V. Das Lehrgedicht des Titus Lucretius Carus über die Natur

[101] Unter allen Völkern des Altertums stand vielleicht keines von Haus aus materialistischen Anschauungen ferner als das der Römer. Ihre Religion wurzelte tief im Aberglauben, ihr ganzes Staatsleben war von abergläubischen Formeln eingeschränkt. Die ererbten Sitten wurden mit eigensinniger Starrheit festgehalten, Kunst und Wissenschaft hatten wenig Reiz für den Römer, die Vertiefung in das Wesen der Natur noch weniger. Die praktische Richtung ihres Lebens herrschte über jede andere, aber auch sie war nicht materialistisch, sondern durchweg spiritualistisch. Herrschaft ging ihnen über Reichtum, Ruhm über Wohlbefinden, ein Triumph über alles. Ihre Tugenden waren nicht die der Friedensliebe, des unternehmenden Kunstfleißes, der Gerechtigkeit, sondern die des Mutes, der Ausdauer, der Mäßigkeit. Die Laster der Römer waren ursprünglich nicht Üppigkeit und Genußsucht, sondern Härte, Grausamkeit und Treulosigkeit. Das Talent der Organisation in Verbindung mit jenem kriegerischen Charakter hatte die Nation groß gemacht, und sie war sich dessen mit Stolz bewußt. Jahrhundertelang dauerte seit ihrer ersten Berührung mit den Griechen die Abneigung, die aus der Verschiedenheit der Nationen hervorging. Griechische Kunst und Literatur drangen in Rom erst nach der Besiegung Hannibals allmählich ein, aber gleichzeitig auch Luxus und Üppigkeit und die Schwärmerei und Unsittlichkeit asiatischer und afrikanischer Völkerschaften. Die besiegten Nationen drängten sich in ihre neue Hauptstadt und bereiteten hier eine Mischung aller Elemente des alten Völkerlebens vor, während die Großen mehr und mehr an Bildung und feinerem Lebensgenuß Geschmack fanden. Feldherren und Statthalter raubten die Werke griechischer Kunst zusammen, Schulen griechischer Philosophen und Redner wurden eröffnet und mehrmals wieder verboten; man fürchtete das auflösende Element der griechischen Bildung, aber man konnte seinen Reizen je länger je weniger widerstehen. Der alte Cato selbst lernte Griechisch, und als erst die Sprache und Literatur bekannt wurde, konnte die Einwirkung der Philosophie nicht ausbleiben. In den letzten Zeiten der Republik war dieser Prozeß so weit vollendet,[101] daß jeder gebildete Römer Griechisch verstand, daß die jungen Adeligen ihre Studien in Griechenland machten, und daß die besten Köpfe die vaterländische Literatur nach dem Muster der griechischen umzubilden strebten.

Damals waren es unter allen Schulen griechischer Philosophen zwei, welche besonders die Römer fesselten, die der Stoiker und der Epikureer; erstere mit ihrem rauhen Tugendstolz von Haus aus dem römischen Charakter verwandt, letztere mehr im Geiste der Zeit und ihres Fortschrittes, beide aber, und dies ist für den Charakter der Römer bezeichnend, von praktischer Tendenz und dogmatischer Form.

Diese Schulen, die so manches Gemeinsame hatten bei all ihren schroffen Gegensätzen, trafen sich freundlicher in Rom als in ihrem Heimatlande. Zwar verpflanzten sich die maßlosen Verleumdungen der Epikureer, welche seit Chrysippus von den Stoikern geflissentlich waren verbreitet worden, alsbald auch nach Rom. Auch in Rom hielt die Masse den Epikureer für einen Sklaven seiner Lüste, und mit doppelter Oberflächlichkeit glaubte man über seine Naturphilosophie absprechen zu können, weil kein Gehege unverständlicher Ausdrücke sie beschirmte. Leider hat auch Cicero die Epikureische Lehre im schlimmen Sinne des Wortes popularisiert und dadurch manches in einen Schein der Lächerlichkeit gebracht, der in strengerer Fassung verschwindet. Allein bei alledem waren die Römer meist vornehme Dilettanten, die sich das Interesse für ihre Schulen nicht so tief gehen ließen, daß sie nicht auch imstande gewesen wären, Entgegengesetztes zu schätzen. Die Sicherheit ihrer weltlichen Stellung, die Universalität ihrer Lebensbeziehungen erhielt diese Männer vorurteilsfrei. Daher kommen selbst bei Seneca noch Äußerungen vor, die Gassendi einen Anhaltspunkt gegeben haben, ihn zum Epikureer zu machen. Brutus, der Stoiker, und Cassius, der Epikureer, tauchen gemeinsam ihre Hand in das Blut des Cäsar. – Aber dieselbe populäre und abgeflachte Auffassung der epikureischen Lehre, welche uns bei Cicero zum Nachteil derselben entgegentritt, macht es nicht nur möglich, daß zwischen dem Epikureismus und den verschiedensten anderen Schulen Freundschaft besteht, sondern sie verwischt auch den Charakter der meisten römischen Epikureer selbst und gibt so den gemeinen Vorwürfen einen Anhaltspunkt in der Wirklichkeit. Bereits zu einer Zeit, wo ihnen die griechische Bildung noch ganz äußerlich war, hatten die Römer angefangen, die rauhe Strenge der alten[102] Sitten gegen eine Neigung zu Schwelgerei und Üppigkeit umzutauschen, welche, wie man es bei Individuen häufig bemerkt, um so maßloser wurde, je fremder und ungewohnter ihnen die freiere Seite war. Schon zu den Zeiten des Marius und Sulla war diese Veränderung entschieden, die Römer waren praktische Materialisten geworden, und zwar oft im schlimmsten Sinne des Wortes, bevor sie die Theorie kennengelernt hatten. Die Theorie eines Epikur war aber durchweg reiner und edler als die Praxis dieser Römer, und daher konnte nun ein doppelter Weg eingeschlagen werden: entweder sie ließen sich veredeln und nahmen Zucht und Maß an, oder sie verdarben die Theorie und mengten die Ansichten von Freund und Feind über dieselbe durcheinander, um alsdann einen Epikureismus zu haben, wie sie ihn brauchten. Selbst edlere Naturen und gründlichere Kenner der Philosophie verweilten mit Vorliebe bei dieser bequemeren Auffassung. So Horaz, wenn er sich als »ein Schwein von der Herde Epikurs« bezeichnet; offenbar mit schalkhafter Ironie, aber nicht in dem ernsten und nüchternen Geiste des alten Epikureismus. Derselbe Horaz bezeichnet nicht selten den Cyrenaiker Aristipp als sein Vorbild.

Gediegener hielt sich Vergil, der auch einen Epikureer zum Lehrer hatte, aber mannigfache Elemente anderer Systeme sich aneignete. Unter all diesen Halbphilosophen steht als ein ganzer und echter Epikureer Titus Lucretius da, dessen Lehrgedicht »de rerum natura« mehr als irgend etwas anderes dazu beigetragen hat, beim Aufleben der Wissenschaften auch die Lehren Epikurs wieder hervorzuziehen, und in einem besseren Lichte erscheinen zu lassen. Noch die Materialisten des vorigen Jahrhunderts studierten und liebten den Lucretius, und erst in unseren Tagen scheint sich der Materialismus vollständig von den alten Traditionen losgemacht zu haben.

T. Lucretius Carus wurde geboren im Jahre 99 und starb schon 55 v. Chr. Von seinem Leben ist fast nichts bekannt. Es scheint, daß er unter den Wirren der Bürgerkriege einen Halt für sein inneres Leben gesucht und ihn in der Philosophie Epikurs gefunden hatte. Daher unternahm er sein großes Gedicht, um seinen Freund, den Dichter Memmius, für diese Schule zu gewinnen. Die Begeisterung, mit der er das Heil seiner Philosophie dem trüben und nichtigen Gehalt der Gegenwart gegenübersetzt, gibt seinem Werke etwas Erhabenes, einen Schwung des Glaubens und der Phantasie, der allerdings über die harmlose Heiterkeit des epikureischen Lebens[103] sich erhebt und oft einen stoischen Anlauf nimmt. Dagegen ist es doch verfehlt, wenn Bernhardy in seiner römischen Literaturgeschichte behauptet, »von Epikur und seinen Anhängern empfing er nichts als das Geripp einer Naturphilosophie«. Es liegt darin eine Verkennung Epikurs, die sich noch deutlicher in folgender Äußerung des hervorragenden Philologen ausspricht:

»Lucretius baut zwar auf dieser Grundlegung der mechanischen Natur, indem er aber bemüht war, das Recht der persönlichen Freiheit und der Unabhängigkeit von aller religiösen Tradition zu retten, sucht er das Wissen in die Praxis einzuführen, den Menschen durch Einsicht in den Urgrund und das Wesen der Dinge zu befreien und auf eigene Füße zu stellen.«

Wir haben bereits gesehen, daß dies Streben der Befreiung gerade der Nerv des epikureischen Systems ist; in Ciceros flacher Darstellung tritt dies freilich zurück; aber nicht umsonst hat uns Diogenes von Laerte in seiner besten Biographie die eigenen Worte Epikurs erhalten, die unserer obigen Darstellung zugrunde liegen.61

Wenn es aber irgend etwas war, was den Lucrez zu Epikur hinzog, was ihm die lebhafte Begeisterung einhauchte, so war es gerade jene Kühnheit und sittliche Stärke, mit der Epikur dem Götterglauben seinen Stachel raubte, um die Sittlichkeit auf einen unerschütterlichen Grund zu basieren. Dies deutet Lucrez auch offen genug an, denn gleich nach der herrlichen poetischen Einleitung an Memmius erklärt er sich folgendermaßen:

»Da auf Erden das menschliche Leben schnöde unterdrückt lag unter der Last der Religion, die ihr Haupt vom Himmel her zeigte und schauerlich anzusehenden Sterblichen drohte; – da hat es zuerst ein griechischer Mann, ein Sterblicher, gewagt, entgegen die Augen zu richten und entgegen zuerst sich zu stellen, er, den weder die Tempel der Götter, noch Blitze, noch das drohende Krachen des Himmels gebändigt haben; um so mehr nur erhebt er den kühnen Mut seines Geistes, daß er die festen Riegel der Pforten der Natur zuerst aufzubrechen begehrte.«

Daß Lucrez noch mancherlei Quellen benutzt, den Empedokles fleißig studiert und vielleicht im naturhistorischen Teile sogar manches aus eigener Beobachtung hinzugefügt habe, wollen wir nicht leugnen; man darf aber auch hier nicht vergessen, daß wir nicht wissen, was die verlorenen Bücher Epikurs für Schätze enthielten. Fast alle Beurteiler stellen das Lehrgedicht des Lucrez unter den Produktionen des voraugusteischen Zeitalters an Genialität[104] und Kraft der Darstellung obenan; dagegen ist doch der didaktische Teil oft trocken und lose oder durch schroffe Übergänge mit den poetischen Schilderungen verknüpft.

In der Sprache ist Lucrez in hohem Grade altertümlich rauh und einfach. Die Dichter des augusteischen Zeitalters, die sich sonst über die rauhe Kunst ihrer Vorgänger weit erhaben fühlten, ehrten den Lucretius sehr. Vergil hat ihm die Verse gewidmet:


Felix, qui potuit rerum cognoscere causas

Atque metus omnes et inexorabile fatum

Subjecit pedibus strepitumque Acherontis avari.


So hat denn auch Lucrez ohne Zweifel auf die Ausbreitung der epikureischen Philosophie unter den Römern mächtig gewirkt. Ihren Höhepunkt erreichte dieselbe unter der Regierung des Augustus, denn wenn auch damals kein Vertreter wie Lucrez mehr da war, so waren doch alle jene heiteren Geister der Dichterkreise, die sich um Mäcenas und Augustus scharten, vom Geist dieser Philosophie berührt und geleitet.

Als aber unter Tiberius und Nero Greuel aller Art ans Licht traten und fast jeder Genuß durch Gefahr oder durch Schande vergiftet war, da traten die Epikureer zurück, und in dieser letzten Zeit der heidnischen Philosophie waren es vorzugsweise die Stoiker, die den Kampf gegen Laster und Feigheit aufnahmen und mit unbekümmertem Mut, wie ein Seneca, ein Pätus Thrasea, den Tyrannen als Opfer fielen.

Ohne Zweifel war auch die epikureische Philosophie in ihrer Reinheit, und namentlich in der Ausbildung, die der charakterstarke Lucrez ihr gegeben hatte, ganz dazu angetan, eine solche Erhabenheit der Gesinnung zu verleihen; allein gerade die Reinheit, Stärke und Kraft der Auffassung, welche Lucrez bewährte, wurde dieser Schule selten und vielleicht seit Lucrez bis auf unsere Tage nie wieder zuteil. Es verlohnt sich deshalb wohl der Mühe, das Werk dieses merkwürdigen Mannes näher zu betrachten.

Die Einrichtung desselben bildet eine in bilderreicher Mythologie und klarer Gedankentiefe durchgeführte Anrufung der Göttin Venus, der Spenderin des Lebens, des Gedeihens und des Friedens. Hier haben wir gleich die eigentümliche Stellung des Epikureers zur Religion. Ihre Ideen nicht nur, sondern auch ihre poetischen Gestalten werden mit unverkennbarer Andacht und Innigkeit von demselben Manne benutzt, der es unmittelbar darauf, in der oben[105] mitgeteilten Stelle, als wichtigsten Punkt seines Systems voranstellt, daß es die schmachvolle Gottesfurcht beseitige. Der altrömische Begriff der »religio«, welcher trotz der Ungewißheit der Etymologie doch sicher eben das Element der Abhängigkeit und Gebundenheit des Menschen gegenüber den göttlichen Wesen hervorhebt, muß natürlich für Lucrez gerade das umfassen, was ihm das Verwerflichste ist. Lucrez ruft also die Götter an und bekämpft die Religion, ohne daß in dieser Beziehung auch nur ein Schatten von Zweifel oder Widerspruch in seinem Systeme zu entdecken wäre.

Nachdem er gezeigt hat, wie durch die freien und kühnen Forschungen des Griechen (damit ist Epikur gemeint, Demokrit wird von unserm Dichter auch gefeiert, doch steht er ihm ferner) die Religion, die ehemals den Menschen grausam unterdrückte, zu Boden geworfen ist und mit Füßen getreten wird, wirft er die Frage auf, ob denn diese Philosophie nicht auf den Weg der Unsittlichkeit und des Verbrechens führe.

Er zeigt, wie im Gegenteil die Religion die Quelle der größten Greuel sei, und wie gerade die unverständige Furcht vor ewigen Strafen die Menschen bewege, Lebensglück und Seelenfrieden den Schrecknissen der Seher zum Opfer zu bringen.62

Dann wird der erste Grundsatz entwickelt, daß Nichts jemals aus dem Nichts entstehe. Dieser Satz, den man heutzutage eher als erweiterten Erfahrungssatz hinnehmen würde, soll, ganz entsprechend dem damaligen Standpunkte der Wissenschaften, vielmehr aller wissenschaftlichen Erfahrung als heuristisches Prinzip zugrunde gelegt werden. Wer da wähnt, es entstehe etwas aus Nichts, kann sein Vorurteil jeden Augenblick bestätigt finden. Erst wer vom Gegenteil überzeugt ist, hat den richtigen Geist des Forschens und wird dann auch die wahren Ursachen der Erscheinungen entdecken. Bewiesen wird der Satz aber durch die Betrachtung, daß, wenn Dinge aus dem Nichts entstehen könnten, diese Entstehungsweise ihrer Natur nach gar keine Schranke hätte, und Alles müßte aus Allem hervorgehen können. Es müßten dann Menschen aus dem Meer und Fische aus der Erde auftauchen können; kein Tier, keine Pflanze würde sich in der Bestimmtheit der Gattung forterhalten.

Dieser Betrachtung liegt der ganz richtige Gedanke zugrunde, daß beim Entstehen aus dem Nichts kein bestimmter Grund mehr gedacht werden kann, warum etwas nicht entstehen sollte, und daß[106] daher eine solche Weltordnung ein beständiges buntes und sinnloses Spiel des Werdens und Vergehens fratzenhafter Ausgeburten werden müßte. Umgekehrt wird dann eben aus der Regelmäßigkeit der Natur, die im Frühling Rosen, im Sommer Getreide, im Herbst die Trauben darbietet, darauf geschlossen, daß durch ein zu bestimmter Zeit erfolgendes Zusammenströmen der Samen der Dinge die Schöpfung sich vollziehe. Es ist daher anzunehmen, daß es gewisse, vielen Dingen gemeinsame Körper gebe, wie die Buchstaben den Worten gemeinsam sind.

In ähnlicher Weise wird gezeigt, daß auch nichts wirklich untergeht, sondern daß nur die Teile der vergehenden Dinge sich zerstreuen, wie sich die Teile sammeln, wo etwas entsteht.

Dem naheliegenden Einwurf, daß man aber die Teilchen, welche sich sammeln oder zerstreuen, nicht sehen könne, begegnet Lucrez mit der Schilderung eines gewaltigen Windsturmes. Zur größeren Klarheit wird das Bild eines reißenden Waldstromes daneben gestellt und gezeigt, wie sich die unsichtbaren Teilchen des Windes genau so äußern, wie die sichtbaren des Wassers. Wärme, Kälte Schall werden in gleicher Weise als Zeugnis für das Dasein einer unsichtbaren Materie angeführt. Noch feinere Beobachtung spricht sich in folgenden Beispielen aus: Gewänder, welche man am brandenden Gestadte ausbreitet, werden feucht; bringt man sie in die Sonne, so werden sie trocken, ohne daß man die Wasserteilchen kommen und entfliehen sieht. Sie müssen also so klein sein, daß man sie nicht sehen kann. Ein Ring, den man jahrelang am Finger trägt, wird dünner; der Fall des Tropfens höhlt den Stein; die Pflugschar nützt sich im Acker ab; das Straßenpflaster wird von den Füßen ausgetreten; welche Teilchen aber in jedem Augenblick verschwinden, hat uns die Natur nicht zu sehen vergönnt. Ebenso kann auch keine Sehkraft der Augen die Teilchen entdecken, die bei allem übrigen Werden und Vergehen hinzu kommen und schwinden. Also wirkt die Natur durch unsichtbare Körperchen (die Atome).

Es folgt dann der Beweis, daß nicht alles mit Materie ausgefüllt sei, daß es vielmehr einen leeren Raum gebe, in dem sich die Atome bewegen. Als wichtigster Grund wird hier wieder der aprioristische vorausgestellt: daß nämlich bei absoluter Raumerfüllung die Bewegung unmöglich sein würde, die wir doch beständig in den Dingen wahrnehmen. Dann erst folgen die Beobachtungsgründe. Auch durch das dichteste Gestein dringen Wassertropfen. Die[107] Nahrungsstoffe der lebenden Wesen durchdringenden ganzen Körper. Die Kälte, der Schall dringen durch die Wände. Endlich kann der Unterschied des spezifischen Gewichts nur auf die größere oder geringere Ausdehnung des leeren Raumes zurückgeführt werden. Dem Einwand, daß doch auch den Fischen sich das Wasser vorn öffne, weil es hinter ihnen wieder Raum findet, begegnet Lucrez mit der Behauptung, daß eben der erste Anfang dieser Bewegung ganz undenkbar sei; denn wohin soll das Wasser vor dem Fisch, wenn der Raum, in den es strömen soll, noch nicht da ist? Ebenso muß bei dem Auseinanderspringen von Körpern für den Augenblick ein leerer Raum entstehen. Verdichtung und Verdünnung der Luft kann diese Vorgänge nicht erklären, denn wenn sie auch stattfindet, so muß sie doch selbst wieder darauf beruhen, daß die Teilchen mittels des sie trennenden leeren Raumes sich dichter aneinander drängen können.

Außer den Körpern und dem leeren Raum gibt es aber nichts. Alles was ist, ist entweder aus diesen beiden verbunden, oder ein Vorgang an diesen. Auch die Zeit ist nichts für sich, sondern nur eine Empfindung dessen, was in einem Zeitraume geschehen ist und was früher oder später ist; sie hat also für sich nicht einmal eine solche Wirklichkeit, wie der leere Raum; vielmehr sind auch die Ereignisse der Geschichte alle nur als Vorgänge an Körpern und im Raume derselben zu betrachten.

Die Körper sind aber alle entweder einfach (die Atome, Lucrez nennt sie gewöhnlich »Anfänge«, principia oder primordia rerum) oder zusammengesetzt; jene sind durch keine Gewalt zerstörbar. Die Teilbarkeit ins Unendliche ist unmöglich, denn da sich jedes Ding leichter und schneller auflöst als bildet, so würde im Lauf unendlicher Zeit die Zerstörung so weit gegangen sein, daß die Wiederherstellung der Dinge nicht erfolgen könnte. Nur weil die Teilbarkeit eine Grenze hat, werden die Dinge erhalten. Auch würde die Teilbarkeit ins Unendliche die Gesetzmäßigkeit in der Erzeugung der Wesen aufheben, da, wenn nicht unveränderliche kleinste Teile zugrunde liegen, alles ohne feste Regel und Folge entstehen könnte.

Die Ausschließung der unendlichen Teilbarkeit ist der Schlußstein der Lehre von den Atomen und dem leeren Raum; nach ihrer Erhärtung macht daher der Dichter eine Pause, welche der Polemik gegen andere Naturauffassung, insbesondere gegen Heraklit, Empedokles und Anaxagoras gewidmet ist. Bemerkenswert ist dabei[108] das Lob des Empedokles, dessen nahe Verwandtschaft mit dem Materialismus wir schon hervorgehoben haben. Nach einem in erhabenen Bildern ausgeführten Lob der Insel Sizilien fährt der Dichter fort:


Aber wie weit ihr Gebiet, wie sehr sie der Völker Bewundrung

Regt durch mancherlei Reiz, und wie den Wanderer anlockt,

Prangend in Fülle des Guts und stark durch Kraft der Bewohner:

Nichts doch, eracht' ich, hegte sie je, dem Manne vergleichbar,

Heiliger nichts und teurer und nie ein größeres Wunder.

Seine Gesänge zumal, aus göttlicher Fülle des Herzens

Schallen sie laut und legen uns dar so herrliche Lehren

Daß von menschlichem Stamm er kaum entsprossen erscheinet.63


Die Polemik selbst übergehen wir. Den Schluß des ersten Buches bildet die Frage nach der Gestaltung des Weltganzen. Hier verwirft Lucrez, wie in allen diesen Lehren treu dem Vorgange Epikurs folgend, vor allen Dingen die Annahme bestimmter Grenzen der Welt. Nehme man auch eine äußerste Grenze an und denke sich von dieser aus mit kräftiger Hand einen Wurfspieß geschleudert: wird ihn etwas hemmen, oder wird er ins Unendliche fortfliegen? In beiden Fällen zeigt sich, daß ein wirkliches Ende der Welt undenkhar ist.

Eigentümlich ist hier der Grund, daß bei einer bestimmten Begrenzung der Welt längst alle Materie sich auf dem Boden des begrenzten Raumes müsse angesammelt haben. Hier begegnen wir einer wesentlichen Schwäche der ganzen Naturanschauung Epikurs. Die Gravitation nach der Mitte, welche von andern Denkern des Altertums vielfach bereits angenommen war, wird ausdrücklich bekämpft. Leider ist diese Stelle des Lucrezischen Lehrgedichtes stark verstümmelt, doch läßt sich sowohl der Nerv der Beweisführung, als auch der eigentliche Grundirrtum noch wohl erkennen. Epikur nimmt nämlich das Gewicht, die Schwere, neben der Widerstandskraft als eine wesentliche Eigenschaft der Atome an. Hier vermochten die tiefsinnigen Denker, welche den Materialismus des Altertums schufen, sich nicht völlig vom gewöhnlichen Sinnenschein zu befreien; denn obwohl Epikur ausdrücklich lehrt, daß es im leeren Raum genau genommen kein oben und unten gebe, so wird doch eine bestimmte Richtung für den Fall sämtlicher Atome des Universums festgehalten. In der Tat war auch die Abstraktion von der gewöhnlichen Sinnesanschanung der Schwere keine geringe Geistesarbeit der Menschheit. Die Lehre von den[109] Antipoden, welche schon früh aus der Erschütterung des Glaubens an den Tartarus in Verbindung mit astronomischen Studien sich entwickelt hatte, kämpfte im Altertum vergebens gegen die natürliche Anschauung eines ein für allemal gegebenen oben und unten. Wie zäh solche Anschauungen, welche die Sinne uns immer und immer wieder vorrücken, der wissenschaftlichen Abstraktion weichen, hat die Neuzeit noch an einem andern großen Beispiel gesehen: an der Lehre von der Bewegung der Erde. Noch ein Jahrhundert nach Kopernikus gab es wissenschaftlich gebildete und freidenkende Astronomen, welche geradezu das natürliche Gefühl von der Festigkeit und Ruhe der Erde als Beweisgrund gegen die Richtigkeit des Kopernikanischen Systemes vorbrachten.

Von der Grundanschauung der Schwere der Atome ausgehend, vermag nun das epikureische System auch nicht eine doppelte und in der Mitte sich aufhebende Richtung derselben anzunehmen. Denn, da überall, also auch in dieser Mitte, noch leerer Raum zwischen den Körperchen bleibt, so können sie einander nicht stützen. Wollte man aber annehmen, daß sie sich in der Mitte bereits zu einer absoluten Dichtigkeit durch unmittelbare Berührung zusammengedrängt hätten, so müßten sich nach Epikurs Lehre hier in der unendlichen Dauer der Zeiten schon sämtliche Atome angesammelt haben, so daß auf der Welt nichts mehr geschehen könnte. Die Schwächen dieser ganzen Anschauungsweise brauchen wir nicht kritisch nachzuweisen.64 Weit interessanter ist es für die denkende Verfolgung menschlicher Entwicklung, zu sehen, wie schwer es war, in der Betrachtung der natürlichen Dinge auf eine geläuterte Anschauung zu kommen. Wir bewundern Newtons Entdeckung des Gravitationsgesetzes und bedenken wenig, wie viele Schritte bis dahin zu tun waren, um auch diese Lehre so zu zeitigen, daß sie von einem bedeutenden Denker gefunden werden mußte. Als die Entdeckung des Kolumbus mit einem Schlage die alte Lehre von den Antipoden in ein völlig neues Licht rückte und die epikureischen Anschauungen in diesem Punkte endgültig beseitigte, lag die Notwendigkeit einer Reform des ganzen Begriffes der Schwere schon vor. Dann kam Kopernikus, dann Kepler, dann die Erforschung der Fallgesetze durch Galilei, und nun endlich war alles zur Aufstellung einer völlig neuen Anschauungsweise vorbereitet.

Gegen Schluß des ersten Buches trägt Lucrez in Kürze die großartige, zuerst von Empedokles aufgestellte Ansicht vor, nach welcher[110] die gesamte Zweckmäßigkeit des Alls und insbesondere auch der Organismus lediglich ein aus der Unendlichkeit des mechanischen Geschehens sich ergebender Spezialfall ist.65

Wenn wir auch die aristotelische Teleologie großartig finden, so dürfen wir doch der unbedingt durchgeführten Zerstörung des Zweckbegriffes dies Beiwort ebensowenig versagen. Es handelt sich hier um den eigentlichen Schlußstein des ganzen Gebäudes materialistischer Weltanschauung, um einen Teil des Systems, der von neuern Materialisten keineswegs immer genügend ist beobachtet worden. Ist die Lehre vom Zweck uns heimlicher, so trägt sie auch eben mehr von der menschlichen Einseitigkeit der Auffassung in sich. Die gänzliche Entfernung dessen, was aus engen menschlichen Verhältnissen in die Dinge hineingetragen wird, mag etwas Unheimliches haben, allein das Gefühl ist eben kein Argument, es ist höchstens ein heuristisches Prinzip, und, gegenüber scharfen logischen Konsequenzen, vielleicht eine Andeutung von weiteren Lösungen, die ein für allemal hinter diesen Konsequenzen, nie vor ihnen liegen.

»Denn wahrlich,« sagt Lucrez, »weder haben die Atome sich nach scharfsinniger Erwägung ein jedes in seine Ordnung gestellt, noch sicher festgestellt, welche Bewegungen ein jedes geben sollte; sondern weil ihrer viele in vielfachen Wandlungen durch das All von Stößen getroffen von Ewigkeit einhergetrieben werden, so haben sie jede Art der Bewegung und Zusammensetzung durchgemacht und sind endlich in solche Stellungen gekommen, aus welchen diese ganze Schöpfung besteht, und nachdem diese sich durch viele und lange Jahre erhalten hat, bewirkt sie, seit sie einmal in die passende Bewegung geworfen ist, daß die Ströme mit reichen Wogen das gierige Meer ernähren, und daß die Erde, vom Strahl der Sonne gewärmt, neue Geburten zeugt, und das Geschlecht des Lebenden sprießt und blüht, und die hingleitenden Funken des Äthers lebendig bleiben.«

Das Zweckmäßige nur als einen Spezialfall alles dessen, was gedacht werden kann, aufzufassen, ist ein ebenso großer Gedanke, als es scharfsinnig ist, die Zweckmäßigkeit des Bestehenden auf den Bestand des Zweckmäßigen zurückzuführen. Eine Welt, die sich selbst erhält, ist danach nur der eine Fall, der bei unzähligen Kombinationen der Atome sich im Laufe der Ewigkeit von selbst ergeben muß, und nur eben der Umstand, daß die Natur dieser Bewegungen darauf führt, daß sie sich im großen Ganzen erhalten[111] und immer neu erzeugen, gibt den Verhältnissen dieser Welt die Dauer, deren wir uns erfreuen.

Im zweiten Buch setzt Lucrez die Bewegung der Atome und die Eigenschaften derselben näher auseinander. Die Atome sind, so lehrt er, in ewiger Bewegung, und diese Bewegung ist nach dem Naturgesetz ursprünglich ein beständiger gleichmäßiger ewiger Fall durch die schrankenlose Unendlichkeit des leeren Raumes.

Hier ergibt sich aber eine große Schwierigkeit für das System Epikurs: wie soll aus diesem ewigen gleichmäßigen Fall der Atome die Weltbildung hervorgehen? Bei Demokrit (vgl. oben S. 19 ff.) fallen die Atome mit verschiedener Schnelligkeit; die schweren stoßen auf die leichten, und damit ist der Anfang des Werdens gegeben. Epikur leitet die verschiedene Schnelligkeit des Falles der Körper in der Luft oder im Wasser ganz richtig vom Widerstande des Mediums ab. Hierin folgt er Aristoteles, um sich alsbald um so schroffer von ihm zu trennen. Dieser leugnet nicht nur den leeren Raum, sondern er leugnet auch die Möglichkeit, daß sich in einem leeren Raume irgend etwas bewegen könne. Epikur, mit einer besseren Ansicht von der Bewegung, findet umgekehrt, daß die Bewegung im Leeren nur um so schneller gehen muß, weil aller Widerstand fehlt. Aber wie schnell denn? Hier liegt wieder eine Klippe des Systems.

Vergleichsweise wird gesagt, daß sich die Atome im leeren Raum mit noch ungleich größerer Schnelligkeit bewegen als die Sonnenstrahlen, welche im Nu den Raum von der Sonne zur Erde durchfliegen;66 aber ist dies ein Maß? Gibt es hier überhaupt noch ein Maß der Schnelligkeit? Offenbar nicht; denn im Grunde muß jeder gegebene Raum in unendlich kleiner Zeit durchflogen werden, und da der Raum absolut unendlich ist, so wird diese Bewegung, solange keine Gegenstände da sind, an denen sie sich messen könnte, eine unbestimmte Größe; die Atome aber, die sich alle parallel und gleich schnell bewegen, sind relativ in vollkommener Ruhe. Diese Folge seiner Abweichung von Demokrit scheint Epikur sich keineswegs hinlänglich klar gemacht zu haben, höchst sonderbar aber ist das Auskunftsmittel, durch welches er zu einem Anfang der Weltbildung gelangt.

Wie kamen die Atome, die ihrer ungestörten Natur nach einfach gerade und parallel wie die Regentropfen sich fortbewegen, zu Seitenbewegungen, zu schnellen Wirbeln und zahllosen, bald unauflöslich festen, bald in ewiger Gesetzmäßigkeit sich lösenden und[112] neu gestaltenden Verbindungen? Sie müssen zu einer ganz unbestimmbaren Zeit begonnen haben von der geraden Richtung abzuweichen.67 Die geringste Abbiegung von der parallelen Linie muß im Laufe der Zeiten eine Bewegung, ein Aufeinanderstoßen der Atome bewirken. Ist dies einmal gegeben, so müssen bei der mannigfachen Form der Atome auch bald die kompliziertesten Wirbelbewegungen, Verbindungen und Trennungen entstehen. Aber woher der Anfang? Hier hat das System Epikurs eine fatale Lücke. Lucrez löst das Rätsel oder zerhaut vielmehr den Knoten durch Hinweisung auf die willkürlichen Bewegungen des Menschen und der Tiere.68

Während es also eine der wichtigsten Bestrebungen des neueren Materialismus ist, auch die ganze Fülle der willkürlichen Bewegungen aus mechanischen Ursachen herzuleiten, nimmt Epikur hier ein ganz unberechenbares Element in sein System auf. Zwar erfolgen auch ihm die meisten Handlungen des Menschen durch die gegebene Bewegung der stofflichen Teile, indem eine Bewegung immer eine andere veranlaßt. Allein hier haben wir nicht nur eine offenbare und grobe Durchbrechung der Kausalreihe, sondern es scheint auch noch eine weitere Unklarheit über das Wesen der Bewegung dahinter zu stecken. Beim lebenden Wesen nämlich bringt der freie Wille, wie auch aus den von Lucrez gewählten Beispielen hervorgeht (II. 263-71), in kurzer Zeit sehr bedeutende Wirkungen hervor; so bei dem Rosse, das sich nach Beseitigung der Schranken in die Rennbahn stürzt. Und doch soll der Anfang ein unendlich geringer Anstoß einzelner Seelenatome sein. Hier scheint eine ähnliche Vorstellungsweise zugrunde zu liegen, wie bei der Lehre von der Ruhe der Erde inmitten der Welt, wovon weiter unten die Rede sein wird.

Alle diese Fehler hat Demokrit vermutlich nicht geteilt, doch werden wir sie milder beurteilen, wenn wir bedenken, daß noch bis auf den heutigen Tag in der Lehre von der Willensfreiheit in den meisten Fällen, so fein sie auch metaphysisch ausgesponnen sei, den eigentlichen Kern, die einfache Unwissenheit und Befangenheit im Sinnenschein ausmacht.

Um die anscheinende Ruhe der Gegenstände zu erklären, deren Teilchen doch beständig in heftigster Bewegung sind, braucht der Dichter das Bild einer weidenden Herde mit fröhlich hüpfenden Lämmern, von welcher wir aus der Ferne nichts wahrnehmen, als einen weißen Fleck auf dem grünen Hügel.[113]

Die Atome stellt nun Lucrez dar als äußerst mannigfach der Form nach. Bald glatt und rund, bald rauh und spitzig, verästelt oder hakenförmig üben sie je nach ihrer Beschaffenheit einen bestimmten Einfluß auf unsere Sinne oder auf die Eigenschaften der Körper aus, in deren Bestand sie eingehen. Die Zahl der verschiedenen Formen ist begrenzt, von jeder Form aber gibt es unendlich viele. In jedem Körper verbinden sich die verschiedensten Atome in besonderen Verhältnissen miteinander, und durch diese Kombination ist, wie bei der Kombination der Buchstaben in den Worten, eine ungleich größere Mannigfaltigkeit der Körper möglich, als sie sonst aus den verschiedenen Formen der Atome folgen könnte. Einer recht aus dem Geist unseres Dichters hervorgegangenen poetischen Stelle, welche hier zur Kritik der mythologischen Naturauffassung eingeflochten ist, können wir nicht umhin, einen Satz zu entnehmen.

»Wenn jemand das Meer Neptun und das Getreide Ceres nennen, und den Namen Bacchus lieber mißbrauchen, als die Flüssigkeit beim rechten Namen nennen will, so wollen wir gestatten, daß dieser auch den Erdkreis als die Mutter der Götter bezeichnet, wenn er es nur in Wirklichkeit unterläßt, sein Gemüt mit der schnöden Religion zu beflecken.«69

Nachdem Lucrez nun weiter gelehrt hat, daß die Farbe und die sonstigen sinnlichen Qualitäten nicht den Atomen an sich zukommen, sondern nur Folgen ihrer Wirkungsweise in bestimmten Verhältnissen und Zusammensetzungen sind, geht er zu der wichtigen Frage des Verhältnisses der Empfindung zur Materie über.

Die Grundanschauung ist hier die, daß das Empfindende sich aus dem nicht Empfindenden entwickelt. Der Dichter präzisiert diese Anschauung dahin, daß nicht aus allem unter allen Umständen sofort Empfindung hervorgehen könne, sondern daß es sehr auf die Feinheit, Form, Bewegung und Ordnung der Materie ankomme, ob sie Empfindendes, mit Sinne Begabtes zeuge oder nicht. Empfindung ist nur im organischen Tierkörper,70 hier aber kommt sie auch nicht den Teilen an sich zu, sondern dem Ganzen.

Hier sind wir an einem jener Punkte angelangt, wo der Materialismus, so konsequent er sonst auch ausgebildet ist, jedesmal deutlicher oder versteckter seinen eigenen Boden verläßt. Es wird offenbar mit der Vereinigung zum Ganzen ein neues metaphysisches Prinzip eingeführt, das sich neben den Atomen und dem leeren Raum eigentümlich genug ausnimmt.[114]

Den Beweis dafür, daß es so sei, daß die Empfindung nicht den einzelnen Atomen zukomme, sondern dem Ganzen, führt Lucrez nicht ohne Humor. Es wäre nicht übel, meint er, wenn die Menschenatome wieder lachen und weinen könnten und klug über die Mischung der Dinge reden und wieder fragen, was sie selbst denn ferner für Urbestandteile hätten. Jedenfalls müßten sie solche haben, um empfinden zu können, und dann wären sie wieder eben nicht die Atome. Hier ist freilich übersehen, daß die entwickelte menschliche Empfindung auch ein aus vielfachen niederem Empfinden durch eigentümliches Zusammenwirken entstehendes Ganze sein kann, die wesentliche Schwierigkeit bleibt jedoch auch dabei bestehen. Diese Empfindung des Ganzen kann in keinem Falle eine bloße Folge irgendwelcher Funktionen des Einzelnen sein, ohne daß das Ganze auch eine gewisse Wesenhaftigkeit hat; denn aus einer ohnehin gar nicht vollziehbaren Summierung des Nichtempfindens der Atome kann kein Empfinden der Summe stammen.

Das organische Ganze ist also neben den Atomen und dem leeren Raum ein ganz neues Prinzip, wenn es auch nicht als solches anerkannt wird.

Den Schluß des zweiten Buches bildet eine großartige und kühne Folgerung aus den bisher vorgetragenen Ansichten: die Lehre der Materialisten des Altertums von der unendlichen Anzahl der Welten, welche in ungeheuren Zeiträumen und Entfernungen neben-, über- und untereinander entstehen, Äonen lang dauern und wieder vergehen.

Weit außerhalb der Grenzen unserer sichtbaren Welt befinden sich nach allen Seiten zahllose noch nicht zu Körpern verbundene oder von endloser Zeit wieder zerstreute Atome, die ihren stillen Fall durch Räume und Zeiträume verfolgen, die niemand ermessen kann. Da nun allenthalben durch das weite All hin sich dieselben Bedingungen vorfinden, so müssen auch die Erscheinungen sich wiederholen. Über uns, unter uns, neben uns sind daher Welten, eine unermeßliche Zahl, bei deren Erwägung jeder Gedanke an eine Lenkung dieses Ganzen durch die Götter schwinden muß. Diese alle sind dem Werden und Vergehen unterworfen, indem sie bald immer neue Atome aus dem endlosen Raume anziehen, bald durch Zerstreuung der Tiefe immer größere Einbuße erleiden. Unsere Erde altert schon. Der betagte Ackersmann schüttelt mit Seufzen sein Haupt und schreibe der Frömmigkeit der Vorfahren jenen[115] besseren Erfolg früherer Zeiten zu, den uns doch nur das Hinschwinden unserer Welt mehr und mehr verkümmert hat.

Im dritten Buch seines Lehrgedichtes sammelt Lucrez die ganze Kraft seiner Philosophie und seiner Dichtung zur Darlegung des Wesens der Seele und zur Bekämpfung der Unsterblichkeitslehre. Hier ist die Beseitigung der Todesfurcht der Ausgangspunkt. Dieser Furcht, welche jede reine Luft vergiftet, schreibt der Dichter auch einen großen Teil jener Begierden zu, welche den Menschen zum Verbrechen treiben. Die Armut scheint denen, deren Brust nicht durch die richtige Einsicht geläutert ist, schon die Pforte des Todes zu sein. Um dem Tode recht weit zu entrinnen, häuft sich der Mensch Reichtümer auf durch die schnödesten Verbrechen; ja die Todesfurcht kann so weit verblenden, daß man das sucht, was man flieht: sie kann zum Selbstmord treiben, indem sie das Leben unausstehlich macht.

Lucrez unterscheidet Seele (anima) und Geist (animus). Beide erklärt er für eng miteinander verbundene Bestandteile des Menschen. Wie Hand, Fuß, Auge, Organe des lebenden Wesens sind, in derselben Weise auch der Geist. Er verwirft die Anschauung, nach welcher die Seele nur in der Harmonie des ganzen körperlichen Lebens bestehe. Die Wärme und Lebensluft, welche im Tode den Körper verläßt, bildet die Seele, und der feinste, innerste Bestandteil derselben, der in der Brust seinen Sitz hat und allein empfindet, ist der Geist; beide sind körperlicher Natur und bestehen aus den kleinsten, rundesten und beweglichsten Atomen.

Wenn die Blume des Weines verfliegt, oder der Duft einer Salbe sich in die Luft zerstreut, so merkt man doch keine Abnahme des Gewichtes. Ebenso ist es mit dem Körper, wenn die Seele entschwunden ist.

Die Schwierigkeit, welche sich hier wieder einstellen muß, den Sitz der Empfindung genauer zu bestimmen, wird durch das System Epikurs auf dem bedeutungsvollsten Punkte völlig umgangen, und trotz der ungeheueren Fortschritte der Physiologie findet sich hier noch der Materialismus des vorigen Jahrhunderts auf demselben Fleck. Die einzelnen Atome empfinden nicht, ihre Empfindung könnte sich auch nicht verschmelzen, da der leere Raum, der kein Substrat dafür hat, sie nicht leiten und noch weniger selbst mit empfinden kann. Man stößt daher immer wieder auf den Machtspruch: Die Bewegung der Atome ist Empfindung.

Epikur und mit ihm Lucrez suchen diesen Punkt vergeblich dadurch[116] zu verdecken, daß zu den feinen Luft-, Dunst- und Wärmeatomen, aus denen die Seele bestehen soll, noch ein vierter ganz namenloser und allerfeinster, innerster, beweglichster Bestandteil gestellt wird, der wieder die Seele der Seele bildet.71 Die Frage bleibt für diese feinsten Seelenatome immer dieselbe, und sie ist für die schwingenden Gehirnfasern De la Mettries wieder ganz dieselbe: Wie kann die Bewegung eines an sich nicht empfindenden Körpers Empfindung sein? Wer empfindet nun? Wie wird empfunden? Wo? – Auf diese Fragen gibt uns Lucrez keine Antwort. Wir werden ihnen später wieder begegnen.

Eine ausführliche Widerlegung der Unsterblichkeitslehre in jeder Form, welche sie auch annehmen mag, bildet einen bedeutenden Teil des Buches. Man sieht, welchen Wert der Dichter auf diesen Punkt legte, da die Schlußfolgerung sich im Grunde schon vollständig aus dem Vorhergehenden ergibt. Der Schluß der ganzen Beweisführung läuft darauf hinaus, daß der Tod für uns gleichgültig sei, da eben mit dem Eintritt desselben kein Subjekt mehr da ist, welches irgendein Übel empfinden könnte.

Bei seiner Scheu vor dem Tode, sagt der Dichter, hat der Mensch im Hinblick auf den Körper, der am Boden fault, oder von Flammen verzehrt, von Raubtieren zerrissen wird, immer noch einen heimlichen Rest der Vorstellung, daß er selbst das erdulden müsse. Selbst indem er diese Vorstellung leugnet, hegt er sie noch und nimmt sich (das Subjekt) nicht vollständig genug aus dem Leben heraus. So übersieht er, daß er bei seinem wirklichen Tode nicht noch einmal doppelt da sein kann, um sich selbst wegen solcher Schicksale zu bejammern. »Nun wird dich die traute Heimat nicht mehr empfangen, noch die liebe Gattin und die süßen Kinder deinen Küssen entgegen eilen und dein Herz mit stiller Wonne füllen. Jetzt kannst du nicht mehr als ein Hort der Deinen dein Glück genießen« – so jammern sie – »alle diese Güter des Lebens hat dir der eine unselige Tag geraubt«. Nur das vergessen sie hinzuzufügen: »Und du hast jetzt gar keine Sehnsucht mehr nach jenen Dingen.« Wenn sie das recht bedächten, würden sie sich von großer Angst und Furcht befreien. »Du freilich, wie du im Tode entschlummert bist, so wirst du für die ganze Folgezeit von allen Schmerzen befreit sein: wir aber weinen bei dem schauderhaften Grabe unersättlich über deiner Asche, und kein Tag wird uns den immerwährenden Kummer aus dem Busen nehmen.« Wenn einer so spricht, muß man ihn fragen, was denn eigentlich so Herbes daran sei, wenn er[117] zum Schlummer und zur Ruhe kommt, daß jemand darüber in ewiger Trauer sich verzehren könnte.

Der ganze Schluß des dritten Buches, von der Stelle an, die wir hier fast wörtlich mitteilen, enthält viel Treffliches und Bemerkenswertes. Die Natur selbst wird redend eingeführt und beweist dem Menschen die Eitelkeit der Todesfurcht. Sehr schön benutzt der Dichter ferner die schreckhaften Mythen von der Unterwelt, die alle auf das menschliche Leben mit seinen Ängsten und Leidenschaften umgedeutet werden. Man könnte oft meinen, einen Rationalisten des vorigen Jahrhunderts zu hören, wenn es sich nicht eben um klassische Anschauungen handelte.

Nicht Tantalus in der Unterwelt hegt die eitle Furcht vor dem Fels, der über seinem Haupte droht, sondern die Sterblichen werden im Leben so durch Götterfurcht und Todesfurcht geängstigt. Unser Tityos ist nicht der Riese der Unterwelt, der über neun Morgen hingestreckt ewig von Geiern zerfleischt wird, sondern jeder, der von den Qualen der Liebe oder irgendeiner Begierde verzehrt wird. Der Ehrgeizige, der nach hohen Würden im Staate trachtet, wälzt wie Sisyphos den ungeheueren Stein bergan, der alsbald vom Gipfel wieder zur Erde hinabrollen wird. Der grimmige Cerberus und alle die Schrecken des Tartarus bedeuten die Strafen, die der Verbrecher zu fürchten hat, denn wenn er auch dem Kerker und schmachvoller Hinrichtung entflieht, so muß doch sein Gewissen ihn beständig mit allen Schrecknissen der Gerechtigkeit ängstigen. Helden und Könige, große Dichter und Weise sind gestorben, und Menschen, deren Leben weit weniger Wert hat, sträuben sich zu sterben. Und doch bringen sie ihr Leben nur unter quälenden Träumen und eiteln Sorgen dahin, suchen das Übel bald hier und bald da und wissen nicht, was ihnen in Wahrheit mangelt. Wüßten sie es, sie würden alles andre fahren lassen und sich einzig der Erkenntnis der Natur der Dinge hingeben, da es sich doch um einen Zustand handelt, in welchem der Mensch nach Beendigung dieses Lebens für ewige Zeiten verharren wird.

Das vierte Buch enthält die spezielle Anthropologie. Es würde uns zu weit führen, wollten wir die zahlreichen und oft überraschenden Naturbeobachtungen anführen, auf die der Dichter seine Lehren stützt. Die Lehren selbst sind diejenigen Epikurs, und da es uns nicht um die Uranfänge physiologischer Hypothesen, sondern um die Fortentwicklung großer Grundanschauungen zu tun ist, so mag das wenige, was wir oben aus der epikureischen Lehre von den[118] Sinnesempfindungen mitgeteilt haben, genügen.

Den Schluß des Buches bildet eine ausführliche Behandlung der Liebe und des Geschlechtsverkehrs. Weder nach den gewöhnlichen Begriffen, die man vom epikureischen Systeme mitbringt, noch nach der glänzenden poetischen Anrufung der Venus im Eingange des ganzen Buches sollte man den Ernst und die Strenge erwarten, mit welcher der Dichter hier zu Werke geht. Er behandelt sein Thema streng naturhistorisch, und indem er die Entstehung der geschlechtlichen Begierde zu erklären sucht, verwirft er sie zugleich als ein Übel.

Das fünfte Buch ist der spezielleren Ausführung der Entstehungsgeschichte des Vorhandenen, der Erde und des Meeres, der Gestirne und der lebenden Wesen gewidmet. Eigentümlich ist hier die Stelle von der Ruhe der Erde in der Mitte der Welt.

Als Grund derselben wird die unauflösliche Verbindung der Erde mit luftförmigen Atomen angegeben, die ihr unterbreitet sind und die ebendeshalb von ihr nicht gedrückt werden, weil sie von Anfang an mit ihr fest verbunden sind. Daß dieser Auffassung eine gewisse Unklarheit zugrunde liegt, wollen wir einräumen; auch dient der Vergleich mit dem menschlichen Körper, der durch seine eigenen Glieder nicht belastet und durch die feinen luftförmigen Teilchen der Seele getragen und bewegt wird, keineswegs dazu, uns die Vorstellung viel näher zu bringen: wir glauben jedoch bemerken zu müssen, daß der Gedanke an eine absolute Ruhe der Erde dem Dichter wohl ebenso fern liegt, wie er dem ganzen System offenbar widersprechen würde. Das Weltganze muß gleich allen Atomen fallend gedacht werden, und befremdend ist nur, daß das freie Weichen der unter der Erde befindlichen Luftatome nach unten nicht zur Erklärung angeführt wird.72

Hätten freilich Epikur und seine Schule das Verhältnis relativer Ruhe und Bewegung schon zu voller Klarheit gebracht, so würden sie ihrer Zeit um viele Jahrhunderte vorangeeilt sein.

Die Richtung der ganzen Naturerklärung auf das Mögliche statt auf das Wirkliche haben wir bei Epikur auch schon kennengelernt. Lucrez spricht sie mit einer solchen Schärfe aus, daß wir in Verbindung mit den Überlieferungen von Diogenes von Laerte zu der Ansicht kommen müssen, daß wir in diesem Punkte nicht Gleichgültigkeit oder Oberflächlichkeit, wie manche meinen, sondern eine bestimmte, dem Grundgedanken nach sogar möglichst exakte Methode der epikureischen Schule vor uns haben.73[119]

Bei Gelegenheit der Frage nach den Ursachen der Bewegung der Gestirne sagt der Dichter: »Denn was davon in dieser Welt sei als sicher hinzustellen, ist schwierig; aber was möglich ist und was durch das All hin in verschiedenen, auf verschiedene Weise geschaffenen Welten geschieht, das lehre ich und suche die mehrfachen Ursachen, welche im All für die Bewegung der Gestirne sein können, auseinanderzusetzen, von denen eine doch auch diese Ursache sein muß, die den Gestirnen ihre Bewegung gibt; aber welche von ihnen es sei, kann man bei vorsichtigem (pedetentim) Fortschritt keineswegs lehren.«74

Der Gedanke, daß die gesamte Summe der Möglichkeiten bei der Unendlichkeit der Welten auch irgendwo vertreten ist, paßt durchaus in das System; die Summe des Denkbaren der Summe des real Möglichen und also auch in irgendeiner der unendlich vielen Welten Vorhandenen gleichzusetzen, ist ein Gedanke, der noch heutzutage auf die beliebte Lehre von der Identität des Seins und des Denkens ein nützliches Streiflicht werfen kann. Indem sich die epikureische Naturforschung auf die Summe des Denkbaren – nicht auf beliebige vereinzelte Möglichkeiten – richtet, geht sie also zugleich auf die Summe des Seienden; nur bei der Entscheidung über das, was in unserm bestimmten Falle ist, greift das skeptische epechein Platz und verhütet einen Ausspruch, der weiter geht als das wirkliche Erkennen. Mit dieser ebenso tiefsinnigen als behutsamen Methode vereinigt sich aber die Annahme der größeren Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Erklärung recht gut; und wir haben in der Tat von solcher Bevorzugung der plausibelsten Erklärung mancherlei Spuren.

Zu den bedeutendsten Teilen des ganzen Werkes kann man diejenigen Abschnitte des fünften Buches rechnen, welche von der allmählichen Entwicklung des Menschengeschlechts handeln. Mit Recht sagt Zeller, der sonst Epikur nicht vollständig gerecht wird, daß dessen Philosophie in diesen Fragen sehr gesunde Ansichten geltend gemacht habe.

Das Menschengeschlecht der Urzeit war nach Lucrez bedeutend stärker als das jetzige und hatte gewaltige Knochen und feste Sehnen. Abgehärtet gegen Frost und Hitze, lebte es nach Art der Tiere ohne irgendwelche Künste des Ackerbaues. Von selbst bot die fruchtbare Erde die Nahrung dar und den Durst stillten Flüsse und Quellen. Sie wohnten in Wäldern und Höhlen ohne Sitten noch Gesetz. Der Gebrauch des Feuers und selbst der Felle zur Bekleidung[120] war ihnen unbekannt. Im Kampf mit den Tiergeschlechtern besiegten sie die meisten und wurden nur von wenigen verfolgt. Allmählich lernten sie sich Hütten bauen und sich Felder bereiten und das Feuer benutzen, die Bande des Familienlebens knüpften sich, und da begann das Menschengeschlecht milder zu werden. Die Nachbarn begannen Freundschaft anzuknüpfen, Schonung der Frauen und Kinder wurde eingeführt, und wenn auch noch nicht völlig Eintracht herrschte, so hielten doch die meisten Frieden.

Die mannigfachen Laute der Sprache ließ die Natur den Menschen ausstoßen, und die Anwendung bildete die Namen der Dinge auf nicht viel andere Weise, als die erste Entwicklung die Kinder zum Gebrauch der Sprache fortreißt, indem sie bewirkt, daß sie mit den Fingern zeigen wollen, was vor ihnen sei. Wie das Böcklein die Hörner fühlt und mit ihnen angreifen will, bevor sie herangewachsen sind, wie die jungen Panther und Löwen sich schon mit den Tatzen und dem Maule wehren, wenn sie noch kaum Krallen und Zähne haben, wie wir die Vögel schon früh auf die Flügel vertrauen sehen, so hielt es der Mensch mit der Sprache. Es ist deshalb Unsinn zu glauben, daß jemand damals den Dingen ihre Namen zugeteilt habe, und daß davon die Menschen die ersten Worte gelernt hätten; denn weshalb sollte man annehmen, daß dieser alles hätte mit Lauten bezeichnen und die mannigfachen Töne der Sprache hervorbringen können, während zu derselben Zeit die andern dies nicht gekonnt hätten; und wie wollte der Kundige die andern bewegen, Laute zu gebrauchen, deren Zweck und Bedeutung diesen ganz unbekannt wäre?

Selbst die Tiere bringen bei Furcht, Schmerz und Freude ganz verschiedene Laute hervor. Der Molosserhund, der knurrend die Zähne weist, laut bellt oder mit seinen Jungen spielt, im Hause zurückgelassen heult oder winselnd den Schlägen entflieht, gibt die verschiedensten Töne von sich. Dasselbe wird bei andern Tieren nachgewiesen. Um wieviel mehr nun, schließt der Dichter, muß man annehmen, daß die Menschen schon in der Urzeit die verschiedenen Gegenstände mit immer anderen Lauten haben bezeichnen können.

In derselben Weise wird die allmähliche Entwicklung der Künste behandelt. Erfindungen und Entdeckungen läßt Lucrez zwar gelten, aber konsequent seiner Weltanschauung treu, teilt er doch die wichtigste Rolle dem mehr oder weniger blinden Versuche zu. Erst[121] nach Erschöpfung mancher Irrwege gerät der Mensch auf das Richtige, das sich dann durch seinen offenbaren Wert erhält und in bleibenden Gebrauch kommt. Von besonderer Feinheit ist dabei der Gedanke, daß das Spinnen und Weben zuerst von dem erfinderischen männlichen Geschlechte müsse betrieben und erst nachher auf das weibliche übertragen sein, während die Männer sich wieder den härteren Arbeiten zuwendeten.

Heutzutage, wo die Frauenarbeit Schritt für Schritt (und etwa auch sprungweise) in die von den Männern geschaffenen und bisher ausschließlich betriebenen Berufszweige eindringt, liegt dieser Gedanke viel näher, als zu den Zeiten des Epikur und Lucrez, wo solche Übertragungen ganzer Arbeitszweige unseres Wissens nicht vorkamen.

In den Zusammenhang dieser geschichts-philosophischen Betrachtungen sind denn auch die Gedanken des Dichters über die Bildung der politischen und religiösen Einrichtungen verwebt. Lucrez denkt sich, daß die durch Talent und Mut hervorragenden Männer Städte zu gründen und sich Burgen zu bauen begannen und dann, als Könige Land und Besitz nach Gutdünken den Schönsten, Stärksten und Begabtesten unter ihren Anhängern verteilten. Erst später bildeten sich mit der Auffindung des Goldes Vermögensverhältnisse, welche bald dem Reichen erlaubten, sich über Kraft und Schönheit zu erheben. Der Reichtum schafft sich nun auch seine Anhänger und verbindet sich mit dem Ehrgeiz. Allmählich streben viele nach Gewalt und Einfluß. Der Neid untergräbt die Macht, die Könige werden gestürzt, und je mehr ihr Zepter früher gefürchtet war, desto eifriger wird es nun in den Staub getreten. Jetzt herrscht für einige Zeit die rohe Menge, und erst aus diesem anarchischen Übergangszustande gehen gesetzlich geordnete Verhältnisse hervor.

Die eingeflochtenen Bemerkungen tragen jenen Charakter der Resignation und der Abneigung gegen politische Tätigkeit, welcher überhaupt im Altertum der materialistischen Richtung eigen war. Wie Lucrez dem Jagen nach Reichtum die Sparsamkeit und Genügsamkeit gegenüberhält, so ist er auch der Ansicht, daß es weit besser sei ruhig (quietus!) zu gehorchen, als die Verhältnisse durch Herrschaft leiten zu wollen und die Königskrone zu behaupten. Man sieht, daß der Begriff der alten Bürgertugend und echt republikanischer Gemeinsamkeit der Selbstregierung abhanden gekommen ist. Das Lob des passiven Gehorsams ist mit der Leugnung[122] des Staates als einer sittlichen Gemeinschaft gleichbedeutend. Mit Unrecht hat man wohl dieses ausschließliche Festhalten des Standpunktes des einzelnen in gar zu enge Verbindungen mit dem Atomismus der Naturlehre gebracht. Auch die Stoiker, deren ganze Richtung auf das sittliche Handeln doch sonst die Politik nahe legte, wandten sich namentlich in späterer Zeit entschieden von den Staatsgeschäften ab; anderseits ist die Gemeinschaft der Weisen, welche die Stoiker so hoch stellten, bei den Epikureern in der engeren und innigeren Form der Freundschaft vertreten.

Es ist vielmehr wesentlich das Erlöschen der staatenbildenden Jugendkraft der Völker des Altertums, das Hinschwinden der Freiheit und die Fäulnis und Hoffnungslosigkeit der politischen Zustände, was die Philosophen dieser Zeit zum Quietismus hintreibt. Die Religion leitet Lucrez aus ursprünglich reinen Quellen ab. Wachend und mehr noch träumend schauten die Menschen im Geiste die herrlichen und gewaltigen Gestalten der Götter und schrieben diesen Phantasiebildern Leben, Empfindung und übermenschliche Kräfte zu. Nun sahen sie aber gleichzeitig den regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten und des Auf- und Niedergangs der Gestirne; da sie den Grund dieser Vorgänge nicht kannten, versetzten sie die Götter in den Himmel, die Stätte des Lichts, und schrieben ihnen mit allen Himmelserscheinungen auch Sturm und Hagelschlag, den Blitzstrahl und den grollenden, drohenden Donner zu.

»O unseliges Geschlecht der Sterblichen, das solche Dinge den Göttern zuschrieb und ihnen den erbitterten Zorn andichtete! Welchen Jammer haben sie da über sich selbst, welche Wunden über uns, welche Tränen über unsere Nachkommen gebracht.«75 Weitläufig schildert der Dichter, wie leicht der Mensch beim Anblick der Schrecknisse des Himmels dazu kommen mußte, statt der ruhigen Betrachtung der Dinge, die doch allein wahre Frömmigkeit ist, den vermeintlichen Zorn der Götter durch Opfer und Gelübde zu sühnen, die doch nichts helfen.

Das letzte Buch unseres Lehrgedichts enthält, wenn der Ausdruck gestattet ist, die Pathologie. Hier werden die Gründe der meteorischen Erscheinungen erörtert; Blitz und Donner, Hagel und Wolken, das Schwellen des Nils und die Feuerausbrüche des Ätna erklärt. Wie aber im vorigen Buche die Urgeschichte der Menschheit nur einen Teil der Kosmogonie bildet, so werden hier die Krankheiten der Menschen und die merkwürdigen Erscheinungen des Weltganzen verflochten, und den Schluß des ganzen Werkes bildet[123] eine mit Recht berühmte Schilderung der Pest. Vielleicht mit Absicht beschließt der Dichter sein Werk mit einer ergreifenden Schilderung der Gewalt des Todes, wie er es mit einer Anrufung der Göttin des sprießenden Lebens begonnen hat.

Von dem speziellen Inhalte des sechsten Buches wollen wir nur die ausführliche Behandlung der »Avernischen Orte« und der Erscheinungen des Magnetsteins erwähnen. Jene mußten die aufklärende Tendenz des Dichters besonders herausfordern, diese boten seiner Naturerklärung eine besondere Schwierigkeit dar, welche er mit aller Sorgfalt durch eine verwickelte Hypothese zu beseitigen sucht.

Avernische Orte nannten die Alten solche Stellen des Erdbodens, wie sie gerade in Italien, Griechenland und Westasien, den Bildungsstätten jener Zeiten, sich nicht selten finden, an welchen der Boden Dünste aushaucht, die bei Menschen und Tieren Betäubung oder Tod verursachen. Man nahm im Volksglauben natürlicherweise an diesen Stellen eine Verbindung mit der Unterwelt, dem Reiche des Todesgottes, an und erklärte sich die todbringende Wirkung aus dem Heraufdringen der Geister und dämonischen Wesen des Schattenreiches, welche die Seelen der Lebenden mit sich hinabzuziehen versuchen. Der Dichter sucht nun aus der verschiedenen Natur der Atome nachzuweisen, wie einige diesen, andere jenen Geschöpfen entweder zuträglich oder nachteilig sein müssen. Er geht dann auf mancherlei Arten unsichtbar sich verbreitender Giftstoffe ein und erwähnt neben einigen abergläubischen Überlieferungen namentlich auch die Metallvergiftungen durch Arbeit in den Bergwerken, und, was auf die fraglichen Fälle am meisten paßt, die tödliche Wirkung der Kohlendünste. Begreiflicherweise schreibt er diese, da die Kohlensäure dem Altertum unbekannt war, den übelriechenden schwefeligen Dämpfen zu. Der richtige Schluß auf eine Vergiftung der Luft durch Ausdünstungen des Erdbodens an jenen Stellen mag einen Beweis dafür geben, wie eine geordnete, nach Analogien verfahrende Naturbetrachtung auch ohne Anwendung strengerer Methoden schon große Fortschritte im Erkennen bedingen mußte.

Die Erklärung der Wirkungen des Magneten läßt uns, so mangelhaft sie übrigens bleiben muß, einen Blick tun in die feine und konsequente Ausbildung der Hypothese, welche der ganzen Naturauffassung der epikureischen Physik zugrunde liegt. Lucrez erinnert zuerst an die beständigen, äußerst schnellen und stürmischen[124] Bewegungen der feinen Atome, die in den Poren aller Körper zirkulieren und von ihrer Oberfläche ausstrahlen. Jeder Körper sendet nach dieser Anschauung nach allen Seiten Ströme solcher Atome, welche eine unaufhörliche Wechselwirkung zwischen allen Gegenständen im Raume herstellen. Es ist eine Theorie allgemeiner Emanation gegenüber der Vibrationstheorie der neueren Naturwissenschaften, die Wechselbeziehungen an sich, abgesehen von der Form derselben, hat das Experiment in unseren Tagen nicht nur bestätigt, sondern nach ihrer Art, Menge und Schnelligkeit noch ungleich bedeutender erscheinen lassen, als sich die kühnste Phantasie eines Epikureers denken mochte.

Lucrez lehrt uns, daß vom Magneten eine so heftige Ausströmung stattfindet, daß sie durch Verdrängung der Luft einen leeren Raum zwischen dem Magneten und dem Eisen bewirkt, in welchen dieses hineinstürzt. Daß dabei nicht an einen mystisch wirkenden horror vacui gedacht wird, ist bei der Physik dieser Schule selbstverständlich. Vielmehr soll jene Wirkung dadurch hervorgebracht werden, daß jeder Körper beständig von allen Seiten von Stößen der Luftatome getroffen wird und daher nach derjenigen Richtung weichen muß, in welcher eine Lücke sich bietet, wenn nicht entweder sein Gewicht zu groß, oder dagegen seine Dichtigkeit so gering ist, daß die Luftströme unbehindert durch die Poren des Körpers ihren Weg nehmen können. Hieraus wird uns denn auch klar gemacht, weshalb gerade das Eisen so heftig vom Magnet angezogen wird. Unser Lehrgedicht führt dies einfach auf seine Struktur und sein spezifisches Gewicht zurück, indem die übrigen Körperteils, wie das Gold, zu schwer seien, um durch jene Ströme bewegt und durch den luftleeren Raum an den Magnetstein herangedrängt zu werden, teils, wie das Holz, soporös, daß die Ströme frei und also ohne mechanischen Anstoß hindurch fliegen können.

Bei dieser Erklärung läßt sich noch vieles fragen, allein die ganze Art und Weise, die Sache aufzufassen, zeichnet sich vor den Hypothesen und Theorien der aristotelischen Schule vorteilhaft aus durch ihre Anschaulichkeit. Zunächst fragt man, wie es möglich sei, daß die Ausflüsse des Magneten die Luft vertreiben, ohne durch den gleichen Stoß das Eisen zurückzuhalten.76 Auch hätte wohl durch ein leichtes, vergleichendes Experiment konstatiert werden können, daß in den Raum wirklich verdünnter Luft nicht nur Eisen, sondern auch andere Körper hineingetrieben werden; allein gerade der Umstand, daß man solche Einwände erheben[125] kann, zeigt, daß der Erklärungsversuch einen fruchtbaren Boden betritt, während mit der Annahme verborgener Kräfte, spezifischer Sympathien und ähnlichen Auskunftsmitteln gleich alles weitere Nachdenken niedergeschlagen wird.

Freilich zeigt uns das gleiche Beispiel auch, warum es im Altertum mit dieser Art von Naturforschung nicht vorwärts wollte. Fast alle wirklichen Leistungen der antiken Naturforschung sind mathematischer Art, so in der Astronomie, in der Statik und Mechanik und in den Anfängen der Optik und Akustik. Außerdem sammelte sich in den beschreibenden Naturwissenschaften ein bedeutendes Material; allein allenthalben, wo es gegolten hätte, von der Anschauung ausgehend durch Variation und Kombination von Beobachtungen zur Entdeckung der Gesetze zu gelangen, blieben die Alten zurück. Den Idealisten fehlte der Sinn und das Interesse für die konkrete Erscheinung; die Materialisten waren nur zu sehr geneigt, bei der einzelnen Anschauung stehen zu bleiben und sich mit der nächstliegenden Erklärung zu begnügen, statt der Sache auf den Grund zu gehen.[126]

61

Eine Widerlegung der von Ritter versuchten Unterscheidungen zwischen der Lehre des Lucrez und Epikur s. bei Zeller III, 1. 2. Aufl. S. 499. – Sehr berechtigt ist dagegen die besondere Hervorhebung seiner Begeisterung für die »Erlösung aus der Nacht des Aberglaubens« bei Teuffel, Gesch. der röm. Liter. S. 326 (2. Aufl. S. 371). Man dürfte noch bestimmter sagen, daß der glühende Haß eines edlen und reinen Charakters gegen den entwürdigenden und entsittlichenden Einfluß der Religion das wahrhaft Originelle bei Lucrez ist, während bei Epikur die Befreiung von der Religion zwar ein wesentlicher Zweck der Philosophie ist, aber ein Zweck, der mit leidenschaftsloser Ruhe verfolgt wird. Wir dürfen dabei wohl der besonderen Häßlichkeit und Schädlichkeit des römischen Religionswesens im Vergleich mit dem griechischen einen Einfluß zuschreiben; gleichwohl bleibt ein Kern übrig, der als eine bittere Verurteilung des Religionswesens schlechthin betrachtet werden darf, und ohne Zweifel beruht die Bedeutung, welche Lucrez in den neueren Jahrhunderten erlangt hat, nicht weniger auf diesem eigentümlichen Zuge als auf der streng epikureischen Theorie.

62

Hier findet sich, I. 101 (wir zitieren nach der Lachmannschen Ausgabe) der oft benutzte zusammenfassende Vers »Tantum religio potuit suadere malorum.«

63

I, V. 726-738:

»Quae cum magna modis multis miranda videtur

Gentibus humanis regio visendaque fertur,

Rebus opima bonis, multa munita virum vi

Nil tamen hoc habuisse viro praeclarins in se

Nec sanctum magis et mirum, carumque videtur.

Carmina quin etiam divini pectoris eius

Vociferantur et exponunt praeclara reperta

Ut vix humana videatur stirpe creatus.«

64

Es verdient übrigens bemerkt zu werden, daß die Theorie Epikurs, vom Standpunkte der damaligen Kenntnisse und Begriffe betrachtet, in manchen und wichtigen Punkten der aristotelischen gegenüber die besseren Gründe ins Feld führt und daß die letztere mehr zufällig als kraft ihrer Beweisgründe unserer jetzigen Einsicht näherkommt. So z. B. ruht die ganze Theorie des Aristoteles auf dem Begriffe eines Mittelpunktes der Welt, welchen Lucrez (I, 1070) mit Recht vom Standpunkte der Unendlichkeit der Welt bestreitet. Ebenso hat Lucrez den besseren Begriff der Bewegung, wenn er (I, 1074 u. ff.) behauptet, in einem leeren Raum, auch wenn er die Mitte der Welt wäre, könnte die einmal begonnene Bewegung keine Hemmung erfahren, während Aristoteles hier von seinem teleologischen Begriffe der Bewegung ausgehend in der Mitte das »natürliche« Ziel derselben findet. Am meisten überlegen zeigt sich aber die Argumentation des epikureischen Systems in der Verwerfung der von Natur aufsteigenden (zentrifugalen) Bewegung des Aristoteles, die von Lucrez (II, 185 ff; vermutlich auch an der verloren gegangenen Stelle des I. Buches nach V. 1094) sehr gut bekämpft und auf ein durch die Gesetze des Gleichgewichts und des Stoßes erzwungenes Aufsteigen zurückgeführt wird.

65

Vgl. oben S. 22-25. – Die Verse (I, 1021-1034) lauten:

»Nam certe neque consilio primordia rerum

Ordine se sua quaeque sagaci mente locarunt

Nec quos quaeque darent motus pepigere profecto,

Sed quia multa modis multis mutata per omne

Ex infinito vexantur percita plagis,

Omne genus motus et coetus experiundo

Tandem deveniunt in talis disposituras,

Qualibus haec rerum consistit summa creata,

Et multos etiam magnos servata per annos

Ut semel in motus conjectast convenientis,

Efficit ut largis avidum mare fluminis undis

Integrant amnes et solis terra vapore

Fota novet fetus summissaque gens animantum

Floreat et vivant labentes aetheris ignes.«

Spezielleres über die Entstehung der Organismen nach empedokleischen Grundsätzen folgt Buch V, V. 836 u. ff.

66

Weil die Sonnenstrahlen, so fein sie auch sind, doch nicht aus einzelnen Atomen, sondern schon aus Atomverbindungen bestehen und ihr Weg zwar durch ein dünnes Medium, aber doch keineswegs durch den leeren Raum geht (II, 150-156). Im Gegensatze dazu heißt es dann von den Atomen, daß sie das Licht um ein vielfaches an Schnelligkeit übertreffen müssen (II, 162-164):

»Et multo citius ferri quam lumina solis,

Multiplexque loci spatium transcurrere eodem

Tempore quo solis pervolgant fulgura caelum.«

67

II, 216 u. ff.

68

II, 251-293. Es ist schwer zu begreifen, wie man in dieser Lehre von der »Willensfreiheit« einen Vorzug des Lucrez vor Epikur und einen Ausfluß seines kräftigeren sittlichen Charakters hat erblicken können; denn abgesehen davon, daß auch dieser Zug wohl sicher Epikur angehört, handelt es sich hier um eine arge Inkonsequenz der physikalischen Theorie, welche der sittlichen Verantwortlichkeitslehre durchaus keine Stütze bietet. Man könnte im Gegenteil die unbewußte Willkür, mit welcher die Seelenatome den Ausschlag hierin oder dorthin geben und dadurch die Richtung und den Effekt des Willens bestimmen, fast als eine Satire auf das aequilibrium arbitrii ansehen, da unter keinem Bilde klarer gemacht wird, wie gerade durch die Annahme eines solchen Ausschlags im Gleichgewicht jeder feste Zusammenhang zwischen den Handlungen einer Person und ihrem Charakter aufgehoben wird.

69

II, 655-660 (680):

»Hic siquis mare Neptunum Cereremque vocare

Constituit fruges et Bacchi nomine abuti

Mavolt quam laticis proprium proferre vocamen

Concedamus ut hic terrarum dictitet orbem

Esse deum matrem; dum vera re tamen ipse

Religione animum turpi contingere parcat.«

Wegen der Lesart vgl. Lachmanns Kommentar, p. 112. Der letzte Vers ist nämlich in den Handschriften an eine unrechte Stelle geraten, die (auch von Bernays aufgenommene) Emendation aber evident, daher die (mit V. 659 abschließende) Übersetzung »sofern nur die Sache gemeint ist« hier eine unzulässige Abschwächung des Gedankens gibt.

70

II, 904 u.: nam sensus jungitur omnis Visceribus, nervis, venis. Der (im Text etwas unsichere) Zusammenhang, hebt zwar zunächst nur die Weichheit dieser Teile hervor, die daher besonders zerstörbar sind und sich nicht etwa ewig erhalten und als empfindende Urelemente von einem empfindenden Wesen auf das andere fortpflanzen können. Lucrez hebt jedoch an der ganzen Stelle öfter die besondere Struktur her vor und zeigt sogar, daß der Teil eines empfindenden Körpers nicht für sich abgesondert bestehen, daher auch nicht für sich empfinden könne. Der Dichter kommt also auch hier dem aristotelischen Begriff des Organismus ziemlich nahe, und wir haben keinen Grund zu bezweifeln, daß dies Epikurs Lehre war. (Vgl. 912 u. ff.: Nec manus a nobis potis est secreta neque ulla Corporis omnino sensum pars sola tenere.)

71

In einer anderen Beziehung freilich scheint die Annahme dieses namenlosen allerfeinsten Stoffes eine wohlerwogene Bedeutung zu haben; freilich in Verbindung mit einem großen Mangel der Bewegungslehre. Epikur scheint sich – im schroffen Widerspruch mit unserer Lehre von der Erhaltung der Kraft – vorgestellt zu haben, daß ein feiner Körper seine Bewegung unabhängig von der Masse auf einen gröberen übertragen könne, und so wieder auf einen gröberen, wobei also die Summe der mechanischen Arbeit, statt gleich zu bleiben, sich von Stufe zu Stufe vervielfacht. Lucrez schildert diese Stufenfolge III, 246 u. ff. so, daß zuerst das empfindende (und mit Willkür begabte; vgl. II, 251-93) Element den Wärmestoff bewegt, dann dieser den Lebenshauch, dieser die mit der Seele gemischte Luft, diese das Blut und dieses erst die festen Teile des Körpers.

72

Anders faßt Zeller (III, 1. S. 382) die Sache, welcher zwar auch feststellt, daß die Konsequenz des Systems ein Fallen der Welten (also nur relative Ruhe der Erde gegenüber unserer Welt) fordern würde, aber ohne Epikur diese Konsequenz zuzuschreiben. Unrichtig ist jedoch dabei die Bemerkung, daß bei solchem Fallen die Welten sehr bald aufeinanderstoßen müßten. Vielmehr ist ein solcher Zufall bei den ungeheuren Distanzen, welche zwischen den einzelnen Welten anzunehmen sind, erst nach sehr langen Zeiträumen zu erwarten. Eine Zertrümmerung der Welten aber durch einen Zusammenstoß wird von Lucrez ausdrücklich V. 366 bis 372 als möglich eingeräumt, während der Untergang durch viele kleinere Stöße von außen sogar gleichsam zu den natürlichsten Todesursachen der alternden Welt gezählt wird. – Was übrigens die Art betrifft, wie die Erde durch beständige Stöße der feinen Luftatome in der Schwebe gehalten wird, so scheint hier wieder jene oben (Anm. 71) erwähnte Eigentümlichkeit der epikureischen Bewegungslehre zugrunde zu liegen, nach welcher die mechanische Wirkung des Stoßes (in unserer Sprache ausgedrückt) beim Übergang von feineren auf gröbere Körper sich vervielfacht.

73

Selbstverständlich kann hier nicht von einer exakten Methode der Naturforschung die Rede sein, sondern nur von einer exakten Methode der Philosophie. Näheres über diesen Punkt in den »Neuen Beitr. z. Gesch. des Mater.« (Winterthur 1867, S. 17 u. ff.). Nicht uninteressant ist übrigens, daß neuerdings ein Franzose (A. Blanqui, l'eternite par les astres, hypothese astronomique, Paris 1872) den Gedanken, daß alles Mögliche auch irgendwo und irgendwann im Universum wirklich, und sogar vielfach verwirklicht ist, wieder in allem Ernste durchgeführt hat, und zwar als unabweisbare Konsequenz einerseits der absoluten Unendlichkeit der Welt, anderseits aber der endlichen und überall konstanten Zahl der Elemente, deren mögliche Kombinationen ebenfalls endlich sein müssen. Auch letzteres ist ein Gedanke Epikurs (vgl. Lucrez II, 480-521).

74

Diese Stelle findet sich V. 527-533:

»Nam quid in hoc mundo sit eorum ponere certum

Difficile est: sed quid possit fiatque per omne

In variis mundis, varia ratione creatis,

Id doceo, plurisque sequor disponere causas,

Motibus astrorum, quae possint esse per omne;

E quibus una tamen sit haec quoque causa necessest,

Quae vegeat motum signis: sed quae sit earum

Praecipere haud quaquamst pedetentim progredientis.«

Vgl. hiermit Epikurs Brief an Pythokles, Diog. Laert. X, 87 u. f.

75

V. 1194-1197:

»O genus infelix humanum, talia divis

Cum tribuet facta atque iras adjunxit acerbas!

Quantos tum gemitus ipsi sibi, quantaque nobis

Volnera, quas lacrimas peperere minoribu' nostris!«

76

Man könnte dabei an das bekannte Experiment denken, bei welchem eine Scheibe, die man der Öffnung eines Gefäßes nähert, durch welche ein Luftstrahl ausströmt, angezogen und festgehalten wird, weil die heftig seitwärts strömende Luft zwischen Gefäß und Scheibe verdünnt wird (Müllers Physik I,9,96). Wenn auch nicht anzunehmen ist, daß die Epikureer diese Erscheinung kannten, so mögen sie sich doch die Austreibung der Luft durch die Ausströmung des Steins in einer ähnlichen Weise vorgestellt haben.

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 101-127.
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