchsten Grade religiöser Erhebung sind kaum denkbar, ohne eine lange fortgesetzte Abtödtung des »Fleisches«, d.h. nicht nur der sinnlichen Begierden, sondern aller weltlichen Lüste überhaupt. Selten wird diese Entsagung von dem Bewusstsein der illusorischen Beschaffenheit der irdischen Lust und des Ueberwiegens der aus dem irdischen Verlangen gleichzeitig hervorgehenden Unlust getragen, denn dazu gehört schon Philosophie, sondern meistens wird die Verzichtleistung auf irdisches Glück als ein wahres Opfer empfunden, durch welches das höhere mystische religiöse Glück erkauft werden soll, so dass der Betreffende das Bedauern über den Verlust des irdischen Glückes an sich eigentlich nie los wird. Aber wie dem auch sei, die lange unterdrückten natürlichen Triebe bäumen sich von Zeit zu Zeit nur um so mächtiger auf, und die Heftigkeit der Kämpfe, welche die Entsagenden in freilich immer selteneren, aber immer gewaltigeren Rückfällen zu bestehen haben, giebt für die Grösse der von ihnen um des Himmelreiches willen erlittenen Qualen Zeugniss, bis endlich Gewohnheit und körperliche Schwächung allmählich einen gleichmässigeren Zustand herstellt. – Von den leiblichen Schmerzen und Entbehrungen der Askese selbst will ich schweigen, da sie ein, wenn auch entschieden sehr wirksames, doch nicht unentbehrliches Mittel zur Erlangung der religiös-mystischen Erhebung ist.[335]
Kommen wir auf die niederen Stufen der Erbauung, welche mit dem weltlichen Leben vereinigt werden, so tritt ein oben nicht erwähntes Moment der Unlust besonders wichtig hervor: die Furcht vor der eigenen Unwürdigkeit, der Zweifel an der göttlichen Gnade, die Angst vor dem zukünftigen Gericht, die Qualen über die Last der begangenen Sünden, mögen letztere den Augen Anderer auch noch so geringfügig erscheinen. Alles in Allem wird sich Lust und Unlust auch bei dem religiösen Gefühl ziemlich aufwiegen. Sollte aber wirklich ein Ueberschuss von Lust sich ergeben, wovon ich die Möglichkeit auf diesem Gebiet eher als auf allen anderen (mit Ausnahme von Kunst und Wissenschaft) einräumen würde, so tritt die andere Erwägung ein, dass auch diese Lust illusorisch ist. Wir haben diese Illusion schon Cap. B. IX. aufgedeckt; sie besteht in der Kürze darin, dass das Bestreben, die Identität des All-Einigen Unbewussten mit dem Bewusstseins-Subject, welche in Wirklichkeit existirt und als rationelle Wahrheit vom Verstande leicht begriffen werden kann, in der bewussten Empfindung unmittelbar zu erfassen und zu geniessen, seiner Natur nach nothwendig resultatlos bleiben muss, weil das Bewusstsein unmöglich über seine eigenen Grenzen hinaus kann, also das Unbewusste nicht als solches, also auch nicht die Einheit des Unbewussten und des Bewusstseinsindividuums erfassen kann.
Wenn die Durchschauung und Befreiung von der Illusion in der fortschreitenden Entwickelung der Menschheit auf irgend einem Gebiete klar vor Angen liegt, so ist es im religiösen. Man kann nicht sagen, dass die gegenwärtige Zeit des Unglaubens ebenso vorübergehend sein wird, als etwa die der gebildeten alten Welt um Christi Geburt; wenn auch religiösere Perioden als jetzt wiederkommen werden, so ist doch eine ähnliche Glaubensperiode, wie das katholische Mittelalter war, durch die moderne universelle Geistesbildung für immer unmöglich gemacht. Auch das Mittelalter war nur möglich, weil die classische Geistesbildung unter Trümmern begraben wurde, und dies haben wir wohl gegenwärtig nicht mehr zu befürchten. Je mehr die Völker ihre rationellen Anlagen cultiviren, je mehr sie auf eigenen Füssen, d.h. auf ihrem Bewusstsein, stehen und gehen lernen, desto mehr verlieren sich ihre mystischen Anlagen; diese sind die Surrogat-Talente der Jugend, die Reife des bewussten Verstandes füllt das Mannesalter der Völker aus. Man kann aus der allmählich fortschreitenden Zerstörung der religiösen Illusionen nach Analogie darauf schliessen, dass auch die Zerstörung[336] der anderen Illusionen mit Sicherheit in der Geschichte sich vollziehen wird, sobald dieselben als Triebfedern des Fortschrittes nicht weiter gebraucht werden, sei es nun, dass sie von anderen mächtig genug gewordenen Triebfedern (Vernunft) abgelöst werden, sei es, dass das Ziel in der Richtung ihrer speciellen Wirksamkeit erreicht ist. Insoweit der religiöse Genuss in der Hoffnung auf transcendente Seligkeit nach dem Tode besteht, wird er erst weiter unten seine Erledigung finden.A73
A73 | S. 337 Z. 8. (Vgl. hierzu Plümacher's »Pessimismus« Cap. VIII »Die Bekämpfung des Pessimismus vom Standpunkte des religiösen Optimismus« S. 291-322; »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. S. 674 bis 682; »Die Religion des Geistes« S. 50-55, 89-102, 152-155, 180-183, 235-237, 255-268, 303-306.) |
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Philosophie des Unbewußten
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