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[368] Es gehört zu diesem Stadium zunächst der Begriff der immanenten Entwickelung, dessen Anwendung auf die Welt als Ganzes, und der Glaube an eine Weltentwickelung. In der alten Philosophie[368] findet sich, mit Ausnahme des Aristoteles, hiervon keine Spur, aber auch bei diesem ist die Anwendung des Begriffes wesentlich auf die natürliche Entwickelung des Individuums beschränkt und hat jedenfalls in geistiger Hinsicht auf Mitwelt und Nachwelt keinen epochemachenden Einfluss geübt.
Das Römerthum kennt eine Entwickelung nur als Machtentwickelung Roms. Dem seiner Natur nach stationären und stagnirenden Judenthum ist der Begriff der Entwickelung so fremd und zuwider, dass selbst ein Mendelssohn noch einem Lessing gegenüber die Unmöglichkeit eines Weltfortschreitens behaupten und verfechten konnte.
Das katholische Christenthum ist ebenfalls in sich beschlossen und fertig; es strebt nur nach Ausbreitung des Reiches Gottes, nicht nach Vertiefung seines Inhaltes; die Entwickelung des Dogma's in den ersten Jahrhunderten geht gleichsam wider seinen Willen aus dem blossen Bestreben hervor, dasselbe zu fixiren. Auch die Reformatoren hatten noch keineswegs die Absicht, das Christenthum weiter zu entwickeln, sondern nur, es von den eingeschlichenen Missbräuchen zu reinigen und in seiner ursprünglichen Form wieder herzustellen.
Selbst Spinoza's starre Nothwendigkeit, deren Seelenlosigkeit und Zwecklosigkeit die wechselnde Mannigfaltigkeit der Gestaltungen des Daseins doch nur wie ein gleichgültiges, ich möchte fast sagen: launenhaft zufälliges Spiel erscheinen lässt, hat für den Begriff der Entwickelung noch keinen Raum; erst Leibnitz ist es, der ihn gleichsam von Neuem entdeckt, aber auch gleich in seiner vollsten Bedeutung und mannigfachsten Anwendbarkeit ausführt, und in diesem Sinne gewissermaassen als der positive Apostel der modernen Welt betrachtet werden kann.
Lessing wendet denselben in grossartiger Weise in seiner Erziehung des Menschengeschlechtes an, die Werke Schillers sind von demselben durchdrungen, Herder giebt ihm in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit und Kant in mehreren von ächt philosophischem Geiste beseelten Aufsätzen zur Philosophie der Geschichte (Werke Bd. VII. Nr. XII. XV. XIX.) Ausdruck. Am tiefsten lebt und webt dieser Begriff in Hegel, welchem ja die ganze Welt nichts als eine sich selbst verwirklichende Entwickelung der Idee ist (vgl. Ges. philos. Abhandl. Nr. II: »Ueber die notwendige Umbildung der Hegel'schen Philosophie aus ihrem Grundprincip heraus«).
Dass das ganze Weltgetriebe ein einziger grossartiger Entwickelungsprocess[369] ist, das springt auch immer deutlicher als Resultat der modernen Realwissenschaften hervor. Die Astronomie beschränkt sich nicht mehr bloss auf die Genesis des Planetensystems, sie greift mit den neueren Hülfsmitteln der Spectralanalyse weiter in den Kosmos hinaus, um durch Vergleichung der gegenwärtigen Zustände ferner Sonnen- und Nebelflecke dieselben als verschiedene Stadien eines Entwickelungsprocesses zu begreifen, in welchem der eine Theil schneller, der andere langsamer fortgeschritten ist, deren Summe aber nur als eine kosmische Gesammtentwickelung gedacht werden kann. Die Photometrie und Spectralanalyse im Verein suchen die Fortsetzung desselben in der Entwickelungsgeschichte der einzelnen Planeten vergleichend zu ermitteln, und Chemie und Mineralogie verbinden sich, um die Entwickelungsphase unseres Planeten vor jener Abkühlungsperiode näher zu bestimmen, deren allmähliches Fortschreiten bis zur Gegenwart die steinernen Denkmale der Geologie uns in mehr und mehr entzifferter Hieroglyphenschrift erzählen. Die Biologie deutet uns aus den versteinerten Resten der Vorzeit die Entwicklungsgeschichte des Pflanzen- und Thierreichs (vgl. Cap. C. X.), und die Archäologie enthüllt uns, unterstützt von vergleichender Sprachforschung und Anthropologie, die vorgeschichtliche Entwickelungsperiode des Menschengeschlechts, dessen grossartige Culturentwickelung die Geschichte zur Darstellung bringt, indem sie zugleich neue Perspectiven eröffnet (vgl. Cap. B. X.). Was die Einzelwissenschaften als Stückwerk darbieten, hat die Philosophie mit zusammenfassendem Blicke zu überschauen, und als die von der Allweisheit des Unbewussten nach festvorgezeichnetem Plane zu heilsamem Ziele providentiell geleitete Entwickelung des Weltganzen anzuerkennen.
Am Individuum ist es nicht schwer, sich vom Vorhandensein einer Entwickelung zu überzeugen; man sieht sie ja täglich an Allem und Jedem; desto schwerer aber ist es, den Gedanken der Entwickelung eines aus vielen Individuen bestehenden Ganzen so in Fleisch und Blut aufzunehmen, dass man für dieselbe ein das egoistische überragendes Interesse gewinnt; denn über nichts ist schwerer hinwegzukommen, als über den Instinct des Egoismus.
Höchst lehrreich ist in dieser Beziehung »Der Einzige und sein Eigenthum« von Max Stirner, ein Buch, das Niemand, der sich für practische Philosophie interessirt, angelesen lassen sollte. Dasselbe unterwirft alle auf die Praxis Einfluss habenden Ideen einer mörderischen Kritik, und weist sie als Idole nach, die nur soweit Macht[370] über das Ich haben, als dieses ihnen eine solche in seiner sich selbst verkennenden Schwäche einräumt; es zermalmt in seiner geistreichen und pikanten Weise mit schlagenden Gründen die idealen Bestrebungen des politischen, socialen und humanen Liberalismus, und zeigt, wie auf den Trümmern all' dieser in das Nichts ihrer Ohnmacht zusammengebrochenen Ideen nur das Ich der lachende Erbe sein kann. Wenn diese Betrachtungen nur den Zweck hätten, die theoretische Behauptung zu erhärten, dass Ich so wenig aus dem Rahmen meiner Ichheit, als aus meiner Haut heraus kann, so wäre denselben Nichts hinzuzufügen; indem aber Stirner in der Idee des Ich den absoluten Standpunct für das Handeln gefunden haben will, verfällt er entweder demselben Fehler, den er an den anderen Ideen, wie Ehre, Freiheit, Recht u.s.w. bekämpft hatte, und liefert sich auf Gnade und Ungnade der Herrschsucht einer Idee aus, deren absolute Souveränität er anerkennt, aber nicht um der und jener Gründe willen anerkennt, sondern blind und instinctiv, oder aber er fasst das Ich nicht als Idee, sondern als Realität, und hat dann kein anderes Resultat, als die völlig leere und nichtssagende Tautologie, dass Ich nur meinen Willen wollen, nur meine Gedanken denken kann und dass nur meine Gedanken Motive meines Wollens werden können, eine Thatsache, die bei den von ihm bekämpften Gegnern ebenso unläugbar ist, als bei ihm. Wenn er aber, und nur so hat sein Resultat einen Sinn, meint, dass man die Idee des Ich als die allein herrschende anerkennen und alle anderen Ideen nur insoweit zulassen soll, als sie für erstere einen Werth haben, so hätte er doch zunächst die Idee des Ich untersuchen sollen. Er würde dann zuvörderst gefunden haben, dass, wie alle anderen Ideen Stichworte von Instincten sind, die specielle Zwecke verfolgen, so das Ich das Stichwort eines universellen Instinctes, des Egoismus, ist, der sich zu den speciellen Instincten gleichsam wie ein passe-partout-Billet zu Tagesbilleten verhält, von dem viele Specialinstincte nur Ausflüsse in besonderen Fällen sind, und mit dem man daher auch ganz allein ziemlich gut auskommt, nachdem man alle anderen Instincte geächtet hat, welcher selbst dagegen niemals ganz für das Leben zu entbehren ist.
So ist es allerdings verzeihlicher, diesem Instincte, als irgend einem anderen, eine unbedingte Souveränität zuzuerkennen, aber abgesehen davon, dass der Fehler in beiden Fällen der nämliche ist, sind die Folgen bei der ausschliesslichen Huldigung des Egoismus noch schlimmer. Nämlich andere Instincte lassen sich, wenn sie[371] nur stark genug sind, häufig befriedigen, wenn auch in der Regel nur mit Opfern an Gesammtglück, die sie nicht bezahlt machen; aber der Egoismus ist nach unseren bisherigen Untersuchungen niemals an befriedigen, weil er stets einen Ueberschuss von Unlust bereitet.
Diese Einsicht, dass vom Standpuncte des Ich oder des Individuums aus die Willensverneinung oder Weltentsagung und Verzichtleistung auf's Leben das einzig vernünftige Verfahren ist, fehlt Stirner gänzlich, sie ist aber das sicherste Heilmittel gegen die Grossthuerei mit dem Standpuncte des Ich; wer die überwiegende Unlust, die jedes Individuum mit oder ohne Wissen im Leben erdulden muss, einmal verstanden hat, wird bald den Standpunct des sich selbsterhalten- und geniessen-wollenden, mit einem Worte des seine Existenz bejahenden Ich verachten und verschmähen; wer erst seinen Egoismus und sein Ich geringschätzt, wird auf dasselbe schwerlich noch als auf den absoluten Standpunct pochen, nach welchem alles sich zu richten habe, wird persönliche Opfer minder hoch anschlagen als sonst, wird minder widerwillig dem Resultate einer Untersuchung zustimmen, welche das Ich als eine blosse Erscheinung eines Wesens darstellt, das für alle Individuen ein und dasselbe ist.
Die Welt- und Lebensverachtung ist der leichteste Weg zur Selbstverläugnung, nur auf diesem Wege ist eine Moral der Selbstverläugnung, wie die christliche und buddhistische, historisch möglich geworden; in diesen Früchten, die er für die Erleichterung der so unendlich schweren Selbstverläugnung trägt, liegt der ungeheure, gar nicht hoch genug anzuschlagende ethische Werth des Pessimismus.
Wäre aber endlich Stirner an die directe philosophische Untersuchung der Idee des Ich herangetreten, so würde er gesehen haben, dass diese Idee ein ebenso wesenloser, im Gehirne entstehender Schein ist (vgl. »Das Ding an sich« Abschnitt III: »Das transcendentale Subject«), wie etwa die Idee der Ehre oder des Rechtes, und dass das einzige Wesen, welches der Idee der inneren Ursache meiner Thätigkeit entspricht, etwas Nicht-Individuelles, das All-Einige Unbewusste ist, welches also ebenso gut der Idee des Peter von seinem Ich, als der Idee des Paul von seinem Ich entspricht. Auf diesem allertiefsten Grunde ruht nur die esoterische buddhistische Ethik, nicht die christliche. Hat man diese Erkenntniss sich fest und innig zu eigen gemacht, dass ein und dasselbe[372] Wesen meinen und deinen Schmerz, meine und deine Lust fühlt, nur zufällig durch die Vermittelung verschiedener Gehirne, dann erst ist der exclusive Egoismus in seiner Wurzel gebrochen, der durch die Welt- und Lebensverachtung nur erst erschüttert, wenn auch tief erschüttert ist, dann erst ist der Stirner'sche Standpunct endgültig überwunden, dem man einmal ganz angehört haben muss, um die Grösse des Fortschrittes zu fühlen, dann erst ist der Egoismus als ein Moment in dem Bewusstsein aufgehoben, ein Glied des Weltprocesses zu bilden, in welchem er seine nothwendige und relativ, d.h. bis zu einem gewissen Grade, berechtigte Stelle findet.
Es tritt nämlich am Ende jedes der vorhergehenden Stadien der Illusion und vor der Entdeckung des folgenden das freiwillige Aufgeben des individuellen Daseins, der Selbstmord, als nothwendige Consequenz ein; sowohl der lebensüberdrüssige Heide, als auch der an der Welt und seinem Glauben zugleich verzweifelnde Christ müssen sich consequenterweise entleiben, oder, wenn sie, wie Schopenhauer, durch dieses Mittel den Zweck der Aufhebung des individuellen Daseins nicht zu erreichen glauben, müssen sie wenigstens ihren Willen vom Leben abwenden in Quietismus und Enthaltsamkeit oder auch Askese. Es ist der Gipfel der Selbsttäuschung, in diesem Salviren des lieben Ich aus der Unbehaglichkeit des Daseins etwas anderes als die crasseste Selbstsucht, als einen höchst verfeinerten Epikureismus zu sehen, der nur durch instinctwidrige Lebensanschauung eine instinctwidrige Richtung genommen hat. Bei allem Quietismus, mag er nun mit viehischer Trägheit in Fressen und Saufen sich begnügen, oder in idyllischem Naturgenuss aufgehen, oder im natürlichen oder künstlichen (durch Narkotika erzeugten) Halbtraum passiv in den Bildern einer willig strömenden Phantasie schwelgen, oder im verfeinerten Luxusleben receptiv mit den ausgesuchtesten Bissen der Künste und Wissenschaften die Langeweile vertreiben, bei alle diesem Quietismus liegt der epikuräische Grundzug auf der Hand: die Sucht, das Leben auf die der individuellen Constitution behaglichste Weise mit einem Minimum von Anstrengung und Unlust hinzubringen, unbekümmert um die dadurch verletzten Pflichten gegen die Mitmenschen und gegen die Gesellschaft. Aber selbst die Askese, die scheinbar das Gegentheil des Egoismus ist, ist auch immer egoistisch, selbst da, wo sie nicht, wie die christliche, auf Belohnung in der individuellen Unsterblichkeit hofft, sondern bloss durch zeitweilige Uebernahme eines gewissen Schmerzes die Abkürzung der Lebensqual und die individuelle Befreiung von jeder Fortsetzung des[373] Lebens nach dem Tode (Wiedergeburt u.s.w.) zu erlangen hofft. In dem Selbstmörder und in dem Ascetiker ist so wenig bewunderungswürdige Selbstverläugnung wie in dem Kranken, der, um der Aussicht eines endlosen Zahnschmerzes zu entfliehen, sich vernünftigerweise zu dem schmerzhaften Ausziehen des Zahnes entschliesst. Es liegt in beiden Fällen nur klug berechnender Egoismus ohne jeden ethischen Werth vor, vielmehr ein Egoismus, der in allen solchen Lebenslagen unsittlich ist, wo ihm noch nicht jede Möglichkeit abgeschnitten war, seinen Pflichten gegen seine Angehörigen und die Gesellschaft zu genügen.
Anders, wenn das Interesse für die Entwickelung des Ganzen im Herzen Wurzel fasst und der Einzelne sich als Glied des Ganzen fühlt, als ein Glied, welches eine mehr oder minder werthvolle, nie aber ganz nutzlose Stelle im Processe des Ganzen ausfüllt. Dann wird es um der Ausfüllung dieser Stelle willen erforderlich, sich an das Leben, welches man vom Standpuncte des Ich aus nicht nur als unnützes Gut, sondern als wahre Qual fortwarf, mit wahrer Opferfreudigkeit hinzugeben, weil der Selbstmord eines noch leistungsfähigen Individuums nicht nur dem Ganzen keinen Schmerz erspart, sondern ihm sogar die Qual vermehrt, indem er dieselbe durch die zeitraubende Nothwendigkeit verlängert, für das amputirte Glied erst einen Ersatz zu schaffen. Dann ergiebt sich ferner die selbstverständliche Forderung, das aus Selbstverläugnung um des Ganzen willen bewahrte Leben in einer nicht mehr dem individuellen Behagen, sondern dem Wohle des Ganzen dienenden Weise zu erfüllen, was nicht durch passive Receptivität, nicht durch träge Ruhe und scheues Verkriechen vor den Berührungen mit dem Kampf des Daseins, sondern durch active Production, durch rastloses Schaffen, durch selbstverläugnendes Hineinstürzen in den Strudel des Lebens und Theilnahme an der gemeinsamen volkswirthschaftlichen und geistigen Culturarbeit zu leisten ist. Schon das allein würde den Quietismus zu einer Todsünde machen, dass ein allgemeineres Umsichgreifen desselben alle Errungenschaften der Cultur, welche die Menschheit sich so mühsam in Jahrtausenden erkämpft hat, wieder in Frage stellen und binnen Kurzem in stetig wachsenden Rückschritt verwandeln würde. Die Geschichte lehrt aber, wie grenzenlos das Elend eines in der Cultur rückwärts gehenden Volkes ist, ja wie schwer schon der blosse Culturstillstand, der gehemmte Fortschritt, auf einem Volke lastet. Denn wie das Leben des individuellen Organismus eine Summe beständiger Acte der Naturheilkraft[374] ist, so ist auch das Leben des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus nur möglich als eine stetige Anspannung aller verfügbaren Kräfte zur Abwehr der beständig von allen Seiten auf Angriffspuncte lauernden störenden und verderblichen Einflüsse.
So wird also der Instinct des Egoismus oder individuellen Lebenstriebes vom Bewusstsein gewissermaassen neu restituirt, aber nun nicht mehr als absolute und souveräne Macht, sondern mit dem aus seinem Zwecke für das Ganze sich ergebenden Maasse, und beschränkt durch die Anerkennung und Achtung des Strebens der für den Process ebenfalls erforderlichen anderen Individuen. – Wie der Egoismus im Ganzen, so werden auch diejenigen Triebe vom Bewusstsein restituirt, welche, wie Mitleid, Billigkeitsgefühl, einen Werth für das Ganze, oder, wie Liebe und Ehre, einen Werth für die Zukunft haben; sie werden nunmehr mit dem Bewusstsein des individuellen Opfers freiwillig um des Ganzen und des Processes willen übernommen. Dieses dem Leben durch die Hingebung an dasselbe gebrachte individuelle Opfer findet dann seinen Lohn in der Hoffnung auf die Zukunft des Processes, auf die in seinem Verfolge günstiger werdende Gestaltung der Lebensverhältnisse und das dem Weltwesen, welches auch in mir lebt, dort winkende Glück.
Diese Hoffnung auf ein zukünftiges positives Menschheitsglück und das um ihretwillen Mitwirken am Processe des Ganzen bildet das dritte Stadium der Illusion, welches wie die vorigen beiden zu durchschauen, jetzt unsere Aufgabe ist. Hoffentlich und sicherlich werden die meisten von denjenigen Lesern, welche bis hierher diesem Capitel beistimmend gefolgt sind, an diesem Puncte ihren Weg von dem meinigen scheiden. Sie können und dürfen nicht anders, wenn sie nicht aufhören wollen, Kinder ihrer Zeit zu sein, die sich ja selbst erst im Anfang des dritten Stadiums der Illusion befindet und hoffnungsselig den Verheissungen der goldenen Zukunft entgegen jubelt und entgegen stürmt. Die Vorsehung sorgt schon dafür, dass die Anticipationen des stillen Denkers den Gang der Geschichte nicht etwa dadurch verwirren, dass sie vorzeitig zu viele Anhänger gewinnen. Der nur scheinbar verwandte heutige politische und sociale Pessimismus gewisser in jugendlicher Gährung oder alternder Zersetzung befindlicher Reiche ist ein zur Ueberwindung bestimmtes Product vorübergehender Constellationen; er wird und muss in politischen und socialen Optimismus umschlagen, und hat nichts zu thun mit meinem methaphysischen Pessimismuss,[375] der den politischen, socialen etc. Optimismus nicht aus-, sondern einschliesst. –
Als wir uns mit der Kritik des ersten Stadiums der Illusion befassten, war es nicht möglich, gelegentliche Blicke in die zukünftige Gestaltung der Welt zu vermeiden, ja man kann sogar behaupten, dass der aufmerksame Leser schon in jener Kritik des ersten Stadiums die Kritik des dritten mitgefunden haben muss.
Um hier die Wiederholung zu ersparen, bitte ich deshalb, in diesem Sinne noch einmal das Resumé (Nr. 13) der Kritik des ersten Stadiums durchzulesen, und man wird sich von der Wahrheit meiner Behauptung überzeugen, dass jene Resultate weit mehr enthalten, als damals zur Widerlegung des ersten Stadiums der Illusion aus ihnen geschlossen wurde. So gilt z.B. der Beweis des Satzes, dass die Unlust der Nichtbefriedigung immer und in vollem Maasse, die Lust der Befriedigung aber nur unter günstigen Umständen und mit erheblichen Abzügen empfunden werde, nicht bloss für die Gegenwart, sondern ganz allgemein.
Wie weit auch die Menschheit fortschreitet, nie wird sie die grössten der Leiden loswerden oder auch nur vermindern: Krankheit, Alter, Abhängigkeit von dem Willen und der Macht Anderer, Noth und Unzufriedenheit. Wie viel Mittel gegen Krankheiten auch noch gefunden werden mögen, immer wachsen die Krankheiten, namentlich die quälenden leichteren chronischen Uebel, in schnellerer Progression als die Heilkunst. Immer wird die frohsinnige Jugend nur einen Bruchtheil der Menschheit ausmachen und der andere Theil dem grämlichen Alter zufallen. Immer wird der Hunger der in's Unendliche gehenden Vermehrung des Menschengeschlechtes die Grenze durch eine grosse Bevölkerungsschicht ziehen, welche mehr Hunger hat, als sie befriedigen kann, welche wegen mangelhafter Ernährung einen grossen Sterblichkeitscoefficienten zeigt, kurz, welche fortwährend zu einer grossen Procentzahl in dem bitteren Kampfe mit der Noth erliegt (vgl. I, 341 unten, II, 309-311). Die zufriedensten Völker sind die rohen Naturvölker und von den Culturvölkern die ungebildeten Classen; mit steigender Bildung des Volkes wächst erfahrungsmässig seine Unzufriedenheit.
Jene auf der Hungergrenze lebende Bevölkerungsschicht fühlte früher und zum Theil noch jetzt ihr Elend nur, so lange der Magen knurrte, aber je weiter die Welt kommt, desto drohender wird das Gespenst der Massenarmuth, desto furchtbarer bemächtigt sich jener Elenden das ganze Bewusstsein ihres Elends. Die sociale Frage[376] der Gegenwart beruht letzten Endes nur auf einem gesteigerten Bewusstsein der Arbeitermassen über das Elend ihrer Lage, während thatsächlich diese Lage eine wahrhaft goldene ist im Vergleich mit der vor 200 Jahren, wo man von einer socialen Frage nichts wusste.
Die Unsittlichkeit ist seit der Gründung einer primitiven menschlichen Gesellschaft bis heute, wenn man mit dem Maassstabe der Gesinnung misst, in der Welt nicht weniger geworden, nur die Form, in welcher die unsittliche Gesinnung sich äussert, ändert sich. Abgesehen von Schwankungen des ethischen Charakters der Völker im Grossen und Ganzen sieht man überall dasselbe Verhältniss von Egoismus und Nächstenliebe, und wenn man auf die Gräuelthaten und Rohheiten vergangener Zeiten hinweist, so vergesse man auch nicht, die Biederkeit und Ehrlichkeit, das klare Billigkeitsgefühl und die Pietät vor der geheiligten Sitte alter Naturvölker einerseits, und den mit der Civilisation wachsenden Betrug, Falschheit, Hinterlist, Chicane, Nichtachtung des Eigenthums und der berechtigten, aber nicht mehr verstandenen, instinctiven Sitte andererseits in Rechnung zu stellen. (Vgl. die Schilderungen und Betrachtungen von Wallace über die fast paradiesische Sittenreinheit und Einfalt der Malayen am Schlüsse seines Reisewerkes: »Der malayische Archipel«, deutsch von Meyer.) Diebstahl, Betrug und Fälschung vermehren sich trotz der darauf gesetzten Strafen in schnellerer Progression, als die ganz groben und schweren Verbrechen (wie Raub, Mord, Nothzucht u.s.w.) abnehmen; der niedrigste Eigennutz zerreisst schamlos die heiligsten Bande der Familie und Freundschaft, wo immer er mit ihnen in Collision kommt, und nur die zweifellose Vollstreckung der vom Staate und der Gesellschaft darauf gesetzten Strafen verhindert die brutale Grausamkeit roherer Zeiten, die sofort wieder hervorbricht und die menschliche Bestialität in ihrer ganzen Scheusslichkeit erkennen lässt, wo die Bande des Gesetzes und der Ordnung gelockert oder zerrissen sind, wie in der polnischen Revolution, dem letzten Jahre des amerikanischen Bürgerkrieges, oder den Gräueln der Pariser Commune im Frühjahr 1871. Nein, nicht gebessert hat sich bis jetzt die Bosheit und die alles Fremde zertretende Selbstsucht der Menschen, nur künstlich eingedämmt ist sie durch die Deiche des Gesetzes und der bürgerlichen Gesellschaft, weiss aber statt der offenen Ueberfluthung tausend Schleichwege zu finden, auf denen sie die Dämme durchsickert. Der Grad der unsittlichen Gesinnung ist derselbe geblieben, aber sie hat den Pferdefuss[377] abgelegt und geht im Frack; die Sache und der Erfolg bleibt dieselbe, nur die Form wird eleganter.
Schon sind wir der Zeit nahe, wo Diebstahl und gesetzwidriger Betrug als pöbelhaft gemein und ungeschickt verachtet werden von dem gewandteren Spitzbuben, der seine Verbrechen am fremden Eigenthum mit dem Buchstaben des Gesetzes in Einklang zu bringen weiss. Ich wollte mich doch wahrlich lieber unter den alten Germanen der Gefahr aussetzen, gelegentlich todt geschlagen zu wer den, als im modernen Culturstaat jeden für einen Schuft und Schurken halten zu müssen, bis ich ganz überzeugende Beweise seiner Ehrlichkeit habe. Aus der Analogie können wir schliessen, dass, wenn die Unsittlichkeit auch in Zukunft ihre Form noch so sehr verfeinert, sie doch immer gleich unsittlich und gleich unlusterweckend für die Summe der Unrechtleidenden bleiben wird. Denn wenn man auch mit Recht einwenden kann, dass die Sittlichkeit in der primitiven und patriarchalischen Gesellschaft auf dem unbewussten Moment der Sitte beruht und mit dieser Grundlage verfallen ist, ohne bei der Unzulänglichkeit aller religiösen und philosophischen Individualethik einen Ersatz dafür gefunden zu haben, den aber die Zukunft in einer die Sittlichkeit Schritt für Schritt hebenden, weil die unbewusste Sitte mit Bewusstsein ersetzenden Socialethik finden wird, – wenn man ferner auch darauf hin weisen kann, dass die Eruditio oder »Entrohung« der Empfindung demselben Maass ethischer Anlage nothwendig einen breiteren Spielraum gewähren muss und, in Wohlthätigkeitsanstalten, Armenwesen, Sorge für Sieche, Geisteskranke, Blinde, Taubstumme, Verbrecher, Thierschutzvereine u.s.w. zum Theil schon gewährt hat, so wird doch eine solche theils von der Gewohnheit des Handelns aus den Charakter meliorirende, theils bei der ethischen Empfindung unmittelbar ihre Hebel einsetzende reelle Zunahme des Sittlichkeitsfonds vollständig aufgewogen durch die geschärfte Empfindlichkeit für erduldete Unsittlichkeiten, wenn auch in allermildester und feinster Form. Wenn rohe Menschen sich mit Humor und Behaglichkeit die Schädel einschlagen, so empfinden feinfühlige Gebildete auch die geringfügigsten Rücksichtslosigkeiten verhältnissmässig sehr schmerzlich, wie viel mehr erst die leinen Spitzen subtiler Malice. Hierdurch gleicht sich also für die Frage nach dem gesammten durch Unsittlichkeit hervorgerufenen Leid die wachsende Sittlichkeit und die sich steigernde Sensibilität gegen Verletzungen mindestens aus; ja sogar bei gestiegener Cultur wächst der Sittlichkeitsmaassstab, welcher dieselbe Handlung nunmehr als[378] viel unsittlicher wie früher brandmarkt, und mit Rücksicht auf diese notwendige Verschärfung des Maassstabes wird man sogar behaupten dürfen, dass die Summe der unsittlichen Handlungen zunimmt, weil die Steigerung des Sittlichkeitsfonds nicht mit der Verschärfung des Maassstabes für das ethische Urtheil gleichen Schritt hält, sondern hinter der letzteren zurückbleibt. Gesetzt aber auch, die Sittlichkeit nähme wirklich bis zu einem idealen Zustande zu, so reichte sie doch immer noch kaum an den Bauhorizont, weil der Ausschluss alles Unrechts noch kein Glück, die positive Sittlichkeit aber nur ein Linderungsmittel der hülflosen menschlichen Bedürftigkeit ist (vgl. S. 338 u. 281). Letzteres spricht sich auch darin aus, dass das Bestreben der Zukunft dahin gehen muss, die Privatwohlthätigkeit und willkürlichen Liebeswerke überflüssig zu machen und durch eine feste Organisation der mannigfaltigsten Formen socialer Solidarität zu beseitigen. –
Eine Lebensrichtung, welche bei einer gewissen Gemüthsbeschaffenheit wohl ein positives Glück gewähren kann, die Frömmigkeit, ist natürlich in unserm jetzigen dritten Stadium ein überwundener Standpunct der Illusion, wenigstens sind ihr die Hauptadern, der Unsterblichkeitsglaube und das Gebet, unterbunden. Wäre dem thatsächlich nicht so, so wäre eben das dritte Stadium der Illusion nicht rein, sondern noch mit dem zweiten gemischt, was zwar in Wirklichkeit sehr gewöhnlich sein mag, aber in unserer rationellen Betrachtung, wo die Standpuncte durchaus gesondert werden müssen, nicht angenommen werden darf. Jedenfalls aber wird man nicht läugnen können, dass das durchschnittliche Abnehmen der religiösen Illusion mit fortschreitender Bildung die Bedeutung derselben für unsern Rechnungsansatz mehr und mehr vermindert, und die Zeit ist nicht mehr fern, wo ein Gebildeter schlechterdings nicht mehr dem Genusse religiöser Erbauung im bisherigen Sinne zugänglich sein kann, sondern höchstens noch aus dem Bewusstsein des mystischen Zusammenhangs mit dem All-Einen sich eine Art von religiösem Privatcultus bilden kann.
Die beiden anderen Momente, denen wir positiven Ueberschuss an Lust zuerkannt hatten, Wissenschaft und Kunst, werden ihre Stellung in der Zukunft der Welt auch verändern. Je mehr wir rückwärts schauen, desto mehr ist der wissenschaftliche Fortschritt das Werk einzelner hervorragender Genies, welche das Unbewusste sich als Werkzeug schafft, um Das zu bewirken, was mit den Kräften des durchschnittlichen bewussten Menschenverstandes noch nicht zu[379] erreichen ist. Je mehr wir uns der heutigen Zeit nähern, desto zahlreicher werden die Arbeiter an der Wissenschaft, desto gemeinsamer ihre Arbeit. Während die Genies früherer Zeiten Zauberern gleichen, die ein Gebäude wie aus dem Nichts entstehen lassen, sind die Geistesarbeiten der Neuzeit einer emsigen Baugesellschaft zu vergleichen, wo jeder seinen Stein zum grossen Gebäude hinzufügt, je nach seinen Kräften einen grösseren oder kleineren. Die Methode der Zukunft wird immer ausschliesslicher die inductive werden, und der Grundcharakter der wissenschaftlichen Arbeit nicht Vertiefung, sondern Verbreiterung sein. So werden die Genies immer weniger Bedürfniss, und daher auch immer weniger vom Unbewussten geschaffen; wie die Gesellschaft durch den schwarzen Bürgerrock nivellirt ist, so steuern wir auch in geistiger Beziehung mehr und mehr auf eine Nivellirung zur gediegenen Mittelmässigkeit hin. Daraus geht hervor, dass der Genuss der wissenschaftlichen Production immer geringer wird und die Welt mehr und mehr auf receptiv wissenschaftlichen Genuss beschränkt wird. Dieser aber ist nur dann erheblich, wenn man das Ringen und Kämpfen nach der Wahrheit mit durchgemacht hat, nicht aber, wenn einem die Wahrheit als gaar gebackene Pastete auf der Schüssel präsentirt wird. Dann wiegt oft der Genuss des Erkennens die Mühe des Erlernens kaum auf, und die practische Brauchbarkeit des Erlernten oder der Ehrgeiz müssen das eigentliche Motiv des Lernens abgeben.
Ein ähnliches Verhältniss findet bei der Kunst statt, obwohl diese für die Zukunft immer noch günstiger gestellt ist, als die Wissenschaft. Auch in ihr werden die producirenden Genies immer seltener werden, je mehr die Menschheit das im Augenblick aufgehende Leben ihrer Kindheit und die transcendenten Ideale ihrer schwärmerischen Jugend hinter sich zurücklässt und auf eine bedächtig in die Zukunft schauende practisch wohnliche Einrichtung in der irdischen Heimath Bedacht nimmt, je mehr im Mannesalter der Menschheit die socialökonomischen und practisch-wissenschaftlichen Interessen die Oberhand gewinnen. Die Kunst ist dann nicht mehr, was sie dem Jünglinge war, die hehre, beseligende Göttin sie ist nur noch eine mit halber Aufmerksamkeit zur Erholung von den Mühen des Tages genossene Zerstreuung, ein Opiat gegen die Langeweile, oder eine Erheiterung nach dem Ernst der Geschäfte, – daher eine immer mehr um sich greifende dilettantische Oberflächlichkeit und ein Vernachlässigen aller ernsten, nur mit angestrengter[380] Hingebung zu geniessenden Richtungen der Kunst. Die künstlerische Production des den Idealen entfremdeten Mannesalters der Menschheit bewegt sich natürlich in derselben leichtfertigen, die Form gewandt beherrschenden und von den Schätzen der Vergangenheit zehrenden, dilettantischen Oberflächlichkeit, und bringt keine Genies mehr hervor, weil sie keine Bedürfnisse der Zeit mehr sind, weil es hiesse, die Perle vor die Säue werfen, oder auch, weil die Zeit über das Stadium, welchem Genies gebührten, zu einem wichtigeren hinweggeschritten ist. Um mich vor Missverständnissen zu wahren, bemerke ich ausdrücklich, dass ich mit jener Charakteristik nicht die Gegenwart bezeichnen wollte, sondern eine Zukunft, an deren Schwelle unser Jahrhundert steht, und von der die Gegenwart erst einen schwachen Vorgeschmack bietet. Die Kunst wird der Menschheit im Mannesalter durchschnittlich etwa das sein, was dem Berliner Börsenmann des Abends die Berliner Posse ist. Diese Ansicht ist freilich nur durch die Analogie der Entwickelung der Menschheit mit den Lebensaltern des Einzelnen zu erhärten und durch die Bestätigung, welche diese Analogie durch den bisherigen Gang der Entwickelung und die jetzt schon ziemlich deutlich erkennbaren Ziele der nächsten Periode findet. –
In Bezug auf die praktischen Instincte, welche auf Illusion beruhen, wie Liebe und Ehre, giebt es drei Fälle: entweder die Menschen kommen gar nicht davon zurück, dann bleibt die von ihnen ausgehende Unlust immer; oder die Menschen kommen ganz davon zurück, dann werden sie freilich mit der Lust auch die Unlust los und sind relativ viel glücklicher geworden, d.h. aber weiter nichts, als das Leben ist so viel ärmer geworden und dem Nullpunkt oder Bauhorizont der Empfindung so viel näher gerückt, ist aber nun auch sich seiner Armseligkeit und Werthlosigkeit bewusst geworden. Man kann beide Zustände ungefähr mit einem Geizigen vergleichen, der über seine Schätze im Kasten selig ist, bis er eines schönen Tages den Kasten aufmacht und findet, dass er leer ist; nur ist in diesem Bilde die reell erduldete Qual schon im ersten Zustande neben der Illusion des Glückes nicht mit ausgedrückt. Der dritte mögliche Fall und zugleich der wahrscheinlichste ist der, dass die Menschen nur theilweise von jenen Instincten loskommen, dass sie zwar die illusorische Beschaffenheit derselben vollständig durchschauen, auch in Folge dessen wohl die Stärke des Triebes durch Vernunft etwas vermindern, aber doch nie im Stande sind, denselben völlig zu vernichten. Dieser Fall enthält die Qualen beider[381] anderen vereinigt. Denn der Geizhals, der ganz gut gesehen hat, dass seine Kasten leer sind, kommt nun in den Wahnsinn, sie trotz der klaren, besseren Einsicht seiner Vernunft doch noch für voll halten zu wollen, und ist zugleich vernünftig genug, seinen Wahnsinn als solchen zu verstehen, ohne doch von demselben sich befreien zu können. Er hat nun zugleich das vernünftige Bewusstsein der Armseligkeit seines Lebens, der illusorischen Beschaffenheit seiner aus diesen Triebfedern entspringenden Lust und Unlust und des grossen Uebergewichtes der Unlust; er hat also jetzt auch das volle Bewusstsein der Qualen, zu denen er verurtheilt ist, das Vernunftstreben, diese Triebe zu unterdrücken, und das schmerzliche Gefühl der Ohnmacht seines vernünftigen Willens über den instinctiven Trieb. Damm sagt Göthe ganz richtig: »Wer die Illusion in sich und andern zerstört, den straft die Natur als der strengste Tyrann« (Bd. 40, S. 386), und doch kann und wird diese Zerstörung der Illusion der Menschheit nicht erspart bleiben. Unbarmherzig und grausam ist dieses Handwerk der Zerstörung der Illusion, wie der rauhe Druck der Hand, der einen süss Träumenden zur Qual der Wirklichkeit erweckt; aber die Welt muss vorwärts; nicht erträumt werden kann das Ziel, es muss erkämpft und errungen werden, und nur durch Schmerzen geht der Weg zur Erlösung! Das Individuum sieht mit Recht die Versöhnung dieses Zwiespalts für sich in dem völligen Aufgeben des Egoismus, und dem selbstverleugnenden Gedanken, dass die Liebe und der Instinct, einen Hausstand zu gründen, doch der Zukunft zu Gute kommen, indem sie die neue Generation schaffen, und so den Zwecken des Processes dienen; aber es wäre ein offenbarer Widerspruch, wenn eine Generation immer nur für die folgende da sein sollte, während jede für sich elend ist. Es erweckt schon dieses Immervorwärtsweisen den unwillkürlichen Gedanken, dass der Process nicht um des Processes willen, sondern um des hinter dem Processe liegenden Zieles willen da ist. Dasselbe ist gegen die Einwendung zu bemerken, dass die illusorischen Instincte, wie Ehre, Erwerbstrieb, Liebe, die Entwickelung steigern helfen. Dies ist gewiss richtig, aber es kann jenen Instincten keinen eudämonologischen Werth verleihen, so lange wir der Steigerung der Entwickelung keinen eudämonologischen Werth beimessen dürfen. Man vergisst bei diesen Einwendungen, dass der Process als solcher nur die Summe seiner Momente ist.
Werfen wir nun einen Blick auf die gepriesenen Fortschritte[382] der Welt; worin bestehen sie, wodurch beglücken sie? – Die Fortschritte in der Kunst dürfte man nicht berechtigt sein, allzuhoch anzuschlagen: soviel wie der Inhalt unserer neueren Kunstwerke ideenreicher ist, soviel war die Kunstform im Alterthum vollendeter, und die wiederauferstandenen Griechen würden unsere Kunstwerke auf allen Gebieten mit vollem Recht für höchst barbarisch erklären. (Man denke an unsere Romane und Bühnenstücke, an unsere Standbilder und Gemäldeausstellungen, an unsere Bauwerke und an die gleichschwebende Temperatur in der Musik!) Je überquellender der ideelle Inhalt unserer Kunstwerke die beengende Form zu zersprengen droht, desto weiter entfernen sich diese Werke von dem reinen Begriff der Kunst, der in absoluter Harmonie der Form und des Inhaltes wurzelt. Der Raum verhindert leider, diese Andeutungen hier weiter auszuführen.
Die wissenschaftlichen Fortschritte tragen in rein theoretischer Beziehung wenig oder gar nichts zum Glück der Welt bei, in practischer Beziehung aber kommen sie den politischen, socialen, moralischen und technischen Fortschritten zu Gute. Den Einfluss der Wissenschaft auf moralischen Fortschritt muss ich für verschwindend klein halten, so wie er auch in politischer und socialer Beziehung nicht allzu hoch zu veranschlagen ist, da auf diesen Gebieten die Theorie meist erst der instinctiv ergriffenen Praxis nachhinkt. Von unberechenbarer Wichtigkeit ist er dagegen auf die Fortschritte der Technik. Was leisten diese aber für das menschliche Glück? Offenbar nichts, als dass sie die Möglichkeit zu socialen und politischen Fortschritten gewähren, und die Bequemlichkeit und allenfalls auch den überflüssigen Luxus erhöhen! Theils geschieht dies direct, theils durch Erleichterung und Vervollkommnung der Handelsverbindungen. Fabriken, Dampfschiffe, Eisenbahnen und Telegraphen haben noch nichts Positives für das Glück der Menschheit geleistet, sie haben nur einen Theil der Hindernisse und Unbequemlichkeiten, von welchen der Mensch bisher eingeengt und bedrückt war, vermindert. Wenn eine rationellere Bodenbewirthschaftung und erleichterte Einfuhr aus menschenärmeren Gegenden den Culturvölkern einen stärkeren Nahrungsvorrath zu Gebote gestellt hat, so hat dies allerdings den Erfolg gehabt, dass die Bevölkerungszahl dieser Culturvölker zum Theil sehr erheblich gewachsen ist; ist dadurch aber das Glück oder das Elend des Einzelnen wie der Gesammtheit gewachsen? Zumal wenn man bedenkt, dass mit wachsender Erdbevölkerung auch die Anzahl der[383] auf der Hungergrenze lebenden Millionen wächst! Der vergrösserte Nahrungsertrag der Erde, die vergrösserte Bequemlichkeit und der vergrösserte Luxus in Verbindung stellen den vergrösserten Nationalreichthum resp. Erdenreichthum dar; auch dieser letztere kann also nicht als ein Wachsthum an positivem Glück aufgefasst werden; zu einem Theile bewirkt er nichts als eine Vermehrung der Bevölkerung und damit des Elendes, zum anderen Theile beruht seine Hochschätzung auf der durch den instinctiven Erwerbstrieb geschaffenen Illusion, zum dritten Theile ist sein Erfolg eine Verminderung der Unlust und eine Annäherung an den Nullpunct der Empfindung, der niemals zu erreichen ist. Der einzige positive Nutzen des Wachsthumes der Wohlhabenheit ist der, dass er Kräfte, die vorher im Kampfe mit der Noth gebunden waren, frei macht für die Geistesarbeit, und dass er dadurch den Weltprocess beschleunigt. Dieser Erfolg kommt aber nur dem Process als solchem, keineswegs den im Process befindlichen Individuen oder Nationen zu Gute, welche doch bei Vermehrung ihres Nationalreichthums für sich zu arbeiten wähnen.
Die letzten grossen Fortschritte der Welt, welche uns zu erwägen bleiben, sind die politischen und socialen. Nehmen wir an, der vollkommenste Staat sei realisirt, und die Erdbevölkerung hätte ihre politische Aufgabe in vollendeter Weise gelöst. Was hat man dann an diesem staatlichen Gebilde? Ein Schneckengehäuse ohne Schnecke, eine leere Form, die ihrer anderweitigen Erfüllung harrt! Die Menschheit lebt doch nicht, um sich zu regieren, sonders sie regiert sich, um leben (im höchsten Sinne des Wortes) zu können. Alle die so bekannten Aufgaben des Staates sind negativer Natur, sie heissen Schutz gegen, Sicherung vor, Abwehr von, u.s.w. Wo der Staat positive Aufgaben erfüllt (z.B. Unterricht); greift er in das Gebiet der Gesellschaft über, was bei der Unreife der letzteren zeitweilig zur Nothwendigkeit werden kann. Der erreichte vollkommenste Staat thut also nichts, als dass er den Menschen dahin stellt, wo er ohne Furcht vor unberechtigten Eingriffen anfangen kann zu leben, d.h. seine Kräfte und Fähigkeiten nach allen den Richtungen zu entfalten, welche nicht die von ihm beanspruchten staatlichen Rechte in anderen verletzen. Also auch das Ideal des Staates stellt den Menschen erst auf den Bauhorizont seines Glückes.
Mit den socialen Idealen ist es nicht anders. Sie lehren gewisse Erleichterungen im Kampfe mit der Noth um des Lebens Nothdurft durch das Princip der solidarischen Gemeinschaft und[384] andere Hilfsmittel, sie lehren die Plagen und Sorgen, welche man durch die Befriedigung des Hausstandsgründungsinstinctes über sich zieht, durch bestmöglichste Einrichtung der Familienverhältnisse möglichst zu mildern, den Pflichten der Kindererziehung auf möglichst wenig drückende Art gerecht zu werden, u.s.w. – Immer handelt es sich nur um Linderung von Uebeln, nicht um Erlangung positiven Glückes. Die einzige scheinbare Ausnahme wäre die genossenschaftliche Mehrung der Gesammtwohlhabenheit, aber diese ist schon weiter oben berücksichtigt.
Dies wären nun die Hauptrichtungen des Weltfortschrittes. Soweit sie auf Realitäten beruhen, kommen sie darin überein, den Menschen aus der Tiefe seines Elendes mehr und mehr dem Bauhorizont der Empfindung entgegen zu heben. Wären die idealen Ziele erreicht, so wäre der Nullpunct oder Indifferenzpunct der Empfindung in Bezug auf diese Lebensrichtungen erreicht; da aber Ideale ewig Ideale bleiben, und die Fortschritte der Wirklichkeit sich ihnen wohl nähern, aber nie sie erreichen können, so wird in dieser Lebensrichtung die Welt nie die Höhe des Nullpunctes erreichen, sondern stets unterhalb desselben in der überwiegenden Unlust stecken bleiben.
Man kann sich über den eudämonologischen Werth der Weltfortschritte klar werden, auch ohne sich darum zu bekümmern, worin sie bestehen. Man braucht nur an die Analogie des Einzelnen zu denken. Wer in eine bessere Lebenslage kommt, wird bei dem Uebergang vom Schlechteren zum Besseren allerdings Lust empfinden; aber erstaunlich schnell verschwindet diese Lust, die neuen besseren Umstände werden als etwas sich von selbst Verstehendes hingenommen, und der Mensch fühlt sich nicht um ein Haar breit glücklicher, als in seiner früheren Lage. (Der Uebergang aus dem Besseren in's Schlechtere erzeugt schon eine viel länger anhaltende Unlust.) Gerade so ist es bei einer Nation, gerade so bei der Menschheit. Wer fühlt sich wohl jetzt wohler als vor dreissig Jahren, weil es jetzt Eisenbahnen giebt, und damals keine? Und sollte den älteren Personen der Unterschied mit damals noch zur Empfindung kommen, so doch gewiss nicht denen, welche nach Entstehung der Eisenbahnen geboren sind. Es hat sich mit den vermehrten Mitteln nichts weiter vermehrt, als die Wünsche und Bedürfnisse, und in Folge davon die Unzufriedenheit. Und sollte sogar die Menschheit jemals dazu gelangen, die ansteckenden Krankheiten durch Prophylaxis und Nosophthorie, die[385] erblichen durch rationellere Menschenzüchtung (vermittelst Wiederfreigebung des unnatürlich beschränkten und fast auf den Kopf gestellten Kampfes um's Dasein), die übrigen durch Fortschritte der Hygiene und Medicin loszuwerden, sollte es ihr auch gelingen, die Nahrungsmittel aus unorganischen Stoffen in chemischen Fabriken darzustellen, und die Vermehrung ohne Beschränkung des Fortpflanzungstriebes nach Maassgabe der auf Erden verfügbaren Nahrungsmittel willkürlich zu regeln – so würden dennoch alle diese Fortschritte nichts Positives bieten, sondern nur die schlimmsten und zum Theil unnatürlichsten Uebelstände der gegenwärtigen physischen und socialen Verhältnisse beseitigen oder doch lindern; aber zugleich würden sie die Frage um so brennender in's Bewusstsein treten lassen, was denn nun mit diesem Leben anzufangen, mit welchem Inhalt von absolutem inneren Werthe es zu erfüllen sei, – was für die Ertragung der aus den ersten Elementarbetrachtungen folgenden Last des Lebens entschädige?
Während vorher die Unbehaglichkeit des Daseins, insoweit sie empfunden wurde, auf äussere Uebelstände und Mängel als auf ihre Ursachen zurückgeführt, und die Erlangung eines behaglichen Zustandes von der Beseitigung der jedesmal am drückendsten sich fühlbar machenden äusseren Uebel erhofft wurde, wird der Irrthum, der in diesem Hinausprojiciren der Ursache der Unbehaglichkeit liegt, um so mehr erkannt, je mehr die handgreiflichen äusserlichen Missstände des menschlichen Lebens durch den Weltfortschritt gehoben werden, und in demselben Maasse, als diese Ausflucht vor der pessimistischen Einsicht in das Wesen des eignen Willens durch Abwälzung nach aussen versperrt wird, in demselben Maasse wächst die Erkenntniss, dass der Schmerz dem Willen immanent, dass die Jämmerlichkeit des Daseins in dem Dasein selbst begründet und von den äussern Verhältnissen mehr scheinbar als in Wahrheit abhängig ist. Somit muss alle Annäherung an das Ideal des besten auf Erden erreichbaren Lebens die Frage nach dem absoluten Werth dieses Lebens nur zu einer immer brennenderen machen, da sowohl die je länger je mehr wachsende Durchschauung der illusorischen Beschaffenheit der allermeisten positiven Lust wie die immer deutlicher und deutlicher sich aufdrängende Einsicht in die Unentrinnbarkeit des in der eigenen Brust wie ein seine Gestalt ewig wechselnder Kobold lauernden Elends zu diesem Erfolge zusammenwirken. Wie nach Paulus das den Juden gegebene Gesetz gerade die »Kraft« der Sünde war (1 Cor. 15, 56). so ist der[386] höchstmöglichste Weltfortschritt die »Kraft« des pessimistischen Bewusstseins der Menschheit.A78 Und gerade weil er dies ist, und nur weil er dies ist, ist der höchstmöglichste Weltfortschritt practisches Postulat. Während die Menschen den Fortschritt gewöhnlich nur deshalb verlangen, weil sie glücklicher zu werden hoffen, können wir hierin nur die practisch heilsame Verblendung des dritten Stadiums der Illusion erkennen, durch welche das Unbewusste die Menschen zu Leistungen stimulirt, die sie meistens noch nicht fähig wären, sich aufzuerlegen, wenn sie die wahren Zwecke des Unbewussten durchschauten. Wenn es aber wahr ist, dass die Steigerung des Bewusstseins bis zu einer Allgemeingültigkeit des pessimistischen Bewusstseins der Menschheit der dem Endzweck unmittelbar vorhergehende Zweck des Unbewussten ist (wie wir im nächsten Cap. sehen werden), dann ist von unserm Standpunct der Weltfortschritt gerade deshalb so dringendes Erforderniss, weil er zu diesem Ziele führt.
Schon im Resumé des ersten Stadiums der Illusion haben wir gesehen, dass Naturvölker nicht elender, sondern glücklicher als Culturvölker sind, dass die armen, niedrigen und rohen Stände glücklicher sind als die reichen, vornehmen und gebildeten, dass die Dummen glücklicher sind als die Klugen, überhaupt dass ein Wesen um so glücklicher ist, je stumpfer sein Nervensystem ist, weil der Ueberschuss der Unlust über die Lust desto kleiner, und die Befangenheit in der Illusion desto grösser wird. Nun wachsen aber mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit nicht nur Reichthum und Bedürfnisse, sondern auch die Sensibilität des Nervensystems, und die Capacität und Bildung des Geistes, folglich auch der Ueberschuss der empfundenen Unlust über die empfundene Lust und die Zerstörung der Illusion, d.h. das Bewusstsein der Armseligkeit des Lebens, der Eitelkeit der meisten Genüsse und Bestrebungen und das Gefühl des Elendes; es wächst mithin sowohl das Elend, als auch das Bewusstsein des Elendes, wie die Erfahrung zeigt, und die vielfach behauptete Erhöhung des Glückes der Welt durch die Fortschritte der Welt beruht auf einem ganz oberflächlichen Schein. (Dies ist ganz besonders für Diejenigen zu beherzigen, welche etwa mit mir nicht darin einverstanden sind, dass gegenwärtig die Summe der Unlust in der Welt die Summe der Lust überwiege.)
Wie das Leiden der Welt gewachsen ist mit der Entwickelung der Organisation von der Urzelle an bis zur Entstehung des Menschen,[387] so wird es weiter wachsen mit der fortschreitenden Entwickelung des menschlichen Geistes, bis dereinst das Ziel erreicht ist. Eine kindliche Kurzsichtigkeit war es, wenn Rousseau aus der Erkenntniss des wachsenden Leidens den Schluss zog: die Welt muss wo möglich umkehren, zum Kindesalter zurück! Als ob das Kindesalter der Menschheit nicht auch Elend gewesen wäre! Nein, wenn schon rückwärts, dann weiter, immer weiter, bis zur Erschaffung der Welt! Aber wir haben ja keine Wahl, wir müssen vorwärts, auch wenn wir nicht wollen. Nicht jedoch das goldene Zeitalter liegt vor uns, sondern das eiserne, und die Träumereien von dem goldenen Zeitalter der Zukunft erweisen sich als noch viel nichtiger, wie die von dem der Vergangenheit. Wie die Last dem Träger um so schwerer wird, einen je weiteren Weg er sie trägt, so wird auch das Leiden der Menschheit und das Bewusstsein ihres Elendes wachsen und wachsen bis in's Unerträgliche. Man kann auch die Analogie mit den Lebensaltern des Einzelnen benutzen. Wie der Einzelne zuerst als Kind dem Augenblicke lebt, dann als Jüngling in transcendenten Idealen schwärmt, dann als Mann dem Ruhm und später dem Besitz und der practischen Wissenschaft nachstrebt, bis er endlich als Greis, die Eitelkeit alles Strebens erkennend, sein müdes, nach Frieden sich sehnendes Haupt zur Ruhe legt, so auch die Menschheit. Sehen wir doch die Nationen entstehen, reifen und vergehen, finden wir doch auch an der Menschheit die deutlichsten Symptome des Aelter-Werdens; warum sollten wir bezweifeln, dass nach der kräftigen Mannesthätigkeit auch für sie einst das Greisenalter kommt, wo sie zehrend von den practischen und theoretischen Früchten der Vergangenheit, in eine Periode der reifen Beschaulichkeit eintritt, wo sie die ganzen wüst durchstürmten Leiden ihres vergangenen Lebenslaufes mit wehmüthiger Trauer in Eins fassend überschaut, und die ganze Eitelkeit der bisherigen vermeintlichen Ziele ihres Strebens begreift.
Nur Ein Unterschied ist zwischen ihr und dem Individuum: die greise Menschheit wird keinen Erben haben, dem sie ihre aufgehäuften Reichthümer hinterlassen kann, keine Kinder und Enkel, die Liebe zu welchen die Klarheit ihres Denkens stören könnte. Dann wird sie in jener erhabenen Melancholie, welche man bei Genies oder auch bei geistig hochstehenden Greisen gewöhnlich findet, gleichsam wie ein verklärter Geist über ihrem eigenen Leibe schweben, und wie Oedipus auf Kolonos in dem vorgefühlten Frieden des Nichtseins die Leiden des Seins gleichsam nur noch als fremde[388] fühlen nicht mehr ein Leid, sondern nur noch ein Mitleid mit sich selbst. Das ist die Himmelsklarheit, jene göttliche Ruhe, die in Spinoza's Ethik weht, wo die Leidenschaften in dem Abgrunde der Vernunft verschlungen sind, weil sie klar und deutlich in Ideen gefasst sind. Aber selbst wenn wir jenen Zustand reiner Leidenschaftslosigkeit als erreicht annehmen, wenn selbst das Leid in Mitleid mit sich verklärt ist, es hört doch nicht auf, Trauer, d.h. Unlust zu sein. Die Illusionen sind todt, die Hoffnung ist ausgebrannt; denn worauf sollte man noch hoffen? Die todesmüde Menschheit schleppt ihren gebrechlichen irdischen Leib mühsam von Tage zu Tage weiter. Das höchste Erreichbare wäre doch die Schmerzlosigkeit, denn wo sollte das positive Glück noch gesucht wer den? Etwa in der eitlen Selbstgenügsamkeit des Wissens, dass Alles eitel ist, oder dass im Kampfe mit jenen eitlen Trieben die Vernunft nunmehr gewöhnlich Sieger bleibt! O nein, solche eitelste von allen Eitelkeiten, solcher Verstandeshochmuth ist dann längst überwunden! Aber auch die Schmerzlosigkeit erreicht die greise Menschheit nicht, denn sie ist ja kein reiner Geist, sie ist schwächlich und gebrechlich, und muss trotzdem arbeiten, um zu leben, und weiss doch nicht, wozu sie lebt; denn sie hat ja die Täuschungen des Lebens hinter sich, und hofft und erwartet nichts mehr vom Leben. Sie hat, wie jeder sehr alte und über sich selbst klare Greis nur noch einen Wunsch: Ruhe, Frieden, ewigen Schlaf ohne Traum, der ihre Müdigkeit stille. Nach den drei Stadien der Illusion, der Hoffnung auf ein positives Glück, hat sie endlich die Thorheit ihres Strebens eingesehen, sie verzichtet endgültig auf alles positive Glück, und sehnt sich nur noch nach absoluter Schmerzlosigkeit, nach dem Nichts, Nirwana. Aber nicht, wie auch früher schon, dieser oder jener Einzelne, sondern die Menschheit sehnt sich nach dem Nichts, nach Vernichtung. Dies ist das einzig denkbare Ende von dem dritten und letzten Stadium der Illusion.
Wir begannen dieses Capitel mit der Frage, ob das Sein oder das Nichtsein der bestehenden Welt den Vorzug verdiene, und haben diese Frage nach gewissenhafter Erwägung dahin beantworten müssen, dass alles weltliche Dasein mehr Unlust, als Lust mit sich bringe, folglich das Nichtsein der Welt ihrem Sein vorzuziehen wäre. Als Ursache dieses Verhältnisses haben wir jene im ersten Stadium der Illusion unter 1) zusammengestellten Momente erkannt, welche bewirken, dass alles Wollen nothwendigerweise mehr Unlust, als Lust zur Folge haben muss, dass also alles Wollen thöricht und[389] unvernünftig ist. Schon damals war das einzig mögliche Resultat klar zu erkennen; die ganze nachfolgende Untersuchung war nur der empirisch inductive Nachweis der Richtigkeit jener Consequenz, den wir uns freilich, wenn wir sicher gehen wollten, nicht ersparen durften.A79
Wenn dem Leser, der die Geduld hatte, mir bis hierher zu folgen, dieses Resultat trostlos erscheint, so muss ich ihm erklären, dass er sich im Irrthum befand, wenn er in der Philosophie Trost und Hoffnung zu finden suchte. Zu solchen Zwecken giebt es Religions- und Erbauungsbücher. Die Philosophie aber forscht rücksichtslos nach Wahrheit, unbekümmert darum, ob das, was sie findet, dem in der Illusion des Triebes befangenen Gefühlsurtheil behagt oder nicht. Die Philosophie ist hart, kalt und fühllos wie Stein; im Aether des reinen Gedankens schwebend strebt sie nach der frostigen Erkenntniss dessen, was ist, seiner Ursachen und seines Wesens. Wenn die Kraft des Menschen der Aufgabe nicht gewachsen ist, die Resultate des Denkens zu ertragen, und das vom Jammer zusammengekrampfte Herz vor Grauen erstarrt, vor Verzweiflung bricht, oder weichlich im Weltschmerz zerfliesst und aus einem dieser Gründe der practisch-psychologische Mechanismus durch solche Erkenntniss aus den Fugen geht, – dann registrirt die Philosophie diese Thatsachen als schätzbares, psychologisches Material für ihre Untersuchungen. Ebenso registrirt sie es, wenn das Resultat dieser Betrachtungen in der menschlich fühlenden Seele der stärker veranlagten Natur eines andern ein heiliger Unwille, eine die Zähne zusammenbeissender Manneszorn, ein ernster gelassener Grimm über den wahnwitzigen Carneval der Existenz ist, oder wenn dieser Grimm in einen mephistophelisch angehauchten Galgenhumor überschlägt, der mit halb unterdrücktem Mitleid und halb freigelassenem Spott sowohl auf die in der Illusion des Glücks Befangenen wie auf die in Gefühlsjammer Zerflossenen mit gleich souveräner Ironie hinabblickt, – oder wenn das mit dem Verhängniss ringende Gemüth nach einem letzten befreienden Ausweg aus dieser Hölle späht. Der Philosophie selbst aber ist das namenlose Elend des Daseins – als Zur-Erscheinung-Kommen der Thorheit des Wollens – nur Durchgangsmoment der theoretischen Entwickelung des Systems.[390]
A78 | S. 387 Z. 2. (Vgl. hierzu »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. S. 509-511, 533-568 und Taubert's »Pessimismus« Nr. X »Die Glückseligkeit als historische Zukunftsperspective«.) |
A79 | S. 390 Z. 5. In diesem letzten Absatz ist deutlich ausgesprochen, dass die von mir versuchte Beweisführung für die Wahrheit des Pessimismus doppelter Art ist: erstens eine kürzere deductive (S. 295-305), und zweitens eine längere inductive (S. 305-390). Die erstere ist eine Berichtigung, die zweite eine Ergänzung zu der von Schopenhauer versuchten Beweisführung. Dass die letztere, d.h. die inductive Beweisführung sich direct auf die Erfahrung, und zwar im Sinne von Welt- und Lebenserfahrung stützt, ist noch nicht bestritten worden; wohl aber ist verkannt worden, dass auch die erstere, deductive Beweisführung sich indirect auf Erfahrung stützt, nämlich auf psychologische Erfahrung und auf psychologische Gesetze, die aus derselben inducirt worden sind. Unrichtig ist demnach die Behauptung, dass meine Beweisführung sich irgendwo auf metaphysische Ansichten oder Dogmen stütze und aus diesen deducire, so dass die Wahrheit des Pessimismus mit der Wahrheit dieser metaphysischen Dogmen hinfällig würde. Unrichtig ist ferner die Ansicht, als ob die Wahrheit des Pessimismus bloss von der Wahrheit der psychologischen Voraussetzungen, aus welchen die deductive Beweisführung deducirt, oder bloss von der Richtigkeit der Deutungen abhänge, welche die inductive Beweisführung den Welt- und Lebenserfahrungen giebt. Die Wahrheit des Pessimismus ist vielmehr durch jede der beiden Beweisführungen auch dann sichergestellt, wenn die andere falsch ist. Wer also den Pessimismus widerlegen will, muss sowohl die deductive psychologische, als auch die inductive Begründung desselben widerlegen (vgl. meinen Aufsatz »Döring's philosophische Güterlehre« in »Zur Gesch. und Begründung des Pess.« 2. Aufl.). Sowohl die deductive psychologische als auch die inductive, unmittelbar auf Welt- und Lebenserfahrung gestützte, begründen zunächst nur den Pessimismus für diese empirisch gegebene Welt, oder den empirischen Pessimismus. Innerhalb der inductiven Beweisführung kann man noch unterscheiden diejenigen Theile, welche sich auf das natürliche Leben beziehen, und diejenigen, welche sich auf das sittliche und religiöse Leben beziehen, und kann dieselben als »empirischen, sittlichen, und religiösen Beweis« des Pessimismus bezeichnen. Die vorhergehende Darstellung beschränkt sich neben dem deductiven oder psychologischen Beweis wesentlich auf die Argumente des empirischen Beweises, und giebt für den sittlichen und religiösen Beweis nur flüchtige Andeutungen, welche in der »Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins« und der »Religionsphilosophie« weiter ausgeführt sind. Die Tragweite des empirischen Beweises ist auf die uns erfahrungsmässig gegebene Welt beschränkt; seine Geltungssphäre erstreckt sich also nicht auf anderartige Erscheinungswelten unter anderartigen Existenzbedingungen, so dass dem empirischen Beweise gegenüber die Phantasie in der Ausmalung eines transcendenten Optimismus freie Hand behält. Dagegen reicht die Geltungssphäre des psychologischen Beweises so weit wie diejenige der psychologischen Gesetze des Wollens und der Lust und Unlust, aus welchen er deducirt, und die Geltungssphäre des sittlichen und religiösen Beweises reicht genau so weit, wie die Existenz eines sittlichen und religiösen Bewusstseins. Da nun aber das Interesse an der Annahme und optimistischen Ausmalung anderartiger Erscheinungswelten aufhören würde mit Aufhebung der psychologischen Gesetze des Wollens und der Lust und Unlust und mit dem Aufhören eines sittlichen und religiösen Bewusstseins in den unsterblichen Individualgeistern, so erstreckt sich die Geltungssphäre des psychologischen, sittlichen und religiösen Beweises auf alle möglichen jenseitigen Erscheinungswelten, welche anzunehmen, die menschliche Phantasie geneigt sein könnte. Durch diese drei Beweise wird also auch der jenseitige Optimismus (des zweiten Stadiums der Illusion) widerlegt und der empirische Pessimismus zum phänomenalen Pessimismus schlechthin, d.h. in Bezug auf jede mögliche anderweitige Welt der Individuation, erweitert. Dieser phänomenale Pessimismus umspannt zwar den empirischen und jenseitigen Pessimismus, bleibt aber immer noch innerhalb der Sphäre der objectiv-realen Erscheinung, ohne etwas über den eudämonologischen Zustand des metaphysischen Weltwesens auszusagen. Um auch für dieses die Wahrheit des Pessimismus im Sinne eines metaphysischen Pessimismus zu begründen, bedarf es nun einer weiteren Induction, welche als »metaphysischer Beweis« bezeichnet werden kann. Der metaphysische Beweis kann allerdings einer metaphysischen Voraussetzung nicht entbehren; aber es ist hier auch das erste Mal, dass eine solche in die Erörterung des Pessimismus eintritt, und ausserdem ist es diejenige metaphysische Hypothese, welche wir als die bestbegründete unter allen möglichen durch die vorhergehenden Inductionsreihen nachgewiesen haben, nämlich der metaphysische Monismus oder die Hypothese der Einheit der Weltsubstanz. Auf Grund dieses metaphysischen Monismus einerseits und des phänomenalen Pessimismus andrerseits ergiebt sich der metaphysische Pessimismus als unausweichliche Folgerung. Der metaphysische und der phänomenale Pessimismus zusammen umschliessenden gesammten möglichen umfang des Seins in allen seinen Formen und in jeder Bedeutung des Worts und constituiren damit den Pessimismus im absoluten Sinne, oder den absoluten Pessimismus (vgl. meinen Aufsatz »Die Beweise und Geltungssphären des Pessimismus« in den »Phil. Fragen der Gegenwart« Nr. V 1, S. 78-91). Wer sich künftig anschickt, den Pessimismus zu kritisiren oder zu widerlegen, der wird nicht unterlassen dürfen, diese verschiedenen Beweise und Geltungssphären besser auseinder zu halten, als ich es bei meiner ersten Bearbeitung des Gegenstandes vermochte. |
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