1. Das allgemeine Gedankenprinzip

[379] Der Zusammenhang seiner Philosophie mit den vorhergehenden ist: In Heraklits Idee als Bewegung sind alle Momente absolut verschwindende; Empedokles ist Zusammenfassen dieser Bewegung in die Einheit, aber eine synthetische, ebenso Leukipp und Demokrit, – aber so, daß bei Empedokles die Momente dieser Einheit die seienden Elemente des Feuers, Wassers usf. sind, bei diesen aber reine Abstraktionen, an sich seiende Wesen, Gedanken; hierdurch aber ist unmittelbar die Allgemeinheit gesetzt, denn die Entgegengesetzten haben keinen sinnlichen Halt mehr. Die Einheit kehrt als allgemeine in sich zurück aus der Entgegensetzung (in dem Synthesieren ist das Entgegengesetzte noch getrennt von ihr für sich, nicht der Gedanke selbst das Sein), – der Gedanke, als reiner freier Prozeß in sich selbst, das sich selbst bestimmende Allgemeine, nicht unterschieden vom bewußten Gedanken. Im Anaxagoras tut sich ein ganz anderes Reich auf.

Aristoteles sagt: »Anaxagoras hat erst diese Bestimmungen angefangen«, – ist also der erste, der das absolute Wesen als Verstand oder Allgemeines aussprach, als Denken (nicht Vernunft). Aristoteles und dann andere nach ihm führen das trockene Faktum an, daß ein Hermotimos auch aus Klazomenai dazu Veranlassung gegeben; aber deutlich, bestimmt habe dies Anaxagoras getan. Damit ist dann wenig gedient, da wir weiter nichts erfahren von Hermotimos' Philosophie; viel mag es nicht gewesen sein. Andere haben viel historische Untersuchungen über diesen Hermotimos angestellt. Dieser Name kommt noch einmal vor: α) Wir haben ihn schon angeführt in der Liste derer, von denen erzählt wird, daß Pythagoras, vor seinem Leben als Pythagoras, sie gewesen sei. β) Wir haben eine Geschichte von[379] Hermotimos: er habe nämlich die eigene Gabe besessen, als Seele seinen Leib zu verlassen. Dies sei ihm aber am Ende schlecht bekommen, denn seine Frau, mit der er Händel hatte und die sonst wohl wußte, wie es damit war, zeigte diesen von seiner Seele verlassenen Leib ihren Bekannten als tot, und er wurde verbrannt, ehe die Seele sich eingestellt hatte, die sich freilich wird verwundert haben. Es ist nicht der Mühe wert, zu untersuchen, was dieser alten Geschichte zugrunde liegt, d.h. wie wir die Sache ansehen wollen; man könnte an Verzückung dabei denken. Wir haben eine Menge solcher Geschichten von alten Philosophen, wie von Pherekydes, Epimenides usf.; daß dieser z.B. (eine Schlafmütze) siebenundfünfzig Jahre geschlafen habe.

Das Prinzip des Anaxagoras war, daß er den nous Gedanken oder Verstand überhaupt, als das einfache Wesen der Welt, für das Absolute erkannt hat. Die Einfachheit des nous ist nicht ein Sein, sondern Allgemeinheit (Einheit). Allgemeines ist einfach und von sich unterschieden, – aber so, daß der Unterschied unmittelbar aufgehoben wird und diese Identität gesetzt, für sich ist, das Wesen nicht ein Scheinen in sich, Einzelheit – Reflexion an und für sich bestimmt – ist. Dies Allgemeine für sich, abgetrennt, existiert rein nur als Denken. Es existiert auch als Natur, gegenständliches Wesen, aber dann nicht mehr rein für sich, sondern die Besonderheit als ein Unmittelbares an ihm habend; so Raum und Zeit z.B., das Ideellste, Allgemeinste der Natur als solcher. Aber es gibt keinen reinen Raum und Zeit und Bewegung, sondern dies Allgemeine hat die Besonderheit unmittelbar an ihm, – bestimmter Raum, Luft, Erde man kann keinen reinen Raum zeigen, sowenig als die Materie. Denken ist also dies Allgemeine, aber rein für sich: Ich bin Ich, Ich = Ich. Ich unterscheide eins von mir, aber dieselbe reine Einheit bleibt, – nicht Bewegung, ein Unterschied,[380] der nicht unterschieden, Fürmichsein. Und in allem, was ich denke, wenn das Denken einen bestimmten Inhalt hat, so ist es mein Gedanke, – ich bin mir in diesem Gegenstande ebenso bewußt.

Dies Allgemeine, so für sich Seiende, tritt aber ebenso dem Einzelnen – oder der Gedanke dem Seienden – bestimmt gegenüber. Hier wäre nun die spekulative Einheit dieses Allgemeinen mit dem Einzelnen zu betrachten, wie diese als absolute Einheit gesetzt ist; aber dies wird freilich bei den Alten nicht angetroffen, – den Begriff selbst zu begreifen. Den sich zu einem System realisierenden, als Universum organisierten Verstand, diesen reinen Begriff haben wir nicht zu erwarten. Wie Anaxagoras den nous erklärt, den Begriff desselben gegeben, gibt Aristoteles näher an: Das Allgemeine hat die zwei Seiten, α) reine Bewegung zu sein, und β) das Allgemeine, Ruhende, Einfache. Es ist darum zu tun, das Prinzip der Bewegung aufzuzeigen, – daß dies das Sichselbstbewegende und dies das Denken (als für sich existierend) ist. So Aristoteles. »Nous ist ihm (Anaxagoras) dasselbe mit Seele.« So unterscheiden wir Seele als das Sichselbstbewegende, unmittelbar Einzelne; aber als einfach ist der nous das Allgemeine. Der Gedanke bewegt um etwas willen, der Zweck ist das erste Einfache (die Gattung ist Zweck), er ist das Erste, welches sich zum Resultate macht, – bei den Alten Gutes und Böses, d.h. eben Zweck als Positives und als Negatives.

Diese Bestimmung ist eine sehr wichtige; sie hatte auch bei Anaxagoras noch keine große Ausführung. Während die bisherigen Prinzipien (Aristoteles unterscheidet zuerst Qualität, poion dann Materie und Stoff) stoffartig sind, außer dem Heraklitischen Prozeß, der drittens Prinzip der Bewegung ist, so tritt viertens das Umweswillen, die Zweckbestimmung mit dem nous ein. Dies ist das in sich Konkrete. Aristoteles fügt nach der oben (S. 217) angeführten Stelle[381] hinzu: »Nach diesen« (Ioniern und anderen) »und nach solchen Ursachen« (Wasser, Feuer usf.), »da sie nicht hinreichend sind, die Natur der Dinge zu erzeugen (gennêsai), sind die Philosophen von der Wahrheit selbst, wie schon gesagt, gezwungen worden, weiter zu gehen nach dem damit verbundenen Prinzip (tên echomenên archên). Denn daß auf einer Seite alles sich gut und schön verhalte, anderes aber erzeugt werde, – dazu ist weder die Erde noch sonst ein Prinzip hinreichend, auch scheinen jene dies nicht gemeint zu haben, noch macht es sich gut (kalôs echei), dem Selbstbewegen und dem Zufall (automatô kai tychê) ein solches Werk zu überlassen.« Gut und schön drückt den einfachen, ruhenden Begriff aus, Veränderung den Begriff in seiner Bewegung.

Mit diesem Prinzip kommen nun folgende Bestimmungen herein: a) Verstand überhaupt ist die sich selbst bestimmende Tätigkeit; dies fehlte bisher. Das Werden des Heraklit, was nur Prozeß ist (eimarenê), ist noch nicht das sich selbständig, unabhängig Bestimmende. In der sich selbst bestimmenden Tätigkeit ist zugleich enthalten, daß die Tätigkeit, indem sie den Prozeß macht, sich erhält als das Allgemeine, Sichselbstgleiche. Das Feuer (der Prozeß nach Heraklit) erstirbt; es ist Übergang ins Andere, keine Selbständigkeit. Es ist auch Kreis, Rückkehr zum Feuer; aber das Prinzip erhält sich in seinen Bestimmungen nicht. Es ist nur Übergehen ins Entgegengesetzte gesetzt, – nicht das Allgemeine, welches sich in beiden Formen erhält. ß) Bestimmung der Allgemeinheit liegt darin, wenn sie auch noch nicht förmlich ausgedrückt ist; es bleibt in der Beziehung auf sich in der Bestimmung. Darin liegt 7) Zweck, das Gute.

Ich habe schon neulich (S. 348 f.) auf den Begriff des Zwecks aufmerksam gemacht. Wir dürfen dabei nicht bloß an die Form des Zwecks denken, wie er in uns, in den Bewußten ist. Wir haben einen Zweck; er ist meine Vorstellung, sie ist[382] für sich, kann sich realisieren oder auch nicht. Es liegt im Zweck die Tätigkeit des Realisierens, wir vollführen diese Bestimmung; und das Produzierte muß dem Zwecke gemäß sein, – wenn man nicht ungeschickt ist, muß das Objekt nichts anderes enthalten als der Zweck. Es ist ein Übergang von der Subjektivität zur Objektivität: ich bin unzufrieden mit meinem Zweck, daß er nur subjektiv ist; meine Tätigkeit ist, ihm diesen Mangel zu benehmen und ihn objektiv zu machen. In der Objektivität hat sich der Zweck erhalten. Ich habe z.B. den Zweck, ein Haus zu bauen, ich bin deshalb tätig; es kommt heraus das Haus, der Zweck ist darin realisiert.

Wir müssen aber nicht bei der Vorstellung von diesem subjektiven Zweck stehenbleiben, wo beide, ich und der Zweck, selbständig existieren, wie wir dies gewöhnlich tun. Z.B. Gott, als weise, regiert nach Zwecken; da ist die Vorstellung, daß der Zweck für sich ist, in einem vorstellenden, weisen Wesen. Das Allgemeine des Zwecks ist aber, daß er eine für sich feste Bestimmung ist und daß dann diese Bestimmung, die durch die Bestimmung der Tätigkeit gesetzt ist, weiter tätig ist, den Zweck zu realisieren, ihm Dasein zu geben; aber dies Dasein ist beherrscht durch den Zweck, und er ist darin erhalten. Dies ist, daß der Zweck das Wahrhafte, die Seele einer Sache ist. Das Gute gibt sich selbst Inhalt, indem es mit diesem Inhalt tätig ist, dieser Inhalt sich an Anderes wendet, so erhält sich in der Realität die erste Bestimmung, und es kommt kein anderer Inhalt heraus. Was vorher schon vorhanden war, und was nachher ist, nachdem der Inhalt in die Äußerlichkeit getreten ist, beides ist dasselbe; und das ist der Zweck.

Das größte Beispiel hiervon bietet das Lebendige dar; es erhält sich so, weil es an sich Zweck ist. Das Lebendige existiert, arbeitet, hat Triebe, diese Triebe sind seine Zwecke; es weiß nichts von diesen Zwecken, es ist bloß lebendig, – es sind erste Bestimmungen, die fest sind. Das Tier arbeitet, diese Triebe zu befriedigen, d.h. den Zweck zu erreichen;[383] es verhält sich zu äußeren Dingen, teils mechanisch, teils chemisch. Aber das Verhältnis seiner Tätigkeit bleibt nicht mechanisch, chemisch. Das Produkt, das Resultat ist vielmehr das Tier selbst, es ist Selbstzweck, es bringt in seiner Tätigkeit nur sich selbst hervor; jene mechanischen usf. Verhältnisse werden darin vernichtet und verkehrt. Im mechanischen und chemischen Verhältnis ist dagegen das Resultat ein Anderes; das Chemische erhält sich nicht. Im Zwecke aber ist das Resultat der Anfang, – Anfang und Ende sind gleich. Selbsterhaltung ist fortdauerndes Produzieren, wodurch nichts Neues entsteht – Zurücknahme der Tätigkeit zum Hervorbringen seiner selbst –, immer nur das Alte.

Dies ist nun also der Zweck. Und der nous ist diese Tätigkeit, die eine erste Bestimmung setzt als subjektiv, aber diese wird objektiv gemacht; dadurch wird sie anders, aber dieser Gegensatz wird immer wieder aufgehoben, so daß das Objektive nichts ist als Subjektives. Dies zeigen die gemeinsten Beispiele. Indem wir Triebe befriedigen, setzen wir das Subjektive objektiv und nehmen es wieder zurück. Also diese sich selbst bestimmende Tätigkeit, die dann auch auf Anderes tätig ist, in den Gegensatz tritt (sich setzt), ihn aber wieder vernichtet, ihn beherrscht, sich darin auf sich reflektiert, – ist der Zweck, der nous das Denken. Der Verstand ist das sich in seiner Selbstbestimmung Erhaltende. Die Entwicklung dieser Momente beschäftigt von jetzt an die Philosophie.

Wenn wir genauer zusehen, wie weit es mit der Entwicklung dieses Denkens bei Anaxagoras gekommen ist, wenn wir den weiteren konkreten Sinn des nous suchen, so finden wir weiter nichts als die aus sich bestimmende Tätigkeit, welche ein Maß, eine Bestimmung setzt; die Entwicklung geht nicht weiter als bis zur Bestimmung des Maßes. Anaxagoras gibt uns keine Entwicklung, keine konkretere Bestimmung von dem nous und hierum ist es doch zu tun. Wir haben so noch nichts weiter als die abstrakte Bestimmung des in sich Konkreten.

Über die nähere Bestimmung des nous bei Anaxagoras sagt[384] Aristoteles, er unterscheide Seele und nous nicht immer bestimmt. Häufig spreche er zwar vom nous als der Ursache des Schönen und Rechten (tou kalôs kai orthôs), – daß sich etwas schön und recht verhält; aber der nous sei ihm oft weiter nichts als die Seele. Indem er oder andere sagen, der vor; bewege alles, so sei sie nur das Bewegende. Weiter führt Aristoteles die Bestimmung von Anaxagoras an: der nous sei rein, einfach, ohne Leiden, d.h. ohne durch etwas anderes äußerlich bestimmt zu sein, »unvermischt und nicht in Gemeinschaft mit irgendeinem Anderen«. Dies sind Bestimmungen der einfachen, sich selbst bestimmenden Tätigkeit, diese verhält sich nur zu sich, ist identisch mit sich, nicht einem Anderen gleich, ist die, welche in ihrem Wirken sich selbst gleich bleibt, – Prädikate, die wohl gesagt werden, aber so für sich auch wieder nur einseitig sind.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 379-385.
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