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[30] Wie in der äußeren Natur der Stoff oder die Materie, so verhält sich im innern Leben des Menschen die Empfindung. Wenn man glaubt, daß Bewußtsein ohne Empfindung sein könne, so liegt dabei eine feine Täuschung zugrunde. Man kann ein sehr lebhaftes Bewußtsein haben, das sich mit den höchsten und wichtigsten Dingen beschäftigt und dabei nur Empfindungen von verschwindender sinnlicher Stärke. Immer aber sind Empfindungen vorhanden, aus deren Verhältnis und Harmonie oder Disharmonie sich Inhalt und Bedeutung des Bewußtseins aufbauen, wie der Dom aus dem rohen Stein, die inhaltvolle Zeichnung aus ihren materiellen Linien oder die Blume aus dem organischen Stoff. – Wie nun der Materialist, in die äußere Natur blickend, die Formen der Dinge aus ihren Stoffen ableitet und diese zur Grundlage seiner Weltanschauung macht, so leitet der Sensualist das ganze Bewußtsein aus den Empfindungen ab.
Sensualismus und Materialismus betonen also im Grunde beide den Stoff im Gegensatz zur Form; es fragt sich nun, wie sie sich unter sich auseinandersetzen.
Offenbar nicht bloß durch einen Vertrag, nach dem man ohne weiteres im inneren Leben Sensualist, im äußeren Materialist sein könnte. Dieser Standpunkt ist zwar in der inkonsequenten Praxis der häufigste, aber er ist kein philosophischer.
Vielmehr wird der konsequente Materialist leugnen, daß Empfindung vom Stoff getrennt vorhanden sei, er wird daher auch in den Vorgängen des Bewußtseins nur Wirkungen gewöhnlicher stofflicher Veränderungen finden und diese mit den übrigen stofflichen Vorgängen der äußeren Natur unter gemeinsamem Gesichtspunkte betrachten; der Sensualist wird dagegen leugnen müssen daß wir von Stoffen wie von Dingen der Außenwelt überhaupt etwas wissen, da wir doch nur unsere Wahrnehmung von den Dingen haben und nicht wissen können, wie sich diese zu den Dingen an sich verhält. Die Empfindung ist ihm nicht nur der Stoff aller Vorgänge des Bewußtseins, sondern auch der einzige unmittelbar[30] gegebene Stoff, da wir alle Dinge der Außenwelt nur in unseren Empfindungen haben und kennen.
Nun muß wegen der unleugbaren Richtigkeit dieses Satzes, der zugleich dem gewöhnlichen Bewußtsein ferner liegt und eine einheitliche Weltanschauung bereits voraussetzt, der Sensualismus als eine natürliche Fortbildung des Materialismus erscheinen.30 Diese Fortbildung geschah bei den Griechen durch diejenige Schule, welche überhaupt in das antike Leben entwickelnd und wieder zersetzend am tiefsten eingriff, durch die Sophisten.
Man erzählt im späteren Altertum, daß der weise Demokrit in seiner Vaterstadt Abdera einst einen Lastträger gesehen habe, der in einer besonders geschickten Weise die Holzstücke, welche er zu tragen hatte, zusammenlegte. Demokrit ließ sich mit dem Manne ein und war so überrascht von seinem Scharfsinn, daß er ihn als Schüler annahm. Dieser Lastträger wurde der Mann, der zu einem großen Umschwung in der Weltstellung der Philosophie Veranlassung gab: er trat für Geld als Lehrer der Weisheit auf: Protagoras, der erste der Sophisten.31
Hippias, Prodikos, Gorgias und eine große Reihe minder berühmter Männer meist aus Platos Schriften sehr bekannt, durchzogen bald die Städte Griechenlands lehrend und disputierend und gewannen zum Teil große Reichtümer. Allenthalben zogen sie die talentvollsten jungen Leute an sich, ihren Unterricht zu genießen gehörte bald zum guten Ton, ihre Lehren und Reden wurden Tagesgespräch der höheren Gesellschaft, ihr Ruhm verbreitete sich mit unglaublicher Schnelligkeit.
Dies war neu in Hellas und nicht nur die alten Marathonkämpfer, die Veteranen der Befreiungskriege schüttelten mit konservativem Bedenken das Haupt: die Anhänger der Sophisten selbst standen zu diesen in ihrer Bewunderung nicht viel anders, als heutzutage die Gönner eines berühmten Opernsängers; die meisten hätten sich inmitten ihrer Bewunderung geschämt, das Gleiche zu werden. Sokrates pflegte die Schüler der Sophisten in Verlegenheit zu setzen durch die schlichte Frage nach dem Gegenstande der Profession ihrer Lehrer: wie man vom Phidias das Bildhauen, von Hippokrates die Heilkunst lernen könne; was denn von Protagoras?
Stolz und Prachtliebe der Sophisten vermochten die vornehme, reservierte Stellung der alten Philosophen nicht zu ersetzen. Der aristokratische Dilettantismus in der Weisheit wurde höher geachtet als ihr fachmännischer Betrieb.[31]
Die Zeit liegt noch nicht fern, in der man von der Sophistik nur die Schattenseiten kannte. Der Spott des Aristophanes und der sittliche Ernst Platos haben sich vereinigt mit den zahllosen Philosophen-Anekdoten späterer Zeit, um schließlich alles auf den Namen der Sophistik zu konzentrieren, was man nur fand an frivoler Rabulisterei, feiler Dialektik und systematischer Unsittlichkeit. Sophist ist das Stichwort für jede Afterphilosophie geworden, und längst schon war die Ehrenrettung Epikurs und der Epikureer eine zum Gemeingut der Gebildeten gewordene Tatsache, als noch jede Schmach auf dem Namen des Sophisten haftete, und das unbegreiflichste Rätsel bleibt, wie ein Aristophanes Sokrates als den obersten der Sophisten darstellen konnte.
Durch Hegel und seine Schule in Verbindung mit den vorurteilsfreien Untersuchungen der neueren Philologie wurde in Deutschland einer gerechteren Auffassung Bahn gemacht; noch entschiedener trat in England Grote in seiner Geschichte Griechenlands und schon vor ihm Lewes für die Ehre der Sophisten in die Schranken. Dieser erklärt Platos Euthydemus für ebenso übertrieben, wie Aristophanes' Wolken. »Aristophanes' Karikatur von Sokrates kommt der Wahrheit ebenso nahe, als die Karikatur der Sophisten bei Plato, mit dem Unterschiede, daß sie in dem einen Falle durch politischen, in dem andern durch spekulativen Widerwillen hervorgerufen worden ist.«32 – Grote zeigt uns, daß dieser fanatische Haß recht eigentlich platonisch war. Xenophons Sokrates steht bei weitem nicht in so schroffem Gegensatz gegen die Sophisten.
Protagoras bezeichnet einen großen, entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der griechischen Philosophie. Er ist der erste, der nicht mehr vom Objekt, von der äußeren Natur, sondern vom Subjekt, vom geistigen Wesen des Menschen ausging.33 Er ist darin unverkennbar ein Vorläufer des Sokrates, ja, er steht in gewissem Sinne an der Spitze der ganzen antimaterialistischen Entwicklungsreihe, die man gewöhnlich mit Sokrates beginnen läßt. Gleichwohl behält Protagoras noch die engsten Beziehungen zum Materialismus, eben dadurch, daß er von der Empfindung ausging, wie Demokrit vom Stoff; zu Plato und Aristoteles aber tritt er dadurch in schroffen Gegensatz, daß ihm – und auch dieser Zug ist dem Materialismus verwandt – das Einzelne und Individuelle das Wesentliche ist, während jenen das Allgemeine. Mit dem Sensualismus des Protagoras verbindet sich ein Relativismus, der uns an Büchner und Moleschott erinnern kann. Die Aussage, daß etwas sei, bedarf[32] stets der näheren Bestimmung: im Verhältnisse wozu es sei oder werde; sonst ist gar nichts damit gesagt!34 Ganz so sagt Büchner, um das »Ding an sich« zu bekämpfen, daß »alle Dinge nur füreinander da sind und ohne gegenseitige Beziehungen nichts bedeuten,«35 und noch bestimmter Moleschott: »Ohne ein Verhältnis zu dem Auge, in das er seine Strahlen sendet, ist der Baum nicht da.« Dergleichen läßt man heutzutage wohl noch als Materialismus passieren; für Demokrit aber war das Atom ein »Ding an sich«. Protagoras ließ die Atomistik fallen. Ihm war die Materie etwas an sich völlig Unbestimmtes, in ewigem Fluß und Wechsel begriffen. Sie ist das, was sie einem jeden scheint.
Am bezeichnendsten für die Philosophie des Protagoras sind folgende Fundamentalsätze seines Sensualismus:
Von diesen Sätzen ist der zweite der auffallendste und zugleich derjenige, welcher an die gewissenlose Rabulisterei, die man nur zu häufig für das eigentliche Wesen der alten Sophistik hält, am entschiedensten erinnert. Er gewinnt jedoch einen tieferen Sinn, sobald man ihn aus dem ersten Satze, welcher den Kern der Lehren des Protagoras enthält, erklärt.
Der Mensch ist das Maß der Dinge, d. h. es hängt von unseren Empfindungen ab, wie die Dinge uns erscheinen und dieser Schein ist das allein Gegebene. Also nicht etwa der Mensch nach seinen allgemeinen und notwendigen Eigenschaften, sondern jeder einzelne in jedem einzelnen Moment ist das Maß der Dinge. Würde es sich um die allgemeinen und notwendigen Eigenschaften handeln, so wäre Protagoras ganz als Vorläufer der theoretischen Philosophie Kants zu betrachten, allein Protagoras hielt sich beim Einfluß des Subjektes, wie bei der Beurteilung des Objektes streng an die einzelne Wahrnehmung und weit entfernt, den »Menschen als solchen« ins Auge zu fassen, kann er streng genommen nicht einmal das Individuum zum Maß der Dinge machen; denn das Individuum ist veränderlich, und wenn die gleiche Temperatur dem gleichen Menschen bald kühl bald schwül vorkommt, so sind beide Eindrücke je in ihrem Moment gleich wahr, und außer dieser Wahrheit gibt es keine andre.
Nun erklärt sich der zweite Satz mit Leichtigkeit ohne Widersinn, sobald man die nähere Bestimmung hinzufügt, wie dies das System[33] des Protagoras verlangt: im Sinne von zwei verschiedenen Individuen.
Es fiel Protagoras nicht ein, die nämliche Behauptung im Munde des nämlichen Individuums für wahr und falsch zugleich zu erklären; wohl aber lehrt er, daß zu jedem Satz, den jemand behauptet, mit gleichem Recht das Gegenteil behauptet werden kann, insofern sich jemand findet, dem es so scheint.
Daß in dieser Betrachtungsweise der Dinge ein großes Moment der Wahrheit liegt, ist unverkennbar; denn die wahre Tatsache, das unmittelbar Gegebene ist in Wirklichkeit das Phänomen. Aber unser Gemüt verlangt etwas Beharrendes in der Flucht der Erscheinungen. Sokrates suchte den Weg zu diesem Beharrenden; Plato glaubte es im schroffsten Gegensatz gegen die Sophisten im allgemeinen gefunden zu haben, dem gegenüber nun das Einzelne in wesenlosen Schein zurücksank. In diesem Streit haben, rein theoretisch betrachtet, die Sophisten recht, und Platos theoretische Philosophie kann ihre höhere Bedeutung nur aus der tief begründeten Ahnung einer verborgenen Wahrheit herleiten und aus ihren Beziehungen zu den idealen Gebieten des Lebens.
In der Ethik treten die fatalen Konsequenzen des von Protagoras eingenommenen Standpunktes am offensten hervor. Zwar hat Protagoras selbst diese Konsequenzen nicht gezogen. Er erklärte die Lust für den Beweggrund des Handelns, allein er zog einen scharfen Unterschied zwischen den guten Bürgern und edlen Männern, die nur am Guten und Edeln Lust haben, und den Schlechten und Gemeinen, die sich zum Schlechten gezogen fühlen.36 Gleichwohl mußte sich schon unmittelbar aus der theoretischen Weltanschauung jenes unbedingten Relativismus auch die Folgerung ergeben, daß für den Menschen auch dasjenige recht und gut ist, was ihm jedesmal recht und gut erscheint.
Als praktische Männer, sogar Lehrer der Tugend, halfen sich die Sophisten einfach damit, die überlieferte hellenische Moral in Bausch und Bogen auch als die ihrige anzunehmen. Von einer Ableitung derselben aus einem Prinzip konnte keine Rede sein; selbst die Lehre, daß diejenigen Gesinnungen zu fördern seien, welche das Wohl des Staates fördern, wurde nicht zum Moralprinzip erhoben, so sehr sie sich einem solchen nähert.
So ist es begreiflich, daß die bedenklichsten Folgerungen aus dem Prinzip der Willkür nicht nur von fanatischen Gegnern, wie Plato, sondern gelegentlich auch von verwegenen Schülern der Sophisten[34] gezogen wurden. Die berühmte Kunst, die schlechtere Sache als die bessere erscheinen zu lassen, wird von Lewes37 als eine Disputierkunst für praktische Leute, als die Kunst »sein eigener Advokat zu sein« in Schutz genommen; die Kehrseite der Sache liegt aber auf der Hand. Die Verteidigung genügt, um die Sophisten auf dem allgemeinen Boden der hellenischen Durchschnittsmoral als wackre und unbescholtene Männer erscheinen zu lassen; sie genügt nicht, um die Ansicht zu widerlegen, daß die Sophistik in der hellenischen Kultur ein zersetzendes Element war.
Betrachten wir aber noch insbesondere den Satz, daß die Lust der Beweggrund des Handelns sei, so sieht man leicht, daß der ganze Grund der Cyrenaischen Lustlehre schon durch den Sensualismus des Protagoras gelegt war. Zur Entwicklung kam dieser Keim erst durch den »Sokratiker« Aristipp.
An der heißen Nordküste von Afrika lag die griechische Handelskolonie Cyrene: hier vereinigte sich orientalische Üppigkeit mit der Feinheit hellenischer Bildung. Einem reichen Kaufmannshause dieser Stadt entstammend, in weltlicher Gesinnung und weltmännischer Bildung aufgewachsen, kam der junge Aristipp nach Athen, gelockt durch den Ruf des Sokrates.
Schön von Gestalt und begabt mit dem Zauber des feinsten Benehmens und der geistreichsten Unterhaltung wußte Aristipp jedes Herz zu gewinnen. Er schloß sich an Sokrates an und man ließ ihn als Sokratiker gelten, so verschieden auch die Wendung, welche seine Lehre nahm, von dem Wesen der Sokratischen war. Seine persönliche Neigung zu einem Leben in Lust und Glanz und der mächtige Einfluß der Sophisten wirkten auf die Entstehung seiner Lehre, daß die Lust der Zweck des Daseins sei. Aristoteles nennt ihn einen Sophisten; dennoch ist auch der Einfluß Sokratischer Lehre bei ihm erkennbar. Sokrates fand das höchste Glück in der Tugend und lehrte, daß die Tugend mit der wahren Erkenntnis zusammenfalle. Aristipp lehrte, daß Selbstbeherrschung und Besonnenheit, also die echten Sokratischen Tugenden, allein genußfähig machen und genußfähig erhalten; nur der Weise könne wahrhaft glücklich sein. Das Glück selbst ist ihm aber freilich nur der Genuß.
Er unterschied zwei Formen der Empfindung: eine, welche durch sanfte Bewegung entsteht, die andere, welche durch rauhe, hastige Bewegung entsteht: jenes ist Lust, dieses Schmerz oder Unlust. Da nun die sinnliche Lust offenbar eine lebhaftere Empfindung[35] hervorbringt als geistige, so war es lediglich eine Folge der unerbittlichen Konsequenz hellenischen Denkens, wenn Aristipp daraus ableitete, daß die körperliche Lust besser sei als geistige; der körperliche Schmerz schlimmer als geistiger; Epikur suchte sich hier schon durch ein Sophisma zu helfen.
Endlich lehrte Aristipp ausdrücklich, daß der wahre Zweck nicht die Glückseligkeit sei, die sich als bleibendes Resultat vieler einzelnen Lustempfindungen ergebe, sondern die einzelne sinnliche konkrete Lust selber. Jene Glückseligkeit sei freilich gut, aber die müsse sich von selber ergeben, sie sei daher nicht der Zweck.
Konsequenter als Aristipp war kein sensualistischer Ethiker des Altertums oder der Neuzeit, und sein Leben bildet den besten Kommentar seiner Lehre.
Mit Sokrates und seiner Schule war Athen zum Mittelpunkt der philosophischen Bestrebungen geworden. Ging auch von hier nun die große Reaktion gegen den Materialismus aus, welche mit Plato und Aristoteles den entscheidenden Sieg erfocht, so waren doch auch hier die geistigen Nachwirkungen des Materialismus mächtig genug geworden, um nach einer solchen Reaktion zu rufen.
Freilich, Demokrit fühlte sich nicht nach Athen hingezogen. »Ich kam nach Athen,« soll er gesagt haben, »und keiner erkannte mich.« Als ein Mann von bekanntem Namen also wäre er an den neuaufblühenden Zentralpunkt der Wissenschaft geeilt, um sich das dortige Treiben in der Nähe zu betrachten und – still wieder abgereist ohne sich zu erkennen zu geben. Auch mag wohl das ernstere der Zeitbewegung gewirkt haben, als minder konsequente, verständlichere Züge jenes Materialismus, im weiteren Sinne des Wortes, der die ganze vorsokratische Periode der Philosophie be- und große System Demokrits weit weniger unmittelbar auf die geherrscht. Vor allen Dingen aber hatte die Sophistik, im guten und schlimmen Sinne des Wortes, in Athen einen üppigen Boden gefunden. Hier war seit den Perserkriegen unter dem Einflusse der neuen Denkweise eine Veränderung vor sich gegangen, die sich durch alle Schichten der Gesellschaft erstreckte. Durch Perikles' mächtige Leitung gelangte der Staat zum Bewußtsein seiner Bestimmung. Handel und Seeherrschaft begünstigten die Erhebung der materiellen Interessen. Der Unternehmungsgeist der Athener stieg ins Großartige. Die Zeit, da Protagoras lehrte, war nahezu dieselbe Zeit, welche die gewaltigen Bauwerke der Akropolis emporsteigen sah.[36]
Das Steife und Altväterliche verlor sich, und die Kunst erreichte im Durchgangspunkt zum Schönen jene Erhabenheit des Stils, die in den Werken des Phidias sich aussprach. Aus Gold und Elfenbein erhoben sich die wunderbaren Bildwerke der Pallas Parthenos und des Zeus von Olympia; und während schon der Glaube in allen Schichten zu wanken begann, erreichten die Festzüge der Götter den höchsten Grad der Pracht und Herrlichkeit. Materieller und üppiger als Athen war in jeder Hinsicht Korinth; allein Korinth war nicht die Stadt der Philosophen. Hier stellte sich die geistige Apathie und die Versunkenheit in Sinnlichkeit ein, welcher die traditionellen Formen des Gottesdienstes sich nicht nur anbequemten, sondern zuvorkamen.
So zeigt sich schon im Altertum sowohl der Zusammenhang zwischen theoretischem und praktischem Materialismus, als auch der Gegensatz beider in unverkennbarer Weise.
Versteht man unter dem praktischen Materialismus die herrschende Neigung zu materiellem Erwerb und Genuß, so steht ihm der theoretische Materialismus zunächst wie jede Richtung des Gemüts auf Erkenntnis entgegen; ja man kann sagen, daß der nüchterne Ernst, den die großen materialistischen Systeme des Altertums kundgeben, vielleicht geeigneter ist, als ein schwärmerischer, nur gar zu leicht in Selbsttäuschung hinüberspielender Idealismus, um den Geist von allem Niedern und Gemeinen fern zu halten und ihm eine dauerhafte Richtung auf würdige Gegenstände zu verleihen.
Religiöse Überlieferungen zumal, deren Ursprung aus hoher idealer Erhebung stammen mag, verflechten sich leicht im Lauf der Jahrhunderte mit materieller und niedriger Gesinnung der Menge; ganz abgesehen von dem »Materialismus des Dogmas«, den man in jeder eingewurzelten Rechtgläübigkeit finden kann, sobald der bloße Stoff der religiösen Lehre höher geschätzt wird als der Geist, der sie erzeugt hat. Die bloße Zersetzung der Überlieferung aber bessert diesen Fehler noch nicht; denn es wird schwerlich je eine Religion so verknöchert sein, daß nicht aus ihren erhabenen Formen noch ein Funken idealen Lebens in die Gemüter fiele, und andrerseits macht die Aufklärung die Masse noch nicht zu Philosophen.
Nun ist freilich der richtige Begriff des ethischen Materialismus ein ganz andrer: es ist darunter eine Sittenlehre zu verstehen, welche das sittliche Handeln des Menschen aus den einzelnen Regungen[37] seines Gemüts erwachsen läßt und welche das Ziel des Handelns nicht durch eine unbedingt gebietende Idee bestimmt, sondern durch das Streben nach einem erwünschten Zustande. Eine solche Ethik kann man materialistisch nennen, weil sie, wie der theoretische Materialismus, vom Stoff ausgeht, im Gegensatz zur Form; nur daß hier nicht der Stoff der äußeren Körper, auch nicht die Empfindungsqualität als Stoff des theoretischen Bewußtseins gemeint ist, sondern der Elementarstoff des praktischen Verhaltens, die Triebe und das Gefühl der Lust und Unlust. Man kann sagen, dies sei nur eine Analogie, keine evidente Einheit der Richtung, allein die Geschichte zeigt uns fast allenthalben diese Analogie mächtig genug, um den Zusammenhang der Systeme zu bestimmen.
Ein völlig durchgeführter ethischer Materialismus dieser Art ist nicht nur nichts Unedles, sondern er scheint auch, wie durch eine innere Notwendigkeit, schließlich von selbst auf erhabene und edle Formen des Daseins zu führen und auf eine Liebe zu diesen Formen, welche sich über das gewöhnliche Verlangen nach Glückseligkeit weit erhebt; wie umgekehrt auch eine ideale Ethik bei völligem Ausbau nicht umhin kann, für das Glück der Individuen und die Harmonie ihrer Triebe besorgt zu sein.
Nun handelt es sich aber in der geschichtlichen Entwicklung der Völker nicht um ideale Ethik schlechthin, sondern um ganz bestimmte, überlieferte Formen der Sittlichkeit, die durch jedes neue Prinzip in ihrem Bestande gestört und erschüttert werden, weil sie im Menschen nicht auf abstrakter Überlegung beruhen, sondern ein anerzognes vererbtes Produkt des Gesamtlebens vieler Generationen sind. Da scheint denn bisher die Erfahrung zu lehren, daß jede materialistische Moral, so rein sie im übrigen sein mag, vorwiegend in der Periode der Umbildungen und Übergänge als zersetzender Faktor eingreift, während alle großen und definitiven Umwälzungen und Neugestaltungen erst mit neuen ethischen Ideen zum Durchbruch kommen.
Solche neuen Ideen brachten im Altertum Plato und Aristoteles, allein sie vermochten weder in die Massen zu dringen, noch die alten Formen der nationalen Religion für ihren Zweck zu gewinnen. Um so tiefer wirkten diese Erzeugnisse hellenischer Philosophie nachmals auf die Ausbildung des mittelalterlichen Christentums. Als Protagoras aus Athen vertrieben wurde, weil er sein Buch über die Götter mit den Worten begann: »Von den Göttern weiß ich nicht, ob sie sind oder nicht sind« – da war es zu spät mit der Rettung[38] der konservativen Interessen, für die selbst ein Aristophanes vergeblich die Kräfte der Bühne in Bewegung setzte; und selbst das Opfer eines Sokrates konnte den Zeitgeist nicht mehr hemmen. Schon während des Peloponnesischen Krieges, bald nach dem Tode des Perikles, war die große Revolution im ganzen Leben der Athener entschieden, deren Träger vor allem die Sophisten waren.
Dieser rasche Auflösungsprozeß steht einzig in der Geschichte da; kein Volk lebte so schnell wie das der Athener. So belehrend diese Wendung ihrer Geschichte auch sein mag, so nahe liegt auch die Gefahr, aus ihr falsche Schlüsse zu ziehen.
Solange ein Staat, wie Athen vor Perikles, in mäßiger Entwicklung alte Traditionen festhält, fühlen sich alle Bürger anderen Staaten gegenüber in einseitigem Interesse zusammengehalten. Diesem gegenüber hat die Philosophie der Sophisten und die der Cyrenaiker eine kosmopolitische Färbung.
Der Denker überfliegt in wenigen Schlußfolgerungen Ergebnisse, für deren Realisierung die Weltgeschichte Jahrtausende braucht. Die kosmopolitische Idee kann daher im allgemeinen richtig und im besonderen verderblich sein, weil sie das Interesse der Bürger für den Staat und damit die Lebenskraft des Staates lähmt.
Solange an den Traditionen festgehalten wird, ist endlich dem Ehrgeiz und den Talenten des einzelnen eine Schranke gesetzt. Alle diese Schranken werden durch den Grundsatz, daß jeder einzelne Mensch das Maß aller Dinge in sich habe, aufgehoben. Hiergegen sichert nur das schlechthin Gegebene, aber das Gegebene ist das Unvernünftige, weil das Denken stets zu neuen Entwicklungen treibt. Das begriffen die Athener bald, und nicht nur die Philosophen, sondern auch ihre eifrigsten Gegner lernten das Räsonieren, Kritisieren, Disputieren und Projekte machen. Die Sophisten schufen auch die Demagogik; denn sie lehrten die Redekunst mit der ausdrücklichen Angabe, zu verstehen, wie man die Menge nach seinem Sinn und seinem Interesse lenken könne.
Da entgegengesetzte Behauptungen gleich wahr sind, so kam es für manche Nachbeter des Protagoras nur darauf an, die persönliche Ansicht geltend zu machen, und es wurde eine Art moralischen Faustrechts eingeführt. Jedenfalls besaßen die Sophisten in der Kunst auf die Gemüter zu wirken eine bedeutende Fertigkeit und tiefe psychologische Einsicht, sonst hätte man ihnen nicht ein Gehalt bezahlt, das, mit den Honoraren unserer Tage verglichen, sich mindestens wie ein Kapital zum Zins verhält. Auch lag nicht die[39] Idee einer Belohnung der Mühe zugrunde, sondern die des Kaufens einer Kunst, die ihren Mann machte.
Aristipp, dessen Blütezeit in das 4. Jahrhundert fällt, war schon ein geborner Kosmopolit. Die Höfe der Tyrannen waren sein Lieblingsaufenthalt, und bei Dionysius von Syrakus traf er nicht selten mit seinem geistigen Antipoden Plato zusammen. Dionysius schätzte ihn mehr als alle anderen Philosophen, weil er aus jedem Augenblick etwas zu machen wußte, freilich wohl auch, weil er sich allen Launen des Tyrannen fügte. In dem Satze, daß nichts Natürliches schimpflich sei, traf Aristipp mit dem »Hunde« Diogenes zusammen; daher soll ihn auch der Witz des Volkes den »königlichen Hund« genannt haben. Dies ist nicht ein zufälliges Zusammentreffen, sondern eine Verwandtschaft der Prinzipien, die bei aller Verschiedenheit der Folgerungen besteht. Auch Aristipp war bedürfnislos; denn er hatte stets was er bedurfte, und fühlte sich in Lumpen umherirrend gleich sicher und glücklich als in königlicher Pracht.
Aber dem Beispiel der Philosophen, die sich's an fremden Höfen gefallen ließen und es lächerlich fanden, konsequent dem spießbürgerlichen Interesse eines einzelnen Staates zu dienen, folgten bald die politischen Gesandten Athens und anderer Republiken, und die Freiheit Griechenlands konnte kein Demosthenes mehr retten. Was den religiösen Glauben betrifft, so verdient es Beachtung, daß gleichzeitig mit der Lockerung des Glaubens, die sich vom Theater aus durch Euripides unter dem Volke verbreitete, eine Unzahl neuer Mysterien aufkam.
Nur zu häufig hat die Geschichte bereits gezeigt, daß, wenn die Gebildeten über die Götter zu lächeln oder ihr Wesen in philosophische Abstraktionen aufzulösen beginnen, alsdann der halbgebildete Haufe, unsicher und unruhig geworden, nach jeder Torheit greift, um sie zur Religion zu erheben.
Asiatische Kulte mit phantastischen, zum Teil unsittlichen Gebräuchen fanden den meisten Anklang. Kybele und Kotytto, Adonisdienst und orphische Weissagungen auf Grund dreist fabrizierter heiliger Bücher verbreiteten sich in Athen wie im übrigen Griechenland. So wurde die große Religionsmischung angebahnt, welche seit dem Alexanderzuge den Orient und das Abendland verband, und die der späteren Ausbreitung des Christentums so wesentlich vorarbeitete.
Auf Kunst und Wissenschaft wirkten die sensualistischen Doktrinen[40] nicht minder umgestaltend. Das Material der empirischen Wissenschaften wurde durch die Sophisten popularisiert. Sie selbst waren meist Männer von großer Gelehrsamkeit, die den Satz ihrer solid erworbenen Kenntnisse vollkommen beherrschten und stets für praktischen Gebrauch bereit hatten; allein sie waren in den Naturwissenschaften keine Forscher, sondern nur Verbreiter. Dagegen verdankt man ihren Bestrebungen die Grundlegung der Grammatik und die Ausbildung einer mustergültigen Prosa, wie die fortgeschrittene Zeit statt der engen poetischen Form sie forderte, vor allem auch die hohe Ausbildung der Redekunst. Die Poesie sank unter ihrem Einflusse allmählich von ihrer idealen Höhe herab und näherte sich in Ton und Inhalt dem Charakter des Modernen. Verwicklung, Spannung, geistreicher Witz und Rührung machten sich mehr und mehr geltend.
Keine Geschichte macht es anschaulicher als die der Hellenen, daß es durch ein Naturgesetz menschlicher Entfaltung keine starre Dauer des Guten und Schönen gibt. Es sind die Durchgangspunkte bei der geregelten Bewegung von einem Prinzip zum andern, die das Größte und Schönste in sich bergen. Man hat deshalb kein Recht, von einer wurmstichigen Blüte zu sprechen: das Gesetz des Blühens selbst ist es, was zum Welken führt, und in dieser Hinsicht stand Aristipp auf der Höhe seiner Zeit, als er lehrte, daß es der Augenblick sei, der allein beglücke.[41]
30 | Vgl. in der neueren Gesch. der Philosophie die Art, wie sich Locke zu Hobbes oder Condillac zu Lamettrie verhält. Damit ist freilich nicht gesagt, daß wir stets eine chronologische Folge dieser Art erwarten müssen, doch ist sie die natürliche und deshalb die am häufigsten vorkommende. Zu beachten ist dabei, wie sich in der Regel die sensualistischen Momente schon bei den tiefer denkenden Materialisten vorfinden; so namentlich sehr ausgeprägt bei Hobbes und bei Demokrit. Ferner sieht man leicht, daß der Sensualismus im Grunde nur eine Übergangsstufe zum Idealismus ist, wie z. B. Locke auf unhaltbarem Boden zwischen Hobbes und Berkeley steht; denn sobald die Sinneswahrnehmung das eigentlich Gegebene ist, wird im Grunde das Objekt nicht nur in seiner Qualität schwankend, sondern sein Dasein selbst muß zweifelhaft werden. Diesen Schritt tat jedoch das Altertum nicht. |
31 | Die Lastträger-Geschichte ist wohl als Fabel zu betrachten, obgleich gerade hier die Spuren einer solchen Erzählung sehr hoch hinauf reichen. Vgl. Brandis, Gesch. d. griech.-röm. Phil. I, S. 523 u. f. und dagegen Zeller I, 866 Anm. 1, wo auf die »Schmähsucht« Epikurs wohl zu viel Gewicht gelegt ist. Die Frage, ob Protagoras Demokrits Schüler gewesen sei, hängt mit der oben Anm. 10 berührten schwer entscheidbaren Frage der Altersbestimmung zusammen. Wir möchten dieselbe auch hier unentschieden lassen. Aber auch für den Fall, daß sich die herrschende Annahme, welche Protagoras um etwa 20 Jahre älter macht als Demokrit, jemals sollte genügend beweisen lassen, bleibt dennoch ein Einfluß Demokrits auf die sensualistische Erkenntnistheorie des Protagoras äußerst wahrscheinlich, und man müßte dann annehmen, daß Protagoras, ursprünglich bloß Rhetor und Lehrer der Politik, sein eigentliches System erst später, und zwar während eines zweiten Aufenthaltes in Athen, im geistigen Verkehr mit seinem Widersacher Sokrates ausgebildet habe, zu einer Zeit, wo Demokrits Werke schon ihren Einfluß geübt haben konnten. Zellers Versuch, nach Vorgang von Frei, quaestiones Protagoreae Bonnae 1845, die Philosophie des Protagoras mit Beiseitelassung Demokrits ganz aus Heraklit abzuleiten, scheitert an dem Fehlen eines genügenden Anhaltspunktes für die subjektivistische Wendung des Protagoras in der Erkenntnistheorie. Will man noch die Entstehung der Sinnesempfindung aus einer Gegenbewegung von Sinn und Ding (vgl. Zeller 1, S. 585) als herakliteisch gelten lassen, so fehlt doch bei Heraklit gänzlich die Auflösung der Sinnesqualitäten in subjektive Eindrücke. Dagegen bildet Demokrits »nomô glyky kai nomô pikron« usw. (fragm. phys. 1) den natürlichen Übergang von der rein objektivistischen Weltanschauung der älteren Physiker zu der subjektivistischen der Sophisten. Allerdings mußte Protagoras den Standpunkt Demokrits umkehren, um zu dem seinigen zu gelangen, aber dies ist auch seine Stellung zu Heraklit, der die Wahrheit durchaus im Allgemeinen findet, während Protagoras sie im Individuellen sucht. Der Umstand, daß der platonische Sokrates (vgl. Frei, quaest. Prot. p. 79) den Satz des Protagoras, daß alles Bewegung sei, für den Ursprung erklärt, aus dem alles folge, ist für die historische Betrachtung durchaus nicht maßgebend. Immerhin ist der Einfluß Heraklits auf die Lehre des Protagoras unverkennbar und zugleich wahrscheinlich, daß die hierher stammenden Elemente die ursprünglichen sind, zu denen später Demokrits Zurückführung der Sinnesqualitäten auf subjektive Eindrücke als Ferment hinzutrat. |
32 | Gesch. d. a. Phil. Berlin 1871, 1. S. 221. |
33 | Sehr richtig bei Frei, quaest. Prot. p. 110: »Multo plus vero ad philosophiam promovendam eo contulit Protagoras, quod hominem dixit omnium rerum mensuram. Eo enim mentem sui consciam reddidit rebusque superiorem praeposuit.« Eben deshalb ist aber dies als das wahre Fundament der Philosophie des Protagoras (in ihrer Vollendung) anzusehen und nicht das herakliteische panta rhet |
34 | Frei, quaest. Prot. p. 84 u. f. |
35 | Vgl. Büchner, die Stellung des Menschen in der Natur, Leipzig 1870 p. CXVII. Die bez. Äußerung Moleschotts wird im 2. Buch (vgl. 1. Aufl. S. 307) eingehende Besprechung finden. |
36 | Frei, quaest. Prot. p. 99. Zeller I, 916 u. ff. |
37 | Lewes, Gesch. d. a. Philos. I, S. 228. |
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