[434] Zu einer weit größeren Tiefe gelangte dieser Skeptizismus durch Gorgias aus Leontium in Sizilien, einen sehr gebildeten, auch als Staatsmann ausgezeichneten Mann. Während des Peloponnesischen Krieges wurde er Ol. 88, 2 (427[434] v. Chr.), also wenige Jahre nach Perikles' Tode, der Ol. 87, 4 starb, von seiner Vaterstadt nach Athen geschickt (nach Diodoros Sikulos XII, p. 106, Thukydides ist nicht zitiert.) Und als er seinen Zweck erreicht, durchzog er noch viele griechische Städte (Larissa in Thessalien), unterrichtete in ihnen; und erreichte so hohe Bewunderung neben großen Schätzen, bis er, über 100 Jahr alt, starb. Er wird als ein Schüler des Empedokles angegeben, kannte auch die Eleaten, und seine Dialektik hat von der Art und Weise dieser; [sie ist] in Aristoteles' nach ihm benannten, aber nur in Fragmenten auf uns gekommenen Buche De Xenophane, Zenone et Gorgia weiter aufbehalten, in welchem Aristoteles ihn mit ihnen zusammennimmt. Auch Sextus Empirikus hat uns die Dialektik des Gorgias weitläufig aufbewahrt. Er war stark in der Dialektik für die Beredsamkeit; aber sein Ausgezeichnetes ist seine reine Dialektik über diese ganz allgemeinen Kategorien vom Sein und Nichtsein, – nicht nach Art der Sophisten. Tiedemann sagt sehr schief: »Gorgias ging viel weiter, als irgendein Mensch von gesundem Verstande gehen kann.« Das hätte Tiedemann von jedem Philosophen sagen können, jeder geht weiter als der gesunde Menschenverstand; denn was man gesunden Menschenverstand nennt, ist nicht Philosophie, – oft sehr ungesunder. Der gesunde Menschenverstand enthält die Maximen seiner Zeit. So z.B. wäre es vor Kopernikus gegen allen gesunden Menschenverstand gewesen, wenn jemand behauptet hätte, die Erde drehe sich um die Sonne; oder vor der Entdeckung von Amerika, es sei da noch Land. In Indien, China ist Republik gegen allen gesunden Menschenverstand. Dieser ist die Denkweise einer Zeit, in der alle Vorurteile dieser Zeit enthalten sind: die Denkbestimmungen regieren ihn, ohne daß er ein Bewußtsein darüber hat. So ist Gorgias allerdings weitergegangen als der gesunde Menschenverstand.
Die Dialektik des Gorgias ist reiner in Begriffen sich bewegend[435] als das, was wir bei Protagoras gesehen. Indem Protagoras die Relativität oder das Nichtansichsein alles Seienden behauptete, so ist es nur in Beziehung, und zwar aufs Bewußtsein; das andere, das ihm wesentlich ist, ist das Bewußtsein. Gorgias' Aufzeigen des Nichtansichseins des Seins ist reiner; er nimmt das, was als Wesen gilt, an ihm selbst, ohne das Bewußtsein, das Andere, vorauszusetzen, und zeigt seine Nichtigkeit an ihm selbst und unterscheidet davon die subjektive Seite und das Sein für sie. Wir wollen nur historisch die allgemeinen Punkte angeben, die er behandelt hat. Gorgias' Werk nämlich Über die Natur, worin er seine Dialektik verfaßte, zerfällt in drei Teile: In dem ersten beweist er, daß Nichts ist, daß man das Sein von Nichts prädizieren könne; im zweiten (subjektiv), daß kein Erkennen ist, daß, auch angenommen, das Sein wäre, es doch nicht erkannt werden könne; im dritten (wieder objektiv), daß, wenn es auch ist und erkennbar wäre, doch keine Mitteilung des Erkannten möglich sei. Gorgias akkommodierte dem Sextus, nur bewies er noch; das tun die Skeptiker nicht. Es sind sehr abstrakte Denkbestimmungen; es handelt sich hier um die spekulativsten Momente, von Sein und Nichtsein, von Erkennen und von dem sich zum Seienden machenden, sich mitteilenden Erkennen; und es ist kein Geschwätz, wie man sonst wohl glaubt; seine Dialektik ist objektiv. Den Inhalt dieser höchst interessanten Darstellung können wir hier nur kurz angeben.
a) »Wenn Etwas ist« ei estin Dies Etwas ist ein Einschiebsel, das wir in unserer Sprache zu machen gewohnt sind, das aber eigentlich unpassend ist, einen Gegensatz eines Subjekts und Prädikats hereinbringt, da eigentlich nur von Ist die Rede ist), »wenn Ist« (und jetzt wird es erst als Subjekt bestimmt), »so ist entweder das Seiende, oder das Nichtseiende, oder Seiendes und Nichtseiendes. Von diesen Dreien zeigt er nun, daß sie nicht sind.«[436]
α) »Das, was nicht ist, ist nicht; wenn ihm Sein zukommt, so wäre zugleich ein Seiendes und Nichtseiendes. Insofern es gedacht wird als Nichtseiendes, so ist es also nicht, insofern es aber, weil es gedacht wird, sein sollte, so wäre es also als seiend und nichtseiend. – Anders: Wenn das Nichtsein ist, so ist nicht das Sein; denn beide sind entgegengesetzt. Wenn nun dem Nichtsein Sein zukäme, dem Sein aber das Nichtsein, so käme dem Nichtsein also das zu, was nicht ist.«
β) »Dies Räsonnement gehört« (nach dem Aristoteles) »dem Gorgias eigentümlich an; der Beweis aber, daß das Seiende nicht ist, dabei verfährt er wie Melissos und Zenon.«
αα) Nämlich er setzt, daß, »was ist, entweder an sich« aidion »ist ohne Anfang oder entstanden, und zeigt nun, daß es weder das eine noch das andere sein könne«; jedes führt auf Widersprüche, – eine Dialektik, die schon vorgekommen. »Jenes kann es nicht sein; denn was an sich (ewig) ist, kein Prinzip hat, ist unendlich«, mithin unbestimmt und bestimmungslos. Z.B. »das Unendliche aber ist nicht, als nirgends; denn wenn es wo ist, so ist es verschieden von dem, worin es ist«, wo es ist, ist es im Anderen. »Aber das jenige ist nicht unendlich, was verschieden ist von einem Anderen, in einem Anderen enthalten ist. Es ist aber auch nicht in sich selbst enthalten; denn so wird das, worin es ist, und das, was es selbst ist, dasselbe. In was es ist, ist der Ort: das, was in diesem ist, ist der Körper daß beide das selbe seien, ist ungereimt. Das Unendliche ist also nicht.«
Wenn das Sein ist, so ist es widersprechend, von ihm eine Bestimmtheit zu prädizieren; und tun wir dies, so sagen wir etwas bloß Negatives von ihm. Diese Dialektik des Gorgias gegen das Unendliche ist beschränkt, 1. insofern das Ewige unendlich ist, denn es hat keinen Anfang, Grenze, es ist der Fortgang ins Unendliche gesetzt, – dies gilt vom Seienden allerdings, und ist wahr; aber das Ansichseiende, als allgemein,[437] der Gedanke, Begriff, dies hat die Grenze unmittelbar an ihm selbst, die absolute Negativität. 2. Aber das sinnliche Unendliche, die schlechte Unendlichkeit, ist nirgendwo, sie ist nicht gegenwärtig, sie ist ein Jenseits. Was Gorgias als eine Verschiedenheit des Orts nimmt, können wir als Verschiedenheit überhaupt nehmen. Er sagt, es ist irgendwo, also in einem Anderen enthalten, also nicht unendlich, d.h. er setzt es verschieden; umgekehrt es soll nicht verschieden, in sich selbst enthalten sein; so ist Verschiedenheit notwendig zu setzen. Besser und allgemeiner: Dies sinnliche Unendliche überhaupt ist nicht, es ist ein Jenseits des Seins; es ist eine Verschiedenheit, die immer verschieden von dem Seienden gesetzt ist. Sie ist ebenso in sich enthalten; denn sie ist eben dies, verschieden von sich zu sein.
»Ebenso ist das Sein nicht entstanden; so ist es entweder aus dem Seienden oder aus dem Nichtseienden. Jenes nicht, – so ist es schon; dies nicht, – was nicht ist, kann nicht etwas erzeugen.« Dies führten die Skeptiker weiter aus. Der zu betrachtende Gegenstand wird immer unter Bestimmungen mit Entweder-Oder gesetzt; diese Bestimmungen sind dann sich widersprechend. Das ist aber nicht wahrhafte Dialektik; es wäre notwendig zu beweisen, daß der Gegenstand immer in einer Bestimmung notwendig sei, nicht an und für sich sei. Der Gegenstand löst sich nur in jenen Bestimmungen auf; aber daraus folgt noch nichts gegen die Natur des Gegenstandes selbst.
ββ) Ebenso zeigt Gorgias von dem Seienden, »daß es entweder Eins oder Vieles sein müßte, aber auch von beiden keines sein könne. Denn als Eins ist es eine Größe oder Kontinuität, Menge oder Körper; alles dies ist aber nicht Eins, sondern verschieden, teilbar«, – sinnliches, seiendes Eins ist notwendig so, ist ein Anderssein, Mannigfaltiges. »Wenn es nun nicht Eins, so kann es auch nicht Vieles sein; denn das Viele ist viele Eins.«[438]
γ) »Ebenso können beide, Sein und Nichtsein, nicht zugleich sein. Ist ebensowohl eines wie das andere, so sind sie dasselbe, oder sie sind Sein. Sind sie Eins, so sind sie nicht Verschiedene, oder ich kann nicht sagen beide, und es sind nicht beide; denn wenn ich sage beide, so sage ich Verschiedene.« Diese Dialektik hat vollkommene Wahrheit; man sagt, indem man von Sein und Nichtsein spricht, immer auch das Gegenteil von dem, was man sagen will, und Sein und Nichtsein als dasselbe und als nicht dasselbe. »Sie sind dasselbe«, so sage ich beide, also Verschiedene; »Sein und Nichtsein sind Verschiedene«, so sage ich von ihnen dasselbe Prädikat: Verschiedene usf. Diese Dialektik darf uns nicht verächtlich scheinen, als ob sie es mit leeren Abstraktionen zu tun habe: 1. sind sie das Allgemeinste; 2. so, wenn wir sie rein haben, sprechen wir von Sein und Nichtsein verächtlich, als ob uns nicht das Letzte wäre: es ist, es ist nicht. Wenn wir soweit gekommen, können wir beruhigt dabei stehenbleiben, als ob nichts so Bestimmtes gesagt werden könnte; und »Sein oder Nichtsein ist immer die Frage«; aber sie sind nicht das Bestimmte, sich fest Abscheidende, sondern sich Aufhebende. Gorgias ist sich ihrer bewußt, daß dies verschwindende Momente sind; das bewußtlose Vorstellen hat diese Wahrheit auch, weiß aber nichts davon.
b) Verhältnis des Vorstellenden zur Vorstellung, Unterschied der Vorstellung und des Seins, – ein Gedanke, der heutzutage gang und gäbe. »Wenn aber auch Ist, so ist es doch unerkennbar und undenkbar; denn das Vorgestellte ist nicht das Seiende, sondern es ist ein Vorgestelltes. Wenn was vorgestellt wird, weiß ist, so geschieht es, daß das Weiße vorgestellt wird; wenn nun das, was vorgestellt wird, nicht das Seiende selbst ist, so geschieht, daß, was ist, nicht vorgestellt wird.
α) Wenn was vorgestellt wird, das Seiende ist, so ist auch das seiend, was vorgestellt wird; aber es wird niemand sagen, daß, wenn sich ein fliegender Mensch oder[439] ein Wagen auf dem Meere zu fahren vorgestellt wird, dies sei. β) Wenn das Seiende das Gedachte ist, so wird das Entgegengesetzte nicht gedacht, nämlich das Nichtseiende; aber dies Nichtseiende wird alles vorgestellt, z.B. Skylla und Charybdis.« Gorgias hat 1. eine richtige Polemik gegen den absoluten Realismus, welcher, indem er vorstellt, meint, die Sache selbst zu haben, aber nur ein Relatives hat; 2. verfällt er in den schlechten Idealismus neuerer Zeiten: »Das Gedachte ist immer subjektiv, also nicht das Seiende; durch das Denken verwandeln wir ein Seiendes in Gedachtes.«
c) Ebenso beruht darauf endlich seine Dialektik in Ansehung des Dritten; denn das Erkennen ist nicht Mitteilen. »Wenn auch das Seiende vorgestellt würde, so könnte es nicht gesagt und mitgeteilt werden. Die Dinge sind sichtbar, hörbar usf., werden empfunden überhaupt. Das Sichtbare wird durch Sehen aufgefaßt, das Hörbare durch das Hören und nicht umgekehrt; es kann also nicht eines durch das andere angezeigt werden. Die Rede, wodurch das Seiende geäußert werden sollte, ist nicht das Seiende; was mitgeteilt wird, ist nicht das Seiende, sondern nur sie.« In dieser Weise ist Gorgias' Dialektik das Festhalten an diesem Unterschiede, gerade so, wie er bei Kant wieder hervorgetreten ist; halte ich an diesem Unterschiede fest, so kann freilich das, was ist, nicht erkannt werden.
Diese Dialektik ist allerdings unüberwindbar für denjenigen, der das (sinnliche) Seiende als Reelles behauptet. Seine Wahrheit ist nur diese Bewegung, als seiend sich negativ zu setzen; die Einheit hiervon ist der Gedanke. Das Seiende wird auch nicht als seiend aufgefaßt, sondern sein Auffassen ist, es allgemein zu machen. »Ebensowenig kann es mitgeteilt werden.« Dies muß im strengsten Sinne genommen werden; es kann gar nicht gesagt werden: dieses Einzelne. Die philosophische Wahrheit ist also nicht nur so gesagt, als ob[440] eine andere wäre im sinnlichen Bewußtsein; sondern das Sein ist so vorhanden, wie es die philosophische Wahrheit aussagt. Die Sophisten machten also auch Dialektik, allgemeine Philosophie zu ihrem Gegenstande und waren tiefe Denker.
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