c. Johannes Duns Scotus

[565] Duns Scotus, Doctor subtilis, ein Franziskaner, geboren zu Dunston in der Grafschaft Northumberland, hatte nach und nach an 30 000 Zuhörer. Im Jahre 1304 kam er nach Paris und 1308 nach Köln, als Doktor der dasigen neuen Universität. Er wurde mit großer Feierlichkeit empfangen, starb jedoch daselbst bald nach seiner Ankunft am Schlagfluß, soll lebendig begraben worden sein. Er soll nur 34, nach anderen 43, nach anderen 63 Jahr alt geworden sein; das Jahr seiner Geburt ist nicht bekannt. Er schrieb Kommentarien über den Magister sententiarum (Petrus Lombardus), die ihm den Ruhm eines sehr scharfsinnigen Denkers verschafften: nach der Ordnung, daß er anfängt mit dem Beweise der Notwendigkeit einer übernatürlichen Offenbarung gegen das bloße Licht der Vernunft. Er fügte zu jeder Sentenz eine Menge distinctiones, quaestiones, problemata, solutiones, argumenta pro et contra. Wegen seines Scharfsinns hat man ihn auch den Deus inter philosophos genannt. Er erhielt ganz ungeheure Lobeserhebungen. Man sagte von ihm: »Er hat die Philosophie so ausgebildet, daß er selbst deren Erfinder hätte sein können, wenn er sie nicht schon vorgefunden hätte; er wußte die Mysterien des Glaubens so, daß er sie fast nicht geglaubt hat, die Geheimnisse der Vorsehung,[565] als ob er sie durchdrungen, die Eigenschaften der Engel, als ob er selbst ein Engel wäre; er schrieb in wenigen Jahren so vieles, daß es zu lesen kaum ein Mensch (unus), es zu verstehen kaum irgend jemand hinreicht.«

Er behauptete das Prinzip der Individuation und das Allgemeine als formell. – Es scheint nach allen Zeugnissen, daß er der scholastischen Disputiermethode und dem Stoff derselben zu ihrer höchsten Höhe verholfen, eine unendliche Menge von Sätzen, barbarischen neuen Wörtern, Zusammensetzungen und Unterscheidungen erfunden. Seine Manier ist, einem Satze, einer Sentenz eine lange Reihe von Argumentationen in Schlüssen beigefügt und sie in einer ebensolchen Reihe widerlegt zu haben; die pro et contra-Methode mit Gründen und Gegengründen hat er auf den höchsten Gipfel gebracht. Es fiel damit auch wieder alles auseinander; daher gilt er dafür, daß er der Urheber der quodlibetanischen Methode gewesen. Die Quodlibeta hießen Sammlungen vermischter Abhandlungen über einzelne Gegenstände in der gewöhnlichen Manier zu disputieren, die über alles spricht, aber ohne systematische Ordnung, und ohne daß ein Ganzes ausgeführt und dargestellt wurde; die anderen schrieben aber summas. Das Latein ist sehr barbarisch, aber zur philosophischen Bestimmtheit gut geeignet.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 565-566.
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