[385] Dies ist die eine Seite im Prinzip des Anaxagoras. Wir haben nun das Herausgehen des nous zu weiteren Bestimmungen, zur Entwicklung zu betrachten. Dies Übrige der Philosophie des Anaxagoras sieht aber zunächst so aus, daß die Hoffnung, zu der uns ein solches Prinzip berechtigt, sehr vermindert wird. Auf der anderen Seite steht diesem Allgemeinen gegenüber das Sein, die Materie (das Mannigfaltige überhaupt), – die Möglichkeit (dynamis), gegen jenes als energeia. Denn das Gute, der Zweck ist auch als Möglichkeit bestimmt, das Allgemeine ist die Möglichkeit; allein das Allgemeine als das Sichselbstbewegende ist vielmehr an sich wirklich (enarges), – das Fürsichsein, dem Ansichsein, der Möglichkeit, dem Passiven gegenüber Aristoteles sagt in der Hauptstelle: »Wenn jemand von Anaxagoras sagte,[385] er habe zwei Prinzipien angenommen«, so würde er, obgleich Anaxagoras »sich nicht bestimmt darüber erklärt«, doch dabei seinen Worten folgen; es würde paradox klingen, da die allgemeine Vorstellung ist, daß der nous sein Prinzip ist, aber es wäre doch ganz richtig. »Anaxagoras sagt, ursprünglich sei alles gemischt. Wo noch nichts abgeschieden ist, da ist noch kein Verschiedenes seiend; es ist weder ein Weißes, Schwarzes, Graues, noch sonst eine Farbe, sondern farblos: keine Qualität (poion), noch Quantität (poson), noch Bestimmtheit (ti). Alles sei gemischt außer dem nous; denn dieser sei ungemischt und rein (amigê kai katharon).«
Dies andere Prinzip ist berühmt unter dem Ausdruck: Homöomerien (homoiomerê); d.h. daß das Existierende, die individuelle Materie (etwas wie Knochen, Metall, Fleisch usf.) in sich aus sich selbst gleichen Teilen bestehe, die zugleich unsinnlich (aidia) seien. In der Darstellung bei Aristoteles ist homoiomeres das Gleichteilige, dann der allgemeine Name dafür. (Riemer übersetzt hê homoiomereia: »die Ähnlichkeit der einzelnen Teile mit dem Ganzen« und hai homoiomereiai: »die Elemente, Urstoffe.« Die Teilchen als homoiomereiai scheinen späteres Wort.) Es tritt bestimmter heraus, wenn wir es vergleichen mit den Vorstellungen Leukipps und Demokrits. Diese Materie oder das Absolute als gegenständliches Wesen sahen wir bei Leukipp und Demokrit sowie bei Empedokles so bestimmt, daß einfache Atome – bei diesem die vier Elemente, bei jenen unendlich viele -nur nach Gestalt unterschieden gesetzt waren, deren Synthesen, Zusammensetzungen die existierenden Dinge sind. Aristoteles sagt hierüber näher: »Anaxagoras behauptet über die Elemente das Entgegengesetzte von Empedokles.« (In einer anderen Stelle dagegen, er nehme, wie er, viele Prinzipien an in Ansicht des Materiellen, und zwar »unendlich viele Prinzipien«.) Entgegen sei er darin dem Empedokles,[386] daß »dieser als Urprinzipien Feuer, Luft, Erde und Wasser annimmt«, vier einfache, ursprünglich Seiende, unvermischt, unveränderlich, die an und für sich bestehen, »durch deren Verbindung alle Dinge entstehen. Im Gegensatze faßte umgekehrt Anaxagoras die Elemente (die Grundbestimmung des Wesens) so auf, daß« das Existierende, Verschiedene, qualitativ Bestimmte, das Individualisierte, »z.B. Fleisch einfach, das Ursprüngliche sei; hingegen solches, wie Wasser, Feuer« usf. (das Ansich des Existierenden oder das allgemeine Element) schlechthin »ein Gemisch aus diesen ursprünglichen Elementen sei«, die unendliche Vermischung alles Existierenden, die es in unendlich kleinen Teilen enthält. Fleisch bestehe aus kleinen Fleischteilen, Gold aus kleinen Goldteilen usf.
Es galt ihm als Prinzip, wie den Eleaten: Das Gleiche ist nur aus Gleichem; es ist kein Übergang ins Entgegengesetzte, keine Vereinigung Entgegengesetzter möglich: »Aus Nichts wird Nichts.« Alle Veränderung ist ihm daher nur eine Scheidung und Vereinigung des Gleichen; die Veränderung als wahre Veränderung wäre ein Werden aus dem Nichts seiner selbst. »Was wird, war schon vorher da«, nur unsichtbar, an sich. Die Entstehung also ist nur »ein Werden aus schon Seiendem und Vorhandenem, das aber wegen der Kleinheit für uns unempfindbar ist«. Jene Elemente seien ein aus diesen gemischtes Chaos; ihre Gleichförmigkeit sei nur scheinbar. Die Entstehung der konkreten Dinge ist, daß Abscheidung dieser unendlich vielen Prinzipien eintrete, – daß sich das Gleiche aus solchem Chaos abscheidet und sich zu Gleichem findet. Das ist also Abscheidung aus Ungleichen. »Es sei kein Entstehen und Vergehen; das Entstehen sei nur Zusammentun, das Vergehen nur Trennung.« So sagte er zu Anfang seines Werkes: »Zugleich (homou) ist alles gewesen (panta chrêmata ên)« – homou ist freilich unbestimmt[387] –, ungeschieden wie in einem Chaos; »der nous schied es dann und bildete daraus die unterschiedenen Gebilde. Der nous sei das Bewegende, was das Gleiche zueinanderbringe und wieder scheide.« Auf den Unterschied von Empedokles und Anaxagoras geht, was Aristoteles ferner hinzusetzt: »Jener nimmt einen Wechsel (periodon) dieser Zustände an, dieser nur ein einmaliges« Hervortreten.
Der Vorstellung des Demokrit ist die des Anaxagoras insofern ähnlich, daß ein unendlich Mannigfaltiges das Ursprüngliche sei; aber bei ihm erscheint die Bestimmung der Grundprinzipien so, daß sie dasjenige enthält, was wir für das Gebildete, durchaus nicht Fürsicheinfache ansehen. Z.B. Fleischteilchen und Goldteilchen seien ursprüngliche Prinzipien, – voll kommen individualisierte Atome, die durch ihr Zusammenkommen das formieren, was als Gebilde erscheint. Das liegt der Vorstellung nahe. Nahrungsmittel entfalten solche Teile, meint man, die dem Blute, Fleische homogen sind. Das Vertrauen ist nun nichts als Ausscheiden des Homogenen, Aufnehmen desselben und Abscheiden des Heterogenen. Ernähren ist so nur Vermehrung; der Tod ist das Absondern des Gleichen und Sichvermischen mit dem Heterogenen. Was die Ausscheidung des Gleichartigen aus dem Chaos und die Zusammensetzung des Gleichartigen sowie die Auflösung wieder dieses Gleichartigen hervorbringt, ist der nous. Die Tätigkeit ist einfach, sich auf sich beziehend, rein, formell, so für sich inhaltslos.
Dies ist die allgemeine Vorstellung und ganz dieselbe, welche in neuerer Zeit z.B. in der Chemie herrscht. Die chemischen Elemente sind: Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff, Metalle als nur relativ einfach, usw. Sie sagt, wenn man wissen[388] wolle, was Fleisch, Holz, Stein usf. wahrhaft sei, so müsse man ihre einfachen Bestandteile darstellen; und diese seien das Letzte. Sie gibt auch zu, daß vieles nur relativ einfach sei, z.B. bestehe Platin aus drei bis vier Metallen. Man hat so lange das Wasser und die Luft für einfach gehalten; aber die Chemie hat sie jetzt zerlegt. Hier in dieser chemischen Ansicht werden die Prinzipien der natürlichen Dinge als qualitativ bestimmt an genommen und so unveränderlich, unwandelbar. Der Mensch ist hiernach eine Menge von Kohlenstoff, Wasserstoff, etwas Erde, Oxyden, Phosphor usf. Es ist beliebte Vorstellung der Physiker, im Wasser, Luft Sauerstoff, Kohlenstoff zu setzen, die – nur durch Scheidung, Aussonderung – seien. Alle Ernährung und Zunahme sei nicht wahrhafte Assimilation, jedes Eingeweide nehme sich nur seine besonderen Teile; Leber usf. habe eine Nase, so daß das Tier aus den verschiedenen Kräutern, Körpern usf. sich seine Teile herausziehe.
Dies ist ganz der Standpunkt der Philosophie des Anaxagoras, daß das unendlich-qualitativ Bestimmte das Einfache sei (Fleisch sieht man freilich nicht mehr für einfach an, wohl aber Wasserstoffgas usf.) und daß man dann annimmt, das Andere bestehe nur in der Zusammensetzung dieser Einfachen. Es ist freilich diese Vorstellung des Anaxagoras auch verschieden von der der modernen Chemie; das, was wir für konkret halten, ist für ihn ein qualitativ Bestimmtes (das Ursprüngliche). Beim Fleisch gibt er jedoch schon zu, daß die Teile nicht alle gleich sind; es werde aber Fleisch genannt nach der überwiegenden Anzahl der Art Teile, die sich mit anderen vermischt haben. Ja, jedes Ding enthalte alle anderen Dinge: Wasser, Luft, Knochen, Pflanzenfrüchte usf.; und umgekehrt, das Wasser enthalte Fleisch als Fleisch, Knochen usf. In diese unendliche Mannigfaltigkeit der Prinzipien geht also Anaxagoras zurück. Das Sinnliche ist erst durch die Anhäufung aller jener Teilchen entstanden, worin dann die eine Art von Teilchen ein Übergewicht hat, so daß in allem alles ist. Die Homöomerien, deren am meisten irgendwo[389] angehäuft sind, machen, daß uns das Ganze als dieses Bestimmte erscheint.
Diese Ansicht ist ganz verschieden von der Vorstellung des Thales und des Heraklit, wo nicht nur die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit der Verwandlung Eines in ein Anderes zugrunde liegt. Beim Prozeß des Heraklit liegt zugrunde, daß diese gleichen qualitativen Unterschiede sich in anderes verwandeln können, und diese Verwandlung ist eine interessante Bestimmung. Verwandeln ist in einem doppelten Sinn zu nehmen, der Existenz nach und dem Begriffe nach. Wenn bei den Alten von Verwandlung die Rede ist, so nimmt man dies gewöhnlich so, als sei die Verwandlung der Existenz nach gemeint, und untersucht, ob das Wasser z.B. durch chemische Behandlung, Hitze, Destillation usf. in Erde verwandelt werden könne; da hat denn die endliche Chemie ihre Grenze. Ein anderes ist aber die Verwandlung dem Begriffe nach, und dies ist der Sinn bei Heraklit und in allen alten Philosophien. Daß z.B. das Wasser sich in Zeit, in Raum selbst übersetzt, geht nicht in Retorten usf.; aber dieser Übergang von einer Qualität in die andere ist in diesen Philosophien gemeint. In jeder philosophischen Idee kommt es vor, daß das Wasser sich in Luft verwandelt, – d.h. dieser innige Zusammenhang im Begriff: daß das eine nicht sein kann ohne das andere, daß das andere ihm notwendig ist und keines außer diesem Zusammenhang selbständig bestehen kann, – daß das Leben der Natur ist, daß sich eins zum anderen verhält. Man pflegt wohl die Vorstellung zu haben, daß, wenn man das Wasser fortnähme, es zwar den Pflanzen und Tieren schlecht ergehen würde, – aber die Steine könnten doch bleiben; ebenso könnte man bei den Farben z.B. das Blaue wegnehmen, – grün und rot blieben doch. Dies kann man empirisch leicht zeigen; jedes, sagt man, sei qualitativ für sich. Dies ist aber nur der Existenz nach; dem Begriffe nach sind sie nur durch einander, es ist die innere[390] Notwendigkeit. Dies merkt man auch wohl beim Lebendigen; da geht es anders zu, da kommt der Begriff zur Existenz: wenn man das Herz ausschneidet, so geht auch die Lunge usf. zugrunde. Die Natur existiert ebenso nur in der Einheit, als das Gehirn nur ist in der Einheit mit den anderen Organen.
Wir sehen, daß den Anaxagoras – indem er das absolute Wesen als Allgemeines bestimmt – hier im gegenständlichen Wesen oder in der Materie die Allgemeinheit und der Gedanke verläßt. Das Ansich ist kein eigentliches sinnliches Sein. Die erste Erhebung über das sinnliche Sein ist das Negative desselben, das Unsinnliche, d.h. das Nicht-Sichtbare, -Hörbare usf., – dies die höchste Erhebung gemeiner Physiker zum Nichtsinnlichen als bloßem Negativen des Fürunsseins. Aber das Positive ist, daß das seiende Wesen selbst Allgemeines ist. Das Gegenständliche ist nous aber für diesen das andere Sein eine Vermischung Einfacher, die nicht Fleisch nicht Fisch, nicht rot nicht blau ist; aber dies Einfache ist nicht an sich einfach, sondern besteht seinem Wesen nach aus Homöomerien, die aber so klein sind, daß sie nicht empfindbar sind. Die Kleinheit also hebt sie nicht als seiende auf, sondern sie sind aufbehalten; aber eben das Seiende ist, sichtbar, riechbar usf. zu sein. Diese unendlich klein en Homöomerien verschwinden allerdings in der genaueren Vorstellung; Fleisch z.B. ist dies selbst, aber auch eine Mischung von allem, d.h. es ist nicht einfach. Die weitere Analyse zeigt gleich die Verwirrung dieser Vorstellung; Fleisch – nehmen wir weg, was nicht Fleisch ist, so wird es verändert; oder es bleibt, verändert kann es nicht werden. Eine solche Vorstellung muß sich mehr oder weniger in sich selbst verwirren. Auf der einen Seite ist so jedes Gebilde seinem Hauptelemente nach ursprünglich, und diese Teile zusammen machen ein körperliches Ganzes aus, was aber an sich alles entfalten soll. Der nous ist dann nur das Bindende und Trennende, das Diakosmierende. Dies kann uns genügen. Man kann leicht mit den Homöomerien des[391] Anaxagoras in Verwirrung geraten; die Hauptbestimmung muß man aber festhalten.
Die Homöomerien sind auffallende Vorstellung. Wie hängt sie mit dem sonstigen Prinzip des Anaxagoras zusammen? Beziehen wir dies auf das Prinzip des Verstandes, so sind die Vorstellungen übers Einzelne konsequenter, als sie zunächst aussehen. Indem der Verstand das sich selbst Bestimmende ist, so ist der Inhalt Zweck, erhält sich im Verhältnis zu anderem; er entsteht und vergeht nicht, obgleich er in der Tätigkeit ist. Die Vorstellung des Anaxagoras, daß die konkreten Prinzipien bestehen und sich erhalten, ist also konsequent. Er hebt Entstehen und Vergehen auf; es ist nur Veränderung, die Zusammensetzung und Auflösung des Vereinten ist. Die Prinzipien sind konkrete, inhaltsvolle, – so viele Zwecke; in der Veränderung, die vorgeht, erhalten sich vielmehr die Prinzipien. Die Veränderung ist äußerlich, -Verbindung oder Trennung; Gleiches geht nur mit Gleichem zusammen. Die chaotische Vermischung ist freilich Zusammensein von Ungleichen; das ist aber nur Zusammensetzung, nicht ein individuelles lebendiges Gebilde; dieses erhält sich, Gleiches zu Gleichem verbindend. So roh diese Vorstellungen sind, so sind sie eigentlich dem nous noch entsprechend.
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