I. Der Materialismus und die exakte Forschung

Der Materialismus stützt sich von jeher auf die Betrachtung der Natur; gegenwärtig aber kann er sich nicht mehr damit begnügen, die Naturvorgänge ihrer Möglichkeit nach aus seiner Theorie zu erklären; er muß sich auf den Boden der exakten Forschung stellen, und er nimmt dies Forum gerne an, weil er überzeugt ist, daß er hier seinen Prozeß gewinnen muß. Viele unter unsern Materialisten gehen so weit, die Weltanschauung, zu welcher sie sich bekennen, geradezu als eine notwendige Folge des Geistes der exakten Forschung hinzustellen; als ein natürliches Ergebnis jener ungeheuren Entfaltung und Vertiefung, welche die Naturwissenschaften gewonnen haben, seit man die spekulative Methode aufgegeben hat und zur genauen und systematischen Erforschung der Tatsachen übergegangen ist. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn die Gegner des Materialismus mit besonderer Vorliebe auf jede Äußerung eines bedeutenden Forschers fahnden, welche jene vermeintliche Konsequenz ablehnt oder wohl gar den Materialismus als eine bloße Mitdeutung der Tatsachen, als einen naheliegenden Irrtum ungründlicher Forscher, wo nicht gar bloßer Schwätzer darstellt.

Eine Äußerung dieser Art war es, wenn Liebig in seinen chemischen Briefen die Materialisten als »Dilettanten« bezeichnete. So richtig es aber auch im allgemeinen ist, daß nicht grade die gründlichsten Forscher, die Entdecker und Erfinder, die ersten Meister eines speziellen Gebietes sich mit der Verkündigung der materialistischen Lehre zu befassen pflegen, und so manche Blöße sich auch Männer wie Büchner, Vogt oder gar Czolbe vor dem Richterstuhl strenger Methode gegeben haben, so können wir doch keineswegs Liebig ohne weiteres zustimmen.

Zunächst liegt es ja ganz in der Natur der Sache, daß bei der heutigen Teilung der Arbeit der Spezialforscher, der seine ganze geistige Kraft auf die Förderung eines bestimmten Zweiges der Wissenschaft gerichtet hat, nicht die Neigung und oft auch nicht die Fähigkeit besitzt, das gesamte Gebiet der Naturwissenschaften zu durchwandern, um überall die verbürgtesten Tatsachen aus fremden[587] Forschungen aufzulesen und sie zu einem Gesamtbilde zusammenzusetzen. Es ist für ihn eine undankbare Arbeit. Seine Bedeutung beruht auf seinen Entdeckungen, und diese darf er nur auf seinem speziellen Gebiete hoffen. So berechtigt daher auch die Forderung ist, daß jeder naturwissenschaftliche Forscher sich auch einen gewissen Grad allgemeiner naturwissenschaftlicher Bildung aneigne, und daß er namentlich die nächstverwandten Fächer möglichst genau kennen lerne, so wird doch damit das Prinzip der Teilung der Arbeit nur in seinen Wirkungen verbessert; nicht aufgehoben. Ja, es kann sehr wohl der Fall sein, daß ein Spezialforscher durch sein Streben nach allgemeiner naturwissenschaftlicher Bildung auch zu einer ausgeprägten Anschauung über das Wesen des Naturganzen und der in ihm waltenden Kräfte gelangt, ohne auch nur den mindesten Trieb zu fühlen, diese seine Ansicht auch andern aufzudrängen oder sie als die allein berechtigte hinzustellen. Eine solche Zurückhaltung kann auf den besten Motiven beruhen denn der Spezialforscher wird sich immerhin eines großen Unterschiedes bewußt sein zwischen den Grundlagen, auf denen sein Fachwissen beruht, und der subjektiven Begründung dessen, was er sich aus den Resultaten fremder Forschungen angeeignet hat.

Spezialforschung macht also vorsichtig; sie macht aber auch bisweilen engherzig und arrogant. Dies tritt namentlich dann hervor, wenn ein solcher Forscher sein eignes Verhalten zu den Nachbarwissenschaften für das allein zulässige erklärt, wenn er jedem andern verbieten will, über Dinge seines Faches irgendwie zu urteilen, wenn er also das notwendige Verfahren dessen, der die Gesamtansicht von der Natur zum Gegenstande seiner Bemühungen macht, schlechthin negiert. Will z.B. der Chemiker dem Physiologen verbieten, ein Wort über Chemie mitzureden, oder will der Physiker den Chemiker als Dilettanten zurückweisen, wenn er sich ein Wort über die Mechanik der Atome erlaubt, so möge er sich wohl vorsehen, ob er auch den positiven Beweis für ein leichtfertiges Verfahren bei der Hand hat. Ist dies nicht der Fall, wird gleichsam vom Zunftprinzip aus eine polizeiliche Zurückweisung des »Pfuschers« beansprucht, bevor dessen Werk erst geprüft ist so kann man einen solchen Anspruch nicht streng genug beurteilen. Am verderblichsten ist aber eine solche Arroganz, wenn es sich gar nicht darum handelt, neue Ansichten aufzustellen, sondern lediglich anerkannte, von den Spezialforschern selbst gelehrte Tatsachen in einen neuen Zusammenhang zu bringen, sie mit Tatsachen[588] aus einem andern Gebiete zu weittragenden Schlüssen zu kombinieren oder sie einer neuen Deutung zu unterwerfen in Beziehung auf das Hervorgehen der Erscheinung aus den letzten Gründen der Dinge. Wenn die Resultate der Wissenschaften so beschaffen wären, daß niemand sie deuten kann, der sie nicht gefunden hat – und dies wäre die strenge Konsequenz jenes Anspruches –, so sähe es mit dem Zusammenhang alles Wissens und mit der ganzen höheren Bildung sehr bedenklich aus. Ein Schuh wird in gewissen Beziehungen am besten vom Schuhmacher beurteilt, in andern von dem, der ihn trägt, und wieder in andern vom Anatomen und vom Maler und Bildhauer. Ein Produkt der Industrie beurteilt nicht nur der Fabrikant, sondern auch der Konsument. Wer ein Werkzeug kauft, weiß oft besseren Gebrauch davon zu machen, als der es gefertigt hat. Diese Beispiele klingen trivial, aber sie erleiden hier Anwendung. Wer das Gesamtgebiet der Naturwissenschaften fleißig durchwandert hat, um ein Bild des Ganzen zu gewinnen, der wird die Bedeutung einer einzelnen Tatsache oft besser zu beurteilen wissen, als ihr Entdecker.

Man sieht übrigens leicht, daß die Arbeit dessen, der ein solches Gesamtbild der Natur zu gewinnen sucht, im wesentlichen eine philosophische ist, und da fragt es sich denn, ob nicht mit weit mehr Recht den Materialisten der Vorwurf des philosophischen Dilettantismus gemacht werden kann. Dies ist auch oft genug geschehen, aber wir gewinnen damit gar nichts für eine unbefangene kritische Würdigung des Materialismus. Nach richtigem Sprachgebrauch sollte man denjenigen einen Dilettanten nennen, der keine strenge Schule durchgemacht hat; aber wo ist die Schule für den Philosophen, die auf Grund ihrer Leistungen eine solche Schranke zwischen Befugten und Unbefugten ziehen dürfte? In den positiven Wissenschaften können wir heutzutage, wie in den Künsten, überall sagen, was Schule ist; in der Philosophie aber nicht. Sehen wir zunächst ab von der speziellen Bedeutung, die das Wort gewinnt, wo es sich um die individuelle Übertragung der Kunstübung eines großen Meisters handelt, so weiß man immer noch recht gut, was ein geschulter Historiker, Philologe, Chemiker oder Statistiker ist bei den »Philosophen« dagegen wendet man das Wort meist nur mißbräuchlich an. Ja, der Mißbrauch des Begriffes selbst, in leichtfertiger Übertragung, hat dem Ansehen und der Bedeutung der Philosophie aufs erheblichste geschadet. Wollte man, unabhängig von der Jüngerschaft in einem bestimmten System, einen allgemeinen[589] Begriff philosophischer Schulung aufstellen, was würde dazu gehören? Vor allen Dingen eine streng logische Durchbildung in ernster und angestrengter Beschäftigung mit den Regeln der formalen Logik und mit den Grundlagen aller modernen Wissenschaften, der Wahrscheinlichkeitslehre und der Theorie der Induktion. Wo ist eine solche Bildung heutzutage zu finden? Unter zehn Universitätsprofessoren besitzt sie kaum einer, und am wenigsten ist sie bei den »-ianern« zu suchen, mögen sie sich nun nach Hegel, Herbart, Trendelenburg oder irgendeinem andern Schulhaupte nennen. Die zweite Forderung wäre ein ernstes Studium der positiven Wissenschaften, wenn auch nicht, um sie alle im einzelnen zu beherrschen, was unmöglich ist und überdies unnütz wäre; wohl aber, um aus der historischen Entwicklung heraus ihren gegenwärtigen Gang und Zustand zu begreifen, ihren Zusammenhang in der Tiefe zu erfassen und ihre Methoden aus dem Prinzip aller Methodologie heraus zu verstehen. Hier fragen wir wieder: wo sind die Geschulten? Unter den »-ianern« gewiß wieder am allerwenigsten. Ein Hegel z.B., der sich über die erste Forderung höchstleichtfertig hinwegsetzte, hat doch wenigstens der zweiten in ernster Geistesarbeit zu genügen gesucht. Seine »Schüler« aber studieren nicht, was Hegel studiert hat, sondern sie studieren Hegel. Was dabei herauskommt, haben wir hinlänglich gesehen: ein hohles Phrasenwerk, eine Schattenphilosophie, deren Arroganz jedem an ernstem Stoff gebildeten Manne zum Ekel werden mußte. – Erst in dritter und vierter Linie käme für eine richtige Philosophenschule das eingehende Studium der Geschichte der Philosophie. Setzt man dieselbe, wie es jetzt meist geschieht, als erste und einzige Bedingung neben die Aneignung irgendeines bestimmten Systems, so kann es nicht ausbleiben, daß auch die Geschichte der Philosophie zu einem bloßen Schattenspiel wird: die Formeln, unter denen frühere Denker die Welt zu begreifen suchten, werden losgelöst von dem allgemeinen wissenschaftlichen Boden, aus dem sie erwachsen sind, und werden damit alles realen Inhaltes entleert.

Lassen wir also den Vorwurf des Dilettantismus beiseite, weil der richtige Gegensatz fehlt und weil gerade auf philosophischem Gebiete der Vorteil einer frischen Originalität oft alle Schuldtraditionen weit überwiegt. Den exakten Wissenschaften gegenüber sind die Materialisten gerechtfertigt durch die philosophische Tendenz ihrer Arbeit; aber freilich nur, sofern sie die Tatsachen richtig aufnehmen und sich auf Schlüsse aus diesen Tatsachen beschränken.[590] Wagen sie sich, wenn auch noch so sehr gedrängt durch den Zusammenhang des Systems, bis zu Vermutungen vor, welche in den Tatbestand der empirischen Wissenschaften eingreifen, oder lassen sie erhebliche Resultate der Forschung ganz unberücksichtigt, so unterliegen sie, wie jeder Philosoph in ähnlichem Falle, mit Recht dem Tadel der Fachmänner; aber diesen erwächst daraus noch kein Recht, das ganze Tun und Treiben solcher Schriftsteller verächtlich zu behandeln. Der Philosophie gegenüber sind jedoch die Materialisten noch keineswegs völlig gerechtfertigt, wenn wir auch behaupten müssen, daß der Vorwurf des Dilettantismus hier keinen klaren Sinn habe.

Schon das ganze Unternehmen, eine philosophische Weltanschauung auschließlich auf die Naturwissenschaften bauen zu wollen, ist in unsrer Zeit als eine philosophische Halbheit der schlimmsten Art zu bezeichnen. Mit demselben Rechte, mit welchem der empiristische Naturphilosoph nach Büchners Weise sich dem einseitigen Spezialforscher gegenüberstellt, kann jeder allseitiger gebildete Philosoph wieder Büchner gegenübertreten und ihm die Vorurteile zum Vorwurf machen, welche aus der Beschränktheit seines Gesichtskreises mit Notwendigkeit sich ergeben.

Zwei Einwände stellen sich jedoch diesem Anspruch der Philosophie entgegen: der erste ist ein spezifisch materialistischer, der zweite wird von sehr vielen Männern der exakten Wissenschaften unterstützt werden, welche durchaus nicht zu den Materialisten gezählt sein wollen.

Es gibt nichts, außer der Natur, ist der erste Einwand gegen das Verlangen der Philosophie, daß eine breitere Grundlage gesucht werde. Eure Metaphysik ist eine Scheinwissenschaft, ohne alle feste Grundlage; eure Psychologie ist nichts ohne die Physiologie des Gehirns und des Nervensystems, und was die Logik betrifft, so sind unsre Erfolge der beste Beweis dafür, daß wir auch mit den Denkgesetzen auf einem besseren Fuße stehen, als ihr mit euren impotenten Schulformeln. Ethik und Ästhetik aber haben mit der theoretischen Grundlage der Weltanschauung nichts zu schaffen und lassen sich auf materialistischer Basis ebensogut errichten wie auf jeder andern. Was soll uns unter diesen Umständen etwa noch die Geschichte der Philosophie? Sie kann ja von vornherein nichts andres sein als eine Geschichte menschlicher Irrtümer.

Wir sehen uns hier auf die neuerdings so berühmt gewordene Frage nach den Grenzen des Naturerkennens geführt, welche wir alsbald[591] gründlich in Angriff nehmen werden. Zuvor aber noch einige Bemerkungen über den zweiten Einwand!

Die Philosophen, heißt es nicht selten im naturwissenschaftlichen Lager, haben eine von der unsrigen total verschiedene Denkweise. Jede Berührung mit Philosophie kann daher der Naturforschung nur verderblich sein. Es sind eben getrennte Gebiete und sie müssen getrennt bleiben.

Wir lassen dahingestellt, wie oft diese Ansicht ganz so gemeint ist, wie sie lautet, wie oft dagegen ein kollegialisch rücksichtsvoller Ausdruck für die Meinung, daß Philosophie nichts als lauter Unsinn sei. Tatsache ist, daß die Lehre von der total verschiedenen Denkweise eine bei den Naturforschern weit verbreitete ist. Einen besonders lebhaften Ausdruck hat ihr der verdienstvolle Botaniker Hugo von Mohl verliehen in einer Rede, welche die Errichtung einer naturwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Tübingen feiert.406 Die Materialisten aber betrachten sich natürlich unter diesem Begriff der »Philosophie« nicht mit begriffen. Sie behaupten, ihr Weltbild auf dem Wege des naturwissenschaftlichen Denkens zu gewinnen und geben höchstens zu, daß sie einen stärkeren Gebrauch von der Hypothese machen, als in der Spezialforschung zulässig ist.

Diese ganze Anschauungsweise beruht auf einer einseitigen Rücksicht auf unsre nachkantische Philosophie unter völliger Verkennung des Charakters der modernen Philosophie von Cartesius bis auf Kant. Das ganze Treiben der Schellingianer, der Hegelianer, der Neu-Aristoteliker und andrer neuerer Schulen ist nur zu sehr dazu angetan, den Abscheu zu rechtfertigen, mit welchem die Naturforscher sich von der Philosophie abzuwenden pflegen; dagegen ist das ganze Prinzip der modernen Philosophie, wenn man nur nicht diese Ausartungen der deutschen Begriffsromantik darunter versteht, ein total verschiedenes. Wir haben hier überall, mit kaum nennenswerten Ausnahmen, eine streng naturwissenschaftliche Denkweise vor uns, über alles, was uns durch die Sinne gegeben ist; aber fast ebenso allgemein auch den Versuch, die Einseitigkeit des auf diesem Wege sich ergebenden Weltbildes durch die Spekulation zu überwinden.

Descartes ist als Naturforscher nicht so stark wie als Mathematiker, er hat sich einige bedenkliche Blößen gegeben, aber er hat in andern Punkten die Wissenschaft wirklich gefördert, und daß es ihm dabei an der richtigen naturwissenschaftlichen Denkweise gefehlt habe,[592] wird niemand behaupten. Er nahm jedoch neben der Körperwelt eine Welt der Seele an, in welcher alles äußerlich Existierende nur vorgestellt wird, und damit berührte er, so groß auch die Mängel sind, die seinem System anhaften, genau den Punkt, bei welchem aller Materialismus Halt machen muß, und auf den gerade die exakteste Forschung schließlich sich selbst hingeführt sieht. – Spinoza, der große Vorkämpfer der absoluten Notwendigkeit alles Geschehens und der Einheit aller Naturerscheinungen, ist so oft zu den Materialisten gezählt worden, daß es fast nötiger ist, seine Differenz als seine Übereinstimmung gegenüber der materialistischen Weltanschauung zu betonen. Es ist aber wiederum der gleiche Punkt, wo diese Differenz hervortritt: das ganze Weltbild, auf welches die mechanische Weltanschauung uns führt, ist nur eine Seite des Wesens der Dinge, welche freilich mit der andern, der geistigen, in vollkommner Harmonie steht. Die englischen Philosophen bedienen sich schon seit Baco fast ohne Ausnahme einer Methode, welche mit der naturwissenschaftlichen Denkweise recht gut vereinbar ist; auch hat man in England den Konflikt zwischen Philosophie und Naturforschung, von welchem bei uns so viel die Rede ist, nie gekannt. Die Erscheinungswelt wird von den bedeutendsten englischen Philosophen nach den gleichen Grundsätzen begriffen, wie von unsern Materialisten, wenn auch nur wenige, wie Hobbes, schlechthin beim Materialismus stehen bleiben. Locke aber, der für die Naturforschung so gut wie Newton Atome annahm, begründete seine Philosophie nicht auf die Materie, sondern auf die Subjektivität, wenn auch in sensualistischem Sinne. Dabei zweifelt er daran, ob unser Verstand zur Lösung aller sich bietenden Probleme befähigt sei: ein Anfang des Kantschen Kritizismus, der von Hume wieder um einen bedeutenden Schritt gefördert wird. Unter diesen Männern ist keiner, der es nicht als selbstverständlich ansah, daß in der Natur alles natürlich zugehe, und die gelegentlichen Konzessionen an die Kirchenlehre sind durchsichtig genug. Sie sind aber mit Ausnahme von Hobbes weit entfernt davon, das, was unserm Verstande und unsern Sinnen sich als Weltbild ergibt, schlechthin mit dem absoluten Wesen der Dinge zu identifizieren, und überall tritt bei den verschiedensten Wendungen der Systeme doch wieder der Punkt hervor, welcher die neuere Philosophie von der alten unterscheidet: die Rücksicht darauf, daß unser Weltbild wesentlich Vorstellung ist.

Bei Leibniz wird der Gedanke von der Welt als Vorstellung in der[593] Lehre vom Vorstellen der Monaden auf die Spitze getrieben, und doch huldigt Leibniz gleichzeitig in der Auffassung der Erscheinungswelt dem strengsten Mechanismus, und die Art, wie er ein Problem der Physik behandelt, unterscheidet sich nicht von dem Verfahren andrer Physiker. – Zur höchsten Klarheit endlich erhebt sich das Verhältnis der Philosophie zum Materialismus bei Kant. Der Mann, welcher zuerst die Lehre von der Entstehung der Himmelskörper aus bloßer Attraktion der zerstreuten Materie entwickelte, welcher die Grundzüge des Darwinismus schon erkannte und sich nicht scheute, den Übergang des Menschen aus einem früheren tierischen Zustande in den menschlichen in seinen populären Vorlesungen als etwas Selbstverständliches zu besprechen, welcher die Frage vom »Sitz der Seele« als eine irrationelle zurückwies und oft genug durchblicken ließ, daß ihm Leib und Seele dasselbe Ding sind, nur mit verschiedenen Organen wahrgenommen – er konnte doch unmöglich vom Materialismus viel zu lernen haben; denn die ganze Weltanschauung des Materialismus ist dem Kantschen System gleichsam einverleibt, ohne dadurch den idealistischen Grundcharakter desselben zu ändern. Daß Kant über alle Gegenstände der Naturwissenschaft auch streng naturwissenschaftlich dachte, unterliegt keinem Zweifel; denn die »metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft« enthalten nur einen Versuch, die axiomatischen Grundlagen a priori zu entdecken und fallen sonach nicht in den Bereich der empirischen Forschung, die sich allenthalben auf die Erfahrung stützt und die Axiome als gegeben ansieht. Kant läßt also den ganzen Inbegriff des naturwissenschaftlichen Denkens an seiner Stelle und in seiner Würde als das große und einzige Mittel, unsre Erfahrungen über die durch unsre Sinne gegebene Welt auszudehnen, in Zusammenhang zu bringen und so diese Welt uns im Kausalzusammenhange aller Erscheinungen verständlich zu machen. Sollte es denn nun wohlgetan sein wenn ein solcher Mann gleichwohl nicht bei der naturwissenschaftlichen und mechanischen Weltanschauung stehen bleibt, wenn er behauptet, daß die Sache damit nicht abgemacht ist, daß wir Grund haben, die Welt unsrer Ideen auch zu berücksichtigen, und daß weder die Erscheinungswelt noch die Idealwelt schlechthin für die absolute Natur der Dinge genommen werden kann, – sollte es wohlgetan sein, daran ahnungslos vorüber zu gehen oder die ganze Behauptung zu ignorieren, weil wir eben ein Bedürfnis weiterer und tieferer Untersuchung nicht empfinden?[594]

Wenn etwa der Spezialforscher fürchtet, durch die Verfolgung solcher Gedanken von seinem Gegenstande zu weit abgezogen zu werden, und wenn er es deshalb vorzieht, sich auf diesem Gebiete mit einigen vagen Vorstellungen zu begnügen, oder die Philosophie als ein ihm fremdes Gebiet abzuweisen, so wird nicht viel dagegen zu erinnern sein. Wer aber, wie unsre Materialisten, als »Philosoph« auftritt, oder wohl gar sich zu einem Epoche machenden Reformator der Philosophie berufen glaubt, für den ist um diese Fragen nicht herumzukommen. Sich mit ihnen gründlich auseinanderzusetzen ist der einzige Weg für den Materialisten, eine dauernde Stelle in der Geschichte der Philosophie beanspruchen zu können. Ohne diese Geistesarbeit bleibt der Materialismus, der ja ohnehin nur alte Gedanken in neuem Stoffe auszudrücken hat, zunächst nichts als ein Sturmbock im Kampf gegen die rohesten Vorstellungen der religiösen Überlieferung und ein bedeutsames Symptom einer tiefgehenden Gärung der Geister.407

Es ist nun aber beachtenswert, daß gerade der Punkt, an welchem die Systematiker und Apostel der mechanischen Weltanschauung so unachtsam vorübergehen, – die Frage nach den Grenzen des Naturerkennens, bei tiefer denkenden Männern der Spezialforschung seine volle Würdigung gefunden hat. Dabei zeigt sich, daß echte und gründliche Spezialforschung in Verbindung mit gediegener allgemeiner Bildung leicht auch zu einem tieferen Blick in das Wesen der Natur führt, also ein bloßer enzyklopädischer Streifzug durch das ganze Gebiet der Naturforschung. Wer ein einziges Feld mit Sicherheit beherrscht und hier bis in alle Tiefen der Probleme blickt, hat einen geschärften Blick gewonnen für alle verwandten Felder. Er wird sich überall leicht orientieren, und so auch schnell bis zu einer Gesamtansicht vordringen, die man als eine echt philosophische bezeichnen darf, während naturphilosophische Studien, die von vornherein mehr in die Breite gehen, leicht in jener Halbheit steckenbleiben, welche jedem Philosophen eigen ist, der die Fragen der Erkenntnistheorie umgeht. Es verdient daher auch noch besonders hervorgehoben zu werden, daß die hervorragendsten Naturforscher der Gegenwart, welche es gewagt haben, das Gebiet der Philosophie zu betreten, fast alle von irgendeinem Punkte her gerade auf die erkenntnistheoretischen Fragen gestoßen sind.

Betrachten wir zunächst den vielbesprochenen Vortrag »über die Grenzen des Naturerkennens«, welchen Du Bois-Reymond auf der Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Leipzig[595] (1872) gehalten hat! Sowohl der Vortrag selbst als auch einige Entgegnungen auf denselben werden uns reiche Veranlassung geben, den springenden Punkt in der ganzen Kritik des Materialismus in das hellste Licht zu setzen.

Alles Naturerkennen zielt in letzter Instanz auf Mechanik der Atome. Du Bois-Reymond stellt daher als ein äußerstes vom Menschengeiste nie erreichbares, aber doch ihm begreifliches Ziel eine vollständige Kenntnis dieser Mechanik auf. Anknüpfend an einen Ausspruch von Laplace lehrt er, daß ein Geist, welcher für einen gegebenen sehr kleinen Zeitabschnitt die Lage und die Bewegung aller Atome im Universum wüßte, daß dieser auch imstande sein müßte, nach den Regeln der Mechanik die ganze Zukunft und Vergangenheit daraus abzuleiten. Er könnte durch geeignete Diskussion seiner Weltformel uns sagen, wer die Eiserne Maske war, oder wie der »Präsident« zugrunde ging. Wie der Astronom den Tag vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das griechische Kreuz von der Sophien-Moschee blitzen oder da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird. Setzte er in der Weltformel t=-∞, so enthüllte sich ihm der rätselhafte Urzustand der Dinge. Er sähe im unendlichen Raume die Materie bereits entweder bewegt oder ungleich verteilt, da bei gleicher Verteilung das labile Gleichgewicht nie gestört worden wäre. Ließe er t im positiven Sinne unbegrenzt wachsen, so erführe er, ob Carnots Satz erst nach unendlicher oder schon nach endlicher Zeit das Weltall mit eisigem Stillstande bedroht. – Alle Qualitäten entstehen erst durch Sinne. »Das mosaische: Es ward Licht, ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zu ersten Male Hell und Dunkel unterschied.« »Stumm und finster an sich, d.h. eigenschaftslos, wie sie aus der subjektiven Zergliederung hervorgeht, ist die Welt auch für die durch objektive Betrachtung gewonnene mechanische Anschauung, welche statt Schalles und Lichtes nur Schwingungen eines eigenschaftslosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt.«

Zwei Stellen sind es nun, wo auch der von Laplace gedachte Geist Halt machen müßte. Wir sind nicht imstande die Atome zu begreifen, und wir vermögen nicht aus den Atomen und ihrer Bewegung auch nur die geringste Erscheinung des Bewußtseins zu erklären.

Man mag den Begriff der Materie und ihrer Kräfte drehen und[596] wenden, wie man will, immer stößt man auf ein letztes Unbegreifliches, wo nicht gar auf etwas schlechthin Widersinniges, wie bei der Annahme von Kräften, die durch den leeren Raum in die Ferne wirken. Es bleibt keine Hoffnung, dies Problem je aufzulösen, das Hindernis ist ein transzendentes. Es beruht darauf, daß wir uns schließlich nichts ohne alle Sinnesqualität vorstellen können, während doch unser ganzes Erkennen darauf gerichtet ist, die Qualitäten in mathematische Verhältnisse aufzulösen. Nicht mit Unrecht geht daher Du Bois-Reymond so weit zu behaupten, daß unser ganzes Naturerkennen in Wahrheit noch kein Erkennen ist, daß es uns nur das Surrogat einer Erklärung gibt. Wir werden nie vergessen, daß unsre ganze Kultur auf diesem »Surrogate« ruht, welches in vielen und wichtigen Beziehungen das hypothetische absolute Erkennen vollkommen ersetzt; aber streng richtig bleibt es, daß das Naturerkennen, wenn wir es bis zu diesem Punkte führen und mit dem gleichen Prinzip, das uns bis dahin geleitet hat, weiter zu dringen suchen, uns seine eigne Unzulänglichkeit enthüllt und sich selbst eine Grenze setzt.

Du Bois-Reyomond findet keine ernstliche Schwierigkeit für das Naturerkennen im Entstehen der Organismen. Wo und in welcher Form das Leben zuerst erschien, wissen wir nicht, aber der von Laplace gedachte Geist im Besitze der Weltformel könnte es sagen. Kristall und Organismus unterscheiden sich wie ein bloßes Bauwerk von einer Fabrik mit ihren Maschinen und Einrichtungen, in welche die Rohstoffe einströmen und von welcher Fabrikate, Zersetzungsprodukte und Abfälle ausströmen. Wir haben hier nichts vor uns, als ein »überaus schwieriges mechanisches Problem«. Das reichste Naturgemälde eines tropischen Urwaldes bietet der analysierenden Wissenschaft nichts als bewegte Materie.

Nicht hier also ist die zweite Grenze des Naturerkennens, sondern beim ersten Auftreten des Bewußtseins. Dabei handelt es sich keineswegs etwa um den Menschengeist in der ganzen Fülle seines Dichtens und Denkens. »Wie die gewaltigste und verwickeltste Muskelleistung eines Menschen oder Tieres im wesentlichen nicht dunkler ist als die einfache Zuckung eines einzelnen Primitivmuskelbündels; wie die einzelne Sekretionszelle das ganze Rätsel der Absonderung birgt: so ist auch die erhabenste Seelentätigkeit aus materiellen Bedingungen in der Hauptsache nicht unbegreiflicher, als das Bewußtsein auf seiner ersten Stufe, der Sinnesempfindung. Mit der ersten Regung von Behagen oder Schmerz, die im Beginn[597] des tierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt und die Welt nunmehr doppelt unbegreiflich geworden.«

Den Beweis dafür will Du Bois-Reymond unabhängig von allen philosophischen Theorien in einer Weise führen, welche auch dem Naturforscher evident ist. Zu dem Ende nimmt er an, wir hätten eine vollkommene (»astronomische«) Kenntnis von den Naturvorgängen im Gehirn, und zwar nicht nur von den unbewußten Vorgängen, sondern auch von denjenigen, welche der Zeit nach stets mit den geistigen Vorgängen zusammenfallen und also auch wohl notwendig mit ihnen verbunden sind. Dann wäre es allerdings ein hoher Triumph, »wenn wir zu sagen wüßten, daß bei einem bestimmten geistigen Vorgange in bestimmten Ganglienkugeln und Nervenröhren eine bestimmte Bewegung bestimmter Atome stattfinde.« Die »unverschleierte Einsicht in die materiellen Bedingungen geistiger Vorgänge« würde uns mehr erbauen, als irgendeine bisherige Errungenschaft der Forschung, aber – die geistigen Vorgänge selber würden uns durchaus ebenso unbegreiflich sein, wie jetzt. »Die astronomische Kenntnis des Gehirns, die höchste, die wir erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie.« Wenn man aber glaubt, daß uns aus jener Kenntnis doch gewisse geistige Vorgänge oder Anlagen, wie das Gedächtnis, die Vorstellungsfolge usw. verständlich werden könnten, so ist auch das Täuschung; wir lernen nur gewisse Bedingungen des Geisteslebens kennen, lernen aber nicht, wie aus diesen Bedingungen das Geistesleben selbst zustande kommt.

»Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, anderseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: ›Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke süß, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot,‹ und der ebenso unmittelbar daraus fließenden Gewißheit: ›Also bin ich?‹ Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus dem Zusammenwirken der Atome Bewußtsein entstehen könne. Wollte ich selbst die Atome schon mit Bewußtsein ausstatten, so würde doch noch weder das Bewußtsein überhaupt erklärt, noch würde für das Verständnis des einheitlichen Bewußtseins des Individuums damit irgend etwas gewonnen sein.«

Auch diese zweite Grenze des Naturerkennens bezeichnet Du Bois-Reymond als eine unbedingte; kein denkbarer Fortschritt der[598] Naturwissenschaften kann je dazu führen, sie zu überschreiten. Um so weniger aber wird der Naturforscher es sich nehmen lassen, »unbeirrt durch Mythen, Dogmen und altersstolze Philosopheme« sich auf dem Wege der Induktion seine eigne Meinung über die »Beziehungen zwischen Geist und Materie« zu bilden.

»Er sieht in tausend Fällen materielle Bedingungen das Geistesleben beeinflussen. Seinem unbefangenen Blicke zeigt sich kein Grund zu bezweifeln, daß wirklich die Sinneseindrücke der sogenannten Seele sich mitteilen. Er sieht den menschlichen Geist gleichsam mit dem Gestirne wachsen«... »Kein theologisches Vorurteil hindert ihn, wie Descartes, in den Tierseelen der Menschenseele verwandte, stufenweise minder vollkommene Glieder derselben Entwicklungsreihe zu erkennen.« Er sieht, wie bei den Wirbeltieren diejenigen Hirnteile, welche auch die Physiologie als Träger der höheren Geistesfunktionen betrachten muß, sich stufenweise mit der Steigerung der Seelentätigkeit entwickeln. »Endlich die Deszendenztheorie im Verein mit der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl drängt ihm die Vorstellung auf, daß die Seele als allmähliches Ergebnis gewisser materieller Kombinationen entstanden, und vielleicht gleich andern erblichen, im Kampf ums Dasein dem Einzelwesen nützlichen Gaben durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern sich gesteigert und vervollkommnet habe.«

Man sollte fast Glauben, der Materialismus könnte sich dabei beruhigen. Zum Überfluß nimmt Du Bois-Reymond noch ausdrücklich den verrufenen Anspruch Vogts in Schutz, daß die Gedanken sich zum Gehirn verhalten, wie die Leber zur Galle oder der Urin zu den Nieren.408 Ästhetische Rangunterschiede kennt die Physiologie nicht. Ihr ist die Nierenabsonderung ein Gegenstand gleicher Würde mit den Funktionen der edleren Organe. »Auch das ist an dem Vogtschen Ausspruch schwerlich zu tadeln, daß darin die Seelentätigkeit als Erzeugnis der materiellen Bedingungen im Gehirne hingestellt wird.« Fehlerhaft sei nur die Erweckung der Vorstellung, als sei die Seelentätigkeit aus dem Bau des Gehirnes ihrer Natur nach ebenso begreifbar, wie die Absonderung aus dem Bau der Drüse.

Aber das ist es freilich, wogegen sich der Materialismus empört. Wenn irgend etwas »unbegreifbar« bleibt, so kann der Materialismus wohl noch eine vortreffliche Maxime der Naturforschung sein (und das ist er nach unsrer Ansicht auch), aber er ist keine Philosophie mehr. Andre Philosopheme, wie namentlich die Skepsis, können[599] das Unbegreifliche in sich aufnehmen oder wohl gar aus der Unbegreiflichkeit der Dinge ihr Prinzip machen; der Materialismus ist von Hause aus eine postitive Philosophie, welche ihre Fundamentallehren mit dogmatischer Bestimmtheit vorträgt und zu deren wichtigsten Behauptungen es gehört, daß aus diesen Lehren die ganze Welt mit Leichtigkeit zu begreifen sei. Und so sehr unsre heutigen Materialisten, wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, zu skeptischen und relativistischen Anwandlungen geneigt sind, so leicht sie etwa von der Unbegreiflichkeit der letzten Gründe alles Seins reden oder die Welt des Menschen als die Welt der Forschung hinstellen mit Preisgebung der Frage, ob es noch eine andre Auffassung der Dinge geben könne – die Unbegreiflichkeit des Geistigen wollen sie nicht zugeben, weil darin gerade eine Hauptleistung des Materialismus gefunden wird, daß auch die Seelentätigkeiten des Menschen und der Tiere aus den Funktionen der Materie vollkommen erklärt werden.

Daß dabei ein großes Mißverständnis mit unterläuft, muß schon aus unserm ersten Buche hinlänglich klar geworden sein. Wir haben dasselbe aber nirgends handgreiflicher vor uns als in der Polemik, die im Interesse der materialistischen Anschauungsweise gegen Du Bois-Reymond erhoben wurde. Man kann in der Tat von seinen Gegnern sagen, was Kant von den Gegnern Humes sagte (vgl. oben S. 487), daß sie »immer das als zugestanden annahmen, was er eben bezweifelte, dagegen aber mit Heftigkeit und mehrenteils mit großer Unbescheidenheit dasjenige bewiesen, was ihm niemals zu bezweifeln in den Sinn gekommen war.«

Am auffallendsten ist dies bei dem Irrenarzt Dr. Langwieser, welcher Du Bois-Reymonds »Grenzen des Naturerkennens« in einer kleinen Broschüre (Wien 1873) besprochen hat. Langwieser hat (1871) einen »Versuch einer Mechanik der psychischen Zustände« geschrieben; ein Werkchen, welches einige beachtenswerte, wenn auch roh ausgeführte Beiträge für ein zukünftiges Verständnis der Hirnfunktionen darbietet. Daß der Verfasser die Tragweite seiner Erklärungsversuche überschätzt, ist sehr natürlich und daß er von seinem Standpunkte aus durch den Nachweis mechanischer Hirnfunktionen auch das Bewußtsein erklärt zu haben glaubt, ist ein Zug, den er mit dem ganzen Materialismus gemein hat. Man könnte nun denken, gerade ein solcher Schriftsteller müßte, wenn ein Forscher wie Du Bois-Reymond auftritt, wenigstens »aus dem dogmatischen Schlummer« geweckt werden und den Punkt, auf[600] welchen es ankommt, genau erkennen; allein statt dessen haben wir ein totales Mißverständnis vor uns. Wir würden uns aber mit dem Mißverständnisse eines einzelnen Schriftstellers nicht lange aufhalten, wenn es uns nicht schiene, daß hier gleichsam das klassische Modell für eine ganze Gattung ähnlicher Mißverständnisse vorläge, und wenn nicht eben dieser Punkt für die Beurteilung des Materialismus von höchster Wichtigkeit wäre.

Das Mißverständnis ist so plump, daß Langwieser (S. 10) geradezu behauptet, Du Bois-Reymond widerspreche sich selbst mit der Annahme des Laplaceschen Satzes von der Berechnung der Zukunft aus einer vollkommenen Weltformel. »Um Ereignisse der Vergangenheit oder Zukunft, in denen der menschliche Geist als wesentlicher Faktor mitgewirkt hat oder mitwirken wird, zu berechnen auf dem Wege der Mechanik der Atome, müßten eben die geistigen Zustände der Menschheit ebenfalls noch in das Gebiet der erkennbaren Mechanik der Atome fallen, was gerade Du Bois-Reymond leugnet.«... »Wollte er aber erwidern, dem von Laplace gedachten Geiste wären auch die Atombewegungen aller Gehirne der Menschheit bekannt und von ihm in Rechnung gezogen, so daß er durch dieselben auch den Einfluß der geistigen Vorgänge berechnete, nur wäre ihm das Verständnis der geistigen Vorgänge aus diesen Atombewegungen versagt, so liegt wieder darin ein Widerspruch. Denn sobald er jeden Gedanken als Atombewegung berechnen kann und dessen weitere Folgen und Wirkungen, so erkennt er aus den Wirkungen auch das Wesen der Sache, wie überall, so auch in der Sphäre der geistigen Vorgänge; denn das Wesen einer Sache ist eben nichts andres, als inwiefern [sic] es sich in seinen Wirkungen äußert.«

Hier haben wir also genau den Fall, daß der Gegner das gerade als zugestanden und selbstverständlich annimmt, was Du Bois-Reymond eben bezweifelt; der übrige Inhalt der Broschüre ist dann dem Beweise desjenigen gewidmet, was der berühmte Physiologe niemals in Zweifel gezogen hat und um dessen Klarstellung er sich sogar selbst hervorragende Verdienste erworben hat.

Einem unbefangenen und mit den nötigen Vorkenntnissen ausgestatteten Leser des Vortrags »über die Grenzen des Naturerkennens« kann es doch wohl keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß der Verfasser unter sämtlichen Atomen auch die Gehirnatome des Menschen versteht, und daß ihm der Mensch mitsamt seinen »willkürlichen« Handlungen nur ein für den Naturforscher durchaus[601] gleichartiger Teil neben andern Teilen des großen Weltganzen ist. Dabei würde sich aber Du Bois-Reymond wohl hüten, von dem »Einfluß der geistigen Vorgänge auf die materiellen Ereignisse« zu reden, denn ein solcher Einfluß ist, wenn man die Sache genau nimmt, naturwissenschaftlich ganz undenkbar. Wenn auch nur ein einziges Gehirnatom durch die »Gedanken« auch nur um den millionsten Teil eines Millimeters aus der Bahn gerückt werden könnte, welche es nach den Gesetzen der Mechanik verfolgen muß, so würde die ganze »Weltformel« nicht mehr passen und nicht einmal mehr Sinn haben. Die Handlungen des Menschen aber, auch z.B. der Soldaten, welche bestimmt wären, das Kreuz auf die Sophien-Moschee zu pflanzen, ihrer Feldherren, der beteiligten Diplomaten usw. – alle diese Handlungen folgen, naturwissenschaftlich betrachtet, nicht aus »Gedanken«, sondern aus Muskelbewegungen, sei es nun, daß diese dienen, einen Marsch zu machen, ein Schwert zu ziehen oder eine Feder zu führen, ein Kommandowort erschallen zu lassen oder den Blick auf einen bedrohten Punkt zu richten. Die Muskelbewegungen werden durch Nerventätigkeit ausgelöst; diese stammt aus den Hirnfunktionen und diese sind durch die Struktur des Hirns, durch die Leitungsbahnen, die Atombewegungen des Stoffwechsels usw. unter dem hinzutretenden Einflusse der zentripetalen Nerventätigkeit vollständig bestimmt. Man muß sich eben klarmachen, daß das Gesetz der Erhaltung der Kraft im Innern des Gehirns keine Ausnahme erleiden kann, wenn es nicht total sinnlos werden soll, und man muß sich zu dem Schlusse erheben können, daß also das ganze Tun und Treiben der Menschen, des einzelnen wie der Völker, durchaus so vor sich gehen könnte, wie es wirklich vor sich geht, ohne daß übrigens auch nur in einem einzigen dieser Individuen irgend etwas wie Gedanke, Empfindung usw. vor sich ginge. Der Blick der Menschen könnte ganz ebenso »seelenvoll«, der Klang ihrer Stimme ebenso »rührend« sein, nur daß diesem Ausdruck keine »Seele« entspräche und daß niemand »gerührt« würde anders, als daß die unbewußt sich ändernden Mienen etwa einen weicheren Ausdruck annähmen oder der Mechanismus der Hirnatome ein Lächeln auf die Lippen oder Tränen in die Augen brächte. – So und nicht anders dachte sich Descartes die Tierwelt, und es ist nicht der mindeste Grund vorhanden, die naturwissenschaftliche Zulässigkeit einer falschen Annahme zu bestreiten. Daß sie falsch ist, schließen wir nur aus der Ähnlichkeit der Symptome tierischer Empfindungen[602] mit denen, die wir an uns selber kennen. Ebenso aber legen wir allen übrigen Menschen mit Ausnahme von uns selbst das Bewußtsein nur durch einen Analogieschluß bei. Wir finden es bei uns an die körperlichen Vorgänge geknüpft und schließen mit Recht, es werde bei den andern ebenso sein, aber naturwissenschaftlich erkennen können wir ein für allemal nur die Symptome und »Bedingungen« des Geistigen außer uns, nicht dieses selbst. Man kann der Ansicht, von welcher Du Bois-Reymond ausgeht, den schärfsten, ich möchte sagen zum Verständnis zwingenden Ausdruck geben, wenn man sich zwei Welten vorstellt: beide mit Menschen und ihren Handlungen erfüllt, mit dem gleichen Verlauf der Weltgeschichte, mit dem gleichen Ausdruck aller Gebärden, dem gleichen Klang der Stimme – für den, der sie hören, d.h. nicht nur ihre Vibrationen durch den Hörnerv nach dem Gehirn leiten, sondern sich ihrer bewußt werden könnte. Beide Welten sollen absolut gleich sein, nur mit dem Unterschiede, daß in der einen der ganze Mechanismus abliefe, wie die Mechanik eines Automaten, ohne daß irgend etwas dabei empfunden oder gedacht würde, während die andre unsre Welt ist: dann würde die Weltformel für diese beiden Welten durchaus dieselbe sein. Sie wären vom Standpunkte der exakten Forschung nicht zu unterscheiden.

Daß wir an die eine dieser beiden Welten nicht Glauben, ist nichts als die unmittelbare Wirkung unsres eigensten, persönlichen Bewußtseins, wie es jeder nur in sich selbst kennt, und das wir auf alles, was uns äußerlich ähnlich ist, übertragen. Die Verschmelzung aber zwischen der Auffassung der äußeren Symptome des Geistigen und ihrer Deutung aus unserm Bewußtsein heraus ist eine so vollständige, von Geburt an so eingewurzelte, daß es eines scharfen und vorurteilsfreien Denkens bedarf, um diese beiden Faktoren wieder zu trennen.

Eine ganz andre Frage ist nun aber die nach dem Kausalzusammenhange zwischen den materiellen Vorgängen und den mit ihnen verbundenen geistigen Zuständen. Daß in dieser Beziehung die vollste Abhängigkeit des Geistigen vom Physischen gelehrt werden kann, ohne aus den »Grenzen des Naturerkennens« herauszutreten, ist von Du Bois-Reymond ausdrücklich anerkannt, und soweit es also den Materialisten nur um Beseitigung übernatürlicher Eingriffe und Vorfälle zu tun ist, könnten sie sich bei der vorgetragenen Lehre vollständig beruhigen. Du Bois-Reymond stellt höchstens dasjenige als möglich und sogar wahrscheinlich hin, was sie selbst[603] mit dogmatischer Gewißheit behaupten; ja, in dem Laplaceschen Gedanken liegt in dieser Hinsicht, wie Langwieser ganz richtig herausgefunden hat, schon mehr als die bloße Möglichkeit: Wenn Geistiges und Physisches auf eine noch so rätselhaft scheinende Weise verknüpft sind; wenn die Natur des letzteren noch so unerklärlich ist, so wird doch die durchgängige Abhängigkeit des Geistigen vom Physischen behauptet werden müssen, sobald einerseits erwiesen ist, daß beide Erscheinungen vollkommen korrespondieren, und anderseits, daß die physischen Vorgänge strengen und unwandelbaren Gesetzen folgen, die lediglich ein Ausdruck von Funktionen der Materie sind. Was eine tiefer gehende Betrachtung an dieser Auffassung etwa noch zu ändern vermag, wird sich später finden.

Aber wie die Materialisten, so haben auch ihre Antipoden, die Theologen und theologisierenden Philosophen, die Lehre von den Grenzen der Naturerkenntnis verstanden. Man sieht über die schroff materialistischen Züge der Ansichten, welche Du Bois Reymond entwickelt, hinweg und hält sich an die eine große Tatsache, daß er der Naturforschung absolut unübersteigliche Grenzen setzt. Kraft und Stoff sind nicht erklärbar, das atomistische Erkennen ist nur ein »Surrogat« des wahren Erkennens: also ist der Materialismus verworfen; verworfen von einem unsrer ersten Naturforscher. Warum sollen da nicht Spekulation und Theologie ganz munter wieder über das verlassene Feld ausschwärmen und mit großer Autorität dasjenige lehren, was die Naturforschung nicht weiß? Daß sie es selbst auch nicht wissen, kommt nicht weiter in Frage. Der berühmte Physiologe hat das Bewußtsein, ja, schon die einfachste Empfindung für unzugänglich erklärt für die Naturforschung: warum sollen nun die Metaphysik und die alte weise Begriffspsychologie nicht ihre Puppen wieder auskramen und sie auf dem leeren Felde tanzen lassen? Der gefürchtete Popanz ist fort; der Naturforscher, der nur lehrt, was er weiß, hat versprochen, sich nicht in das Spiel zu mischen; also besetzen wir unsre Domäne fröhlich wieder! Es wird alles so weiter getrieben, wie wenn keine Naturforschung existierte. Das geistige Gebiet geht sie ja nichts an!

Daß solche Mißverständnisse möglich sind, kann nur teilweise an der tiefgewurzelten Gewohnheit liegen, den Begriff des Erkennens nicht scharf genug zu nehmen und das Begreifen mit der Erforschung des Kausalzusammenhanges zu identifizieren. Zum Teil[604] muß wohl die Schuld an dem Verfasser des Vortrages liegen, wie wohl weniger an dem, was er sagt, als an dem, was er verschweigt, und schließlich an der ganzen Art, wie hier ein Bruchstück aus der Kritik aller Erkenntnis herausgerissen und ohne genügende Andeutungen über den Zusammenhang mit weiteren Fragen unter das Publikum geworfen wird. Hier fehlte es möglicherweise auch dem Verfasser selbst an der Orientierung, wiewohl er sich sonst in der Geschichte der Philosophie nicht unbewandert zeigt. Eine tiefer gehende Andeutung finden wir nur gegen Schluß des Vortrags: Du Bois-Reymond wirft hier (S. 33) die Frage auf, ob nicht die beiden Grenzen des Naturerkennens vielleicht die nämlichen seien, »d.h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zugrunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfinden, begehren und denken könne.« Dies ist wieder eine ganz materialistische Wendung, statt welcher der Anhänger des Kritizismus vielmehr fragen würde: ob nicht, wenn wir das Verhältnis des Bewußtseins zu der Art, wie wir Naturobjekte denken, vollständig begriffen hätten, alsdann uns auch vollkommen klar wäre, warum wir die Substanz der Welt beim naturwissenschaftlichen Denken als Stoff und Kraft vorstellen müssen? Daß beide Probleme identisch sind, ist in der Tat wohl mehr als bloß wahrscheinlich. Auch würde es am letzten Ende auf das gleiche hinauslaufen, ob dieses auf jenes zurückgeführt wird oder umgekehrt; und doch ist die eine Reduktionsweise eine der Tendenz nach materialistische, die andre eine idealistische. Die gedachte Lösung würde freilich, wenn sie überhaupt möglich wäre, auch den Gegensatz von Materialismus und Idealismus mit aufheben.

Eine einzige Stelle findet sich in dem so wohldurchdachten Vortrage, welche nicht nur den Mißverständnissen ausgesetzt, sondern positiv unrichtig ist; an diese wollen wir denn auch zunächst unsre kritischen Bemerkungen anknüpfen. In der bewegten Welt des von Laplace angenommenen Geistes regen sich auch (S. 28) die Hirnatome »wie in stummem Spiel«. Weiter heißt es dann: »Er übersieht ihre Scharen, er durchschaut ihre Verschränkungen, aber er versteht nicht ihre Gebärde, sie denken ihm nicht, und deshalb bleibt... seine Welt eigenschaftslos.«

Erinnern wir uns zunächst, daß jener Geist auch die menschlichen Handlungen als notwendige Folgen der Bewegungen der Hirnatome übersieht! Erinnern wir uns, daß das Gesetz der Notwendigkeit,[605] dessen Schlüssel jener Geist besitzt, alle, auch die feinsten und bedeutungsvollsten Regungen der Blicke, der Mienen, die Modulation der Stimme regiert, und daß die Art, wie Menschen miteinander in Haß und Liebe, im Scherzen und Disputieren, in Kampf und Arbeit verkehren und zusammenwirken, wenigstens nach der Seite der äußeren Erscheinung diesem Geiste vollkommen verständlich sein müssen. Er kann den feinsten Schatten heimlichen Neides oder stillen Einverständnisses in einem Blick des Menschen so gut voraussagen, wie wir die plumpe Mondfinsternis. Nun erinnern wir uns aber ferner, daß dieser Geist als ein dem Menschen verwandter angenommen wurde, daß er also selbst aller jener Gemütsregungen fähig ist, welche seine Rechnungsformeln ausdrücken. Kann es dann wohl fehlen, daß er seine eignen Empfindungen in das, was er äußerlich vor sich sieht, hineinträgt? Machen wir es doch ebenso, wenn wir an unsern Mitmenschen Neid, Zorn, Dankbarkeit oder Liebe wahrnehmen. Wir nehmen auch nur die Gebärden wahr und deuten sie aus unserm eignen Innern. Nun hat jener rechnende Geist freilich zunächst nur seine Formeln, während wir die unmittelbare Anschauung haben. Aber wir dürfen ihm ja nur ein wenig Phantasie leihen, durchaus verständige Phantasie, wie wir sie auch besitzen, so wird er die Formeln schon in Anschauung übertragen.

Freilich reden ihm jetzt zunächst nur diejenigen Formeln, welche das äußerlich Erscheinende ausdrücken, was auch wir aus dem täglichen Leben kennen; allein wenn er den Kausalzusammenhang dieser äußeren Erscheinung mit der Bewegung der Hirnatome vollkommen durchschaut, so wird er sehr bald in der letzteren auch ihre Ursachen und Folgen lesen, und er wird dann die »Gebärde« dieser Atome aus ihrem Einfluß auf die äußeren Gebärden des Menschen ebensogut verstehen, als z.B. der Telegraphenbeamte bei einiger Übung die Depeschen unmittelbar aus dem Rhythmus des klappernden Hebels hört, ohne daß er erst die in das Papier gerrückten Zeichen lesen müßte.

Wenn nun freilich jener Geist neben allen übrigen bloß gradweise gesteigerten menschlichen Eigenschaften auch einen hohen Grad kritischen Scharfsinns besäße, so würde er wohl einsehen, daß er das geistige Leben nicht auf dem Wege des objektiven Erkennens wahrnimmt, im täglichen Leben so wenig als in der Wissenschaft; sondern daß er es hier in die Formeln, dort in die Anschauungen, aus seinen eignen innern Erlebnissen hinüberträgt. Er würde auch[606] gern einräumen, daß ihm weder eine unmittelbare Kenntnis fremder Empfindungen gegeben ist, noch daß er irgendeine Ahnung davon hat, wie Empfindung und Bewußtsein aus den materiellen Bewegungen entstehen. Hierüber würde er wohl mit Du Bois-Reymond ruhig sein »Ignorabimus« sprechen; aber gleichwohl wäre er der vollkommenste Psychologe, der überhaupt für uns denkbar ist und Psychologie als Wissenschaft wird nie etwas andres für uns sein können, als ein Bruchstück der Erkenntnis, die jener in aller Vollkommenheit schon besitzt.

Sieht man aber genau zu, so ist es so mit allen Wissenschaften ohne Ausnahme; soweit es sich nicht um bloßes Scheinwissen handelt. Es ist in gewissem Sinne alles Naturerkennen; denn alle unsre Erkenntnis zielt auf Anschauung. Am Objekt allein orientiert sich unser Erkennen durch die Auffindung fester Gesetze; aus unserm Subjekt herausdeuten und beleben wir die verschiedenen Formen, soweit wir sie auf Geistiges beziehen. Unmittelbare Erkenntnis des Geistigen haben wir nur in unserm Selbstbewußtsein; wer aber aus diesem allein, ohne die Leitung durch das Objekt, eine Wissenschaft spinnen will, verfällt rettungslos der Selbsttäuschung.

Wenn nun aber die Sache so steht: welchen Wert hat dann noch der Nachweis der Grenzen des Naturerkennens? So verschieden auch der methodologische Charakter der sogenannten »Geisteswissenschaften« ist von dem der Naturwissenschaften, so sind sie doch in dem von Du Bois-Reymond aufgestellten Ideal der Naturwissenschaften alle mit enthalten, soweit sie eben auf wirklichem Wissen und nicht auf bloßer Einbildung beruhen.409 Man könnte denken, damit sei der Triumph des Materialismus entschieden und der Dank, welchen die Gegner desselben für das mutige »Bekenntnis« des berühmten Physiologen ausgesprochen haben, schlechthin gegenstandslos. Wenn man sich aber an unsern Abschnitt über Kant erinnert, wird man leicht finden, daß dem nicht so ist. Die »Grenzen des Naturerkennens« sind eben ideal genommen identisch mit den Grenzen des Erkennens überhaupt. Gerade dadurch aber erhöht sich ihre Bedeutung, und die ganze scharfsinnig geführte Untersuchung wird zu einer Bestätigung des kritischen Standpunktes in der Erkenntnistheorie von naturwissenschaftlicher Seite.

Die Grenze des Erkennens ist in Wahrheit keine starre Schranke, die sich dem natürlichen Fortgang desselben in seiner Bahn an einem bestimmte Punkte schroff entgegenstellte. Die mechanische Weltanschauung hat vorwärts und rückwärts eine unendliche Aufgabe[607] vor sich, aber als Ganzes und ihrem Wesen nachträgt sie eine Schranke in sich, von der sie in keinem Punkte ihrer Bahn verlassen wird. Oder erklärt etwa der Physiker das rote Licht, wenn er uns die entsprechende Schwingungszahl nachweist? Er erklärt an der Erscheinung, was er erklären kann, und den Rest schiebt er dem Physiologen zu. Dieser erklärt wieder, was er erklären kann, aber selbst wenn wir seiner Wissenschaft eine Vollkommenheit zuschreiben, die sie zur Zeit nicht besitzt, so hat er schließlich, wie der Physiker, nur Atombewegungen zur Verfügung.410 Bei ihm schließt sich der Bogen in der Umsetzung zentripetaler in zentrifugale Nervenströme. Er kann also den Rest nicht weiter schieben und proklamiert die »Grenze des Naturerkennens«. Ist aber die Kluft hier wesentlich anders beschaffen als beim Physiker, oder haben wir irgendeine Garantie dafür, daß nicht auch dessen Vibrationen, gleich denen des Physiologen, mit einem Vorgang ganz andrer Art notwendig verbunden sind? Ist es nicht ein sehr naheliegender und durchaus berechtigter Analogieschluß, daß überall hinter diesen Vibrationen noch etwas andres stecke? Hinter den Vibrationen des Hirns stecken unsre eignen Empfindungen; daher können wir die »Grenze des Naturerkennens« an diesem Punkte aufzeichnen, daß sie aber nur hier liege und nicht vielmehr im Charakter des Erkennens selbst, muß uns mindestens bei einigem Nachdenken sehr unwahrscheinlich vorkommen.

Nicht umsonst liegt hier ein Punkt, bei welchem die verschiedenartigsten Spekulationen anknüpfen. Du Bois-Reymond verwirft den Gedanken an eine »Weltseele« mit dem Hinweis darauf, daß uns in der Struktur des Weltganzen jede Analogie mit der Struktur eines menschlichen Gehirnes fehle (S. 32). Das Argument ist stark genug gegen jede anthropomorphe Vorstellung einer solchen Weltseele, aber nicht gegen den Gedanken in einer allgemeineren Form. Andre Vorstellungsweisen, wie z.B. die Schopenhauersche Identifizierung von Wille und Bewegungsimpuls, der »Weltäther«, mit welchem Spiller411 gegen Du Bois-Reymond zu Felde zieht, die empfindungsfähige Materie Ueberwegs usw. lassen sich als transzendente Spekulation von der Hand weisen; aber der Boden, auf dem diese Spekulation erwachsen, bleibt, und in negativer Hinsicht können wir mit Zuversicht antworten: von der toten, stummen und schweigenden Welt der schwingenden Atome wissen wir nichts, als daß sie eine notwendige Vorstellung für uns ist, insofern wir den Kausalzusammenhang der Erscheinungen in wissenschaftlicher[608] Weise darstellen wollen. Da wir aber auf einem Punkte gesehen haben, daß diese notwendige Vorstellung nicht das Gegebene, nämlich unsre Empfindungen, sondern nur eine gewisse Ordnung im Entstehen und Vergehen derselben erklärt, so müssen wir einsehen, daß diese Vorstellung nach ihrer ganzen Natur und ihren notwendigen Prinzipien nicht geeignet ist, uns das letzte, innerste Wesen der Dinge zu enthüllen.

Ganz dasselbe Resultat erhält man, wenn man von Stoff und Kraft ausgeht. Hier ist leicht zu zeigen, daß die theoretische Physik von jeder gegebnen Vorstellungsweise aus noch eine ganze Unendlichkeit feinerer und immer feinerer Erklärungen und mathematischer Analysen vor sich hat, während doch die Schwierigkeit, welche sich hier dem Erkennen entgegenstellt, stets dieselbe bleibt. Man darf aber gar nicht einmal auf die Atome zurückgehen, so hat man überall Spuren der Unzulänglichkeit der mechanischen Vorstellungsweise vor sich. Bekanntlich sucht Hume (vgl. oben S. 456) die Einwürfe gegen eine materialistische Erklärung des Denkens damit zu beseitigen, daß er die gleiche Unbegreiflichkeit, wie in diesem Falle, in allen andern Fällen eines Kausalverhältnisses finden wollte. Er hatte darin recht, aber der Schutz, den er dem Materialismus auf diesem Punkte angedeihen läßt, schlägt auf einem andern zum Verderben desselben aus. Die Widersprüche können dem »Ding an sich« nicht anhaften; sie müssen also in unsrer Vorstellungsweise begründet sein.

Wenn Bewußtsein und Hirnbewegung zusammenfallen, ohne daß ein Einfluß des einen auf das andre zu begreifen wäre, so kann man den alten spinozistischen Gedanken, der auch bei Kant öfter anklingt, kaum vermeiden, daß beide dasselbe Ding sind; gleichsam auf verschiedene Organe der Auffassung projiziert. Der Materialismus haftet so zäh an der Wirklichkeit seiner Materie und ihrer Bewegungen, daß ein echter Dogmatiker dieser Richtung sich nicht lange besinnt, die Hirnbewegung für das Wirkliche und Objektive und die Empfindung nur für eine Art von Schein oder einen täuschenden Reflex der Objektivität zu erklären. Aber nicht nur »Schein trügt«; auch der Begriff des Scheines hat sich oft trügerisch erwiesen. Die Philosophen des Altertums namentlich waren sehr naiv darin, daß sie glaubten, ein Ding los zu sein, wenn sie es für »Schein« erklären konnten. Als wenn nicht der Begriff des Scheines ein relativer wäre! Ein Lichtschimmer, ein Nebelstreif scheint eine Gestalt zu sein, aber das Licht, der Nebel ist doch wirklich.[609]

Wenn z.B. die Bewegung für Schein erklärt wird, so mag man ja irgendeinen Grund dafür haben, das Ding an sich für ewig ruhend zu halten; aber die erscheinende Bewegung trotzt diesem Urteil. Sie ist ein schlechthin Gegebenes, wie jenes Licht, jener Nebelstreif. So muß man auch die materialistische Behandlung der Empfindung beurteilen, wenn die Hirnbewegung zu ihrem eigentlichen Wesen erhoben werden soll. Diesen Standpunkt vertritt z.B. in schärfster Form Langwieser in seiner Polemik gegen Du Bois-Reymond. »So wenig,« heißt es da (S. 12), »unser Selbstbewußtsein uns die Anatomie unsres Leibes oder doch wenigstens die Faserung unsres Gehirnes kennen lehrt und daher auch gar kein Selbstbewußtsein im objektiven Sinne ist, ebensowenig vermögen wir unsre Empfindungen subjektiv als das zu erkennen, was sie sind.«

Wie man sieht, ist die alte naive Auffassung der Sinneseindrücke hier noch verstärkt durch die Einführung der modernen Begriffe von »objektiv« und »subjektiv«. Das Subjektive ist eigentlich gar nicht, oder anders ausgedrückt: das subjektive Sein ist nicht das wahre, das eigentliche Sein, mit welchem die Wissenschaft allein es zu tun hat. Unser eignes Bewußtsein – für die Philosophen seit Cartesius der Ausgangspunkt alles Denkens – ist nur ein solches subjektives Phänomen. Wenn wir die Hirnteile kennen, in denen es zustande kommt und die Ströme, welche sich in diesen Teilen bewegen, dann erst wissen wir, was die Sache ist; wir haben das Bewußtsein »objektiv« erkannt, und damit ist alles geleistet, was man billigerweise verlangen kann!

Dieser Auffassungsweise eines materialistischen Naturphilosophen, der die Philosophie als »Mystik« verachtet, wollen wir nun zunächst eine Äußerung eines philosophisch gebildeten Forschers gegenüberstellen. Der Astronom Zöllner zeigt in seinem merkwürdigen und inhaltreichen Buche über die Natur der Kometen, daß wir zur Vorstellung eines Objektes überhaupt nur durch die Empfindung gelangen. Die Empfindungen sind das Material, aus welchem sich die reale Außenwelt aufbaut. Die allereinfachste Art von Empfindungen, welche wir uns denken können, schließt schon, sobald wir uns eine Verknüpfung der wechselnden Empfindungszustände in einem Organismus denken, die Vorstellung der Zeit und der Kausalität in sich. »Hieraus scheint mir hervorzugehen,« schließt Zöllner, »daß das Phänomen der Empfindung eine viel fundamentalere Tatsache der Beobachtung als die Beweglichkeit der Materie ist, welche wir ihr als die allgemeinste Eigenschaft[610] und Bedingung zur Begreiflichkeit der sinnlichen Veränderungen beizulegen gezwungen sind.«412

In der Tat läßt sich wohl die Vorstellung von Atomen und ihren Bewegungen aus der Empfindung ableiten, nicht aber umgekehrt die Empfindung aus Atombewegungen. Man könnte nun versuchen, von der Empfindung aus die Schranken des Naturerkennens zu durchbrechen und so gleichsam die ganze Naturwissenschaft zum Spezialgebiet der Psychologie zu machen; allein eine solche Psychologie hat, wie wir später noch genugsam sehen werden, nicht die Mittel in sich, zur exakten Wissenschaft zu werden. Erst wenn wir unsre Empfindungen und Empfindungsvorstellungen in der Abstraktion auf jene einfachsten Elemente der Raumerfüllung, des Widerstandes und der Bewegung zurückführen, erhalten wir die Basis für die Operationen der Wissenschaft. Insofern sich in diesen abstraktesten Vorstellungen des Sinnlichen eine notwendige Übereinstimmung aller Menschenkraft der apriorischen Elemente unsrer Erkenntnis ergibt – insofern allerdings sind diese Vorstellungen »objektiv«, gegenüber den konkreteren, mit Lust und Unlust verbundenen Empfindungen, die wir »subjektiv« nennen, weil in ihnen unser Subjekt sich nicht in einem allgemeinen und notwendigen Einklang mit allen andern empfindenden Subjekten befindet. Gleichwohl ist im Grunde alles im Subjekt, wie denn auch »Objekt« ursprünglich gar nichts andres bedeutet als den »Gegenstand« unsres Vorstellens. Die Empfindung und Empfindungsvorstellung ist das Allgemeine; die Vorstellung von Atomen und ihren Schwingungen der Spezialfall. Die Empfindung ist wirklich und gegeben; an den Atomen aber ist nichts im Grunde wirklich und gegeben, als der Rest von abgeblaßten Empfindungen, durch welche wir das Bild derselben zustande bringen. Der Gedanke, daß diesem Bilde etwas Äußeres, von unserm »Subjekt« schlechthin Unabhängiges entspricht, mag sehr natürlich sein, allein absolut notwendig und zwingend ist er nicht; sonst hätte es niemals Idealisten von der Richtung Berkeleys geben können.

Soll also von den beiden Gegenständen, Empfindung und Atombewegung, der eine für Wirklichkeit, der andre für bloßen Schein erklärt werden, so wäre weit eher Grund, Empfindung und Bewußtsein für wirklich, dagegen die Atome und ihre Bewegung für bloßen Schein zu erklären. Daß wir auf diesen Schein unsre Naturwissenschaft bauen, kann daran nichts ändern. Das Naturerkennen wäre dann eben nur ein Analogon des wahren Erkennens: ein[611] Mittel, uns zu orientieren, wie eine Landkarte, die uns vortreffliche Dienste leistet, während sie doch weit entfernt ist, das Land selbst zu sein, in welchem wir in Gedanken unsre Reisen machen.

Aber eine solche Unterscheidung ist weder nötig noch förderlich. Empfindungen und Atombewegung sind für uns gleich »wirklich« als Erscheinungen; wiewohl die erstere eine unmittelbare Erscheinung ist, die Atombewegung nur eine vermittelte, eine gedachte. Wegen des strengen Zusammenhanges, den die Annahme der Materie und ihrer Bewegung in unsern Vorstellungen schafft, verdient sie »objektiv« genannt zu werden; denn durch sie wird erst die Mannigfaltigkeit der Objekte zu einem einheitlichen, großen und umfassenden »Objekt«, das wir als den beharrlichen »Gegenstand« unsres Denkens dem wechselnden Inhalt unsres Ich gegenüberstellen. Diese ganze Wirklichkeit ist aber eben – empirische Realität; sehr wohl vereinbar mit der transzendentalen Idealität. Vom Standpunkte der kritischen, auf Erkenntnistheorie gegründeten Philosophie schwindet im Grunde jedes Bedürfnis, die hier besprochenen »Schranken des Naturerkennens« zu durchbrechen, da diese Schranken nicht eine uns fremd und feindlich gegenüberstehende Macht sind, sondern unser eignes Wesen. Will man aber doch noch einen letzten Versuch machen, den Schein eines unversöhnlichen Dualismus auf populärem Wege zu beseitigen, so bietet sich der auch von Zöllner eingeschlagene Weg dar, der Materie an sich Empfindung zuzuschreiben und die mechanischen Prozesse sich gesetzmäßig und allgemein mit Empfindungsvorgängen verbunden zu denken. Man darf aber nie vergessen, daß die Erklärung, welche man auf diese Weise gewinnt, keine naturwissenschaftliche, sondern eine spekulative ist, und daß sie das eigentliche Rätsel, das Unbegreifliche in der Erscheinung nicht beseitigt, sondern nur verschiebt. – Um naturwissenschaftliche Bedeutung zu erhalten, müßte diese Theorie uns das Entstehen der sich bewegenden Teile mindestens ebenso streng beweisen können, wie den Aufhau des Körpers aus Zellen oder den Übergang mechanischer Bewegung aus der Außenwelt in die Zustände unsres Nervensystems. Zwei Rätsel würden dabei immer bestehen bleiben: die Vorstellung von Kraft und Stoff wäre mit allen den bisherigen Schwierigkeiten behaftet und mit einer neuen, größeren dazu. Das Bewußtsein aber würde zwar durch ein Band mit der Materie verbunden sein, aber seine Einheit in ihrem Verhältnisse zu der Vielheit der konstituierenden Empfindungen würde im Grunde noch die[612] gleiche Unbegreiflichkeit in sich schließen, wie früher das Verhältnis des Bewußtseins zu den Schwingungen der Atome des Gehirns. Überdies fragt es sich noch sehr, ob man, wenn eine solche Theorie je könnte durchgeführt werden, dann nicht dazu käme, die Atome und ihre Schwingungen ganz fallen zu lassen, wie ein Baugerüst, wenn der Bau vollendet ist. Die Empfindungswelt, die einzige gegebene, wäre ja aus ihren eignen Elementen erklärt und bedürfte der fremdartigen Stütze nicht mehr. Gäbe es aber irgendeinen zureichenden Grund, die Vorstellung der Atome gleichwohl festzuhalten, so wäre dann immer noch die materielle Welt eine Welt der Vorstellung, und die Vermutung, daß hinter den beiden korrespondierenden Welten, der materiellen und der Empfindungswelt, ein unbekanntes Drittes als ihre gemeinsame Ursache läge, würde tiefer führen, als die einfache Identifizierung derselben. So sehen wir, wie allerdings die gründliche Naturforschung durch ihre eignen Konsequenzen über den Materialismus hinausführt. Es ist dies aber stets nur auf diesem einen Punkte der Fall, wo wir genötigt werden, die gesamte Welt der Naturforschung als eine Erscheinungswelt aufzufassen, neben welcher die Erscheinungen des Geisteslebens trotz aller anscheinenden Abhängigkeit von der Materie ihrem Wesen nach ein Fremdes und ein Andres bleiben. Man kann von andern Ausgangspunkten, wie z.B. namentlich von der Physiologie der Sinnesorgane aus, an dieselbe Grenze des Naturerkennens gelangen; allein man kann keinen hiermit nicht zusammenhängenden Punkt in der gesamten mechanischen Weltanschauung finden, an welchem etwa durch materielle Vertiefung der Forschungen die Ungenauigkeit derselben nachgewiesen würde. Alles, was man sonst etwa vom Richterstuhl fachmäßiger Gründlichkeit herab gegen den »Dilettantismus« der Materialisten vorgebracht hat, ist entweder nicht stichhaltig, oder es trifft nicht das Wesen des Materialismus, sondern nur irgendeine zufällige Äußerung eines seiner Anhänger.

Dies trifft namentlich auch einige der Ausfälle, welche Liebig in seinen »chemischen Briefen« gegen die Materialisten unternimmt. So z.B. wenn es im 23. Brief heißt: »Die exakte Naturforschung hat bewiesen, daß die Erde in einer gewissen Periode eine Temperatur besaß, in welcher alles organische Leben unmöglich ist; schon bei 78° Wärme gerinnt das Blut. Sie hat bewiesen, daß das organische Leben auf Erden einen Anfang hatte. Diese Wahrheiten wiegen schwer, und wenn sie die einzigen Errungenschaften dieses Jahrhunderts[613] wären, sie würden die Philosophie zum Dank an die Naturwissenschaften verpflichten.«

Nun! die exakte Naturforschung hat das ebensowenig bewiesen als Lyell die Ewigkeit des gegenwärtigen Zustandes der Erde bewiesen hat. Das ganze Gebiet ist von vornherein nur der Hypothese zugänglich, welche mehr oder weniger durch Tatsachen gestützt wird. Die Geschichte zeigt uns, wie die großen Theoreme kommen und gehen, während die einzelnen Tatsachen der Erfahrung und Beobachtung einen bleibenden und beständig wachsenden Schatz unsrer Erkenntnis bilden. Die Philosophie ist vollends undankbar genug, die ganze angebliche Errungenschaft der exakten Wissenschaften als ihr Eigentum zu reklamieren. Wenn Kant uns zeigt, daß unser Verstand mit Notwendigkeit zu jeder Ursache eine frühere Ursache, zu jedem scheinbaren Anfang einen früheren Anfang sucht, während die Einheitsbestrebungen der Vernunft einen Abschluß verlangen, so ist damit der anthropologische Ursprung der miteinander kämpfenden Theorien vollständig bloßgelegt. Man möge denn ferner drauf zu beweisen, aber nur niemals von der Philosophie verlangen, daß sie ihre eignen Kinder im bunten Rock der Naturwissenschaften nicht wieder erkenne!

Das Gegenstück zu dem »bewiesenen« Anfang des organischen Lebens bildet der verächtliche Seitenblick, mit welchem Liebig es rügt, daß die »Dilettanten«, welche alles Leben auf Erden aus dem einfachsten Organismus der Zelle ableiten wollen, auf das wohlfeilste über eine unendliche Reihe von Jahren verfügen.

Es wäre interessant, irgendeinen vernünftig scheinenden Grund zu erfahren, weshalb man bei der Aufstellung einer Hypothese über die Entstehung der jetzigen Naturkörper nicht auf das wohlfeilste über eine unendliche Reihe von Jahren verfügen sollte. Man kann die Hypothese der allmählichen Entstehung aus andern Gründen angreifen; das ist eine Sache für sich. Will man sie aber tadeln, weil sie eine außerordentlich große Reihe von Jahren braucht, so verfällt man in einen der sonderbarsten Fehler des gewöhnlichen Denkens. Einige tausend Jahre sind uns höchst geläufig; wir erheben uns auch allenfalls auf den Antrieb der Geologen zu Millionen. Ja seit uns die Astronomen gelehrt haben, räumliche Entfernungen nach Billionen von Meilen uns zu denken, mögen denn auch für die Bildung der Erde Billionen von Jahren angenommen werden, obwohl es uns schon etwas phantastisch deucht, weil wir nicht, wie bei der Astronomie, durch Rechnungen zu solchen Annahmen gezwungen[614] sind. Hinter diesen Zahlen, dem Äußersten, wozu wir uns zu erheben pflegen, kommt dann die Unendlichkeit, die Ewigkeit. Hier sind wir wieder in unserm Element; namentlich die absolute Ewigkeit ist uns von der Elementarschule her ein sehr geläufiger Begriff, obschon wir längst darüber im klaren sind, daß wir sie uns nicht eigentlich vorstellen können. Was zwischen der Billion oder Quadrillion und der Ewigkeit liegt, dünkt uns ein fabelhaftes Gebiet, in welches sich nur die ausschweifendste Phantasie verirrt Und doch muß uns gerade das strengste Vertandesurteil sagen, daß a priori und bevor die Erfahrung einen Spruch getan, die größte Zahl für das Alter der Organismen, welche ein Mensch annehmen mag, nicht im mindesten wahrscheinlicher ist, als irgendeine beliebige Potenz dieser Zahl. Es würde nicht einmal eine richtige methodische Maxime sein, so lange möglichst kleine Zahlen anzunehmen, bis eine größere durch Erfahrungstatsachen wahrscheinlich gemacht wird. Eher noch umgekehrt, da gerade bei sehr großen und sehr langsamen Veränderungen das eigentliche Problem darin steckt, eine Vorstellung davon zu gewinnen, mit wie vielen Jahren die Naturkräfte wohl ausreichen mochten, um sie zu vollziehen. Je niedriger die Annahme, desto bündiger müssen die Beweise sein, da der kürzere Zeitraum a priori der minder wahrscheinliche ist. Mit einem Wort: der Beweis muß für das Minimum geführt werden und nicht, wie das Vorurteil annimmt, für das Maximum. Die Scheu vor den großen Zahlen ist also ja nicht zu verwechseln mit der Scheu vor kühnen oder zahlreichen Hypothesen. Die Hypothese des allmählichen Entstehens mag vielleicht aus andern Gründen kühn oder ungerechtfertigt erscheinen; die Größe der Zahlen macht sie nicht um das mindeste gewagter.

Nicht minder unkritisch wird Liebig, wenn er die kategorische Behauptung ausspricht: »Nie wird es der Chemie gelingen, eine Zelle, eine Muskelfaser, einen Nerv, mit einem Worte, einen der wirklich organischen, mit vitalen Eigenschaften begabten Teile des Organismus oder gar diesen selbst in ihrem Laboratorium darzustellen.« Warum nicht? Weil die Materialisten die organischen Stoffe mit den organischen Teilen verwechselt haben? Das kann doch kein Grund für jene Behauptung sein. Man kann die Verwechslung korrigieren, so bleibt die Frage nach der chemischen Darstellbarkeit der Zelle doch noch immer eine offene und dabei eine nicht ganz müßige. Eine Zeitlang glaubte man, daß die Stoffe der organischen Chemie nur im Organismus entstehen könnten.[615]

Dieser Glaube ist gefallen. Jetzt sollen wir Glauben, daß der Organismus selbst nur durch Organismen entstehen kann. Ein Glaubensartikel ist tot; es lebe sein Nachfolger! Sollen wir nicht lieber den Schluß machen, daß es mit dem wissenschaftlichen Wert solcher Dogmen überhaupt nicht weit her ist?

Streng genommen erzeugt die exakte Forschung den Materialismus nicht, aber sie widerlegt ihn auch nicht; wenigstens nicht in dem Sinne, in welchem die Mehrzahl der Gegner ihn widerlegt sehen möchte; denn die »Grenzen des Naturerkennens« genügen in ihrem wahren Sinne dem großen Haufen der Gegner keineswegs. Es gehört schon ein erheblicher Grad philosophischer Bildung dazu, um hier die Lösung der Frage zu finden und sich bei dieser Lösung zu beruhigen.

Bei alledem verhält sich die Naturforschung im Leben und im täglichen Austausch der Meinungen keineswegs so neutral oder gar negativ gegenüber dem Materialismus, wie dies bei strengster Durchführung aller Konsequenzen der Fall ist. Es ist gewiß kein Zufall, daß es fast durchweg Naturforscher waren, welche die Erneuerung der materialistischen Weltanschauung in Deutschland herbeigeführt haben. Es ist ebensowenig Zufall, daß nach allen »Widerlegungen« des Materialismus gegenwärtig mehr als je populär-naturwissenschaftliche Bücher und Aufsätze in Zeitschriften erscheinen, welche so ruhig von materialistischen Anschauungen ausgehen, als ob die Sache längst abgemacht wäre. Die ganze Erscheinung erklärt sich aus unsern obigen Erörterungen schon zur Genüge; denn wenn der Materialismus einzig durch die erkenntnistheoretische Kritik beseitigt werden kann, während er im Felde positiver Fragen überall recht behält, solange man an jene große Schranke nicht denkt, so läßt sich leicht voraussehen, daß für die große Masse derjenigen, welche sich mit Naturwissenschaften beschäftigen, auschließlich die materialistische Gedankenfolge im Gesichtskreise liegt. Es gibt nur zwei Bedingungen, unter welchen diese Konsequenz vermieden werden kann. Die eine liegt hinter uns: es ist die Autorität der Philosophie und die tiefe Wirkung der Religion auf die Gemüter; die andre liegt noch ziemlich weit vor uns: es ist die allgemeine Ausdehnung philosophischer Bildung413 über alle, welche sich wissenschaftlichen Studien widmen.

Hand in Hand mit der philosophischen Bildung geht die historische. Nächst der Verachtung der Philosophie ist ein materialistischer Zug in dem ungeschichtlichen Sinn zu finden, welcher sich[616] mit unsrer exakten Forschung so häufig verbindet. Heutzutage versteht man oft unter »geschichtlicher« Auffassung die konservative. Dies kommt teils daher, daß sich die Wissenschaft oft für Geld und Ehren dazu mißbrauchen ließ, überlebte Mächte zu stützen und dem Raub-Interesse zu dienen durch Hinweis auf vergangene Herrlichkeiten und historischen Erwerb gemeinschädlicher Rechte. Die Naturforschung kann hierzu nicht leicht mißbraucht werden. Vielleicht hat auch die beständige Nötigung zur Entsagung, welche die exakte Forschung mit sich bringt, etwas Charakterstärkendes. Von dieser Seite betrachtet könnte den Naturforschern ihr unhistorischer Sinn nur zum Lobe gereichen.

Die Kehrseite der Sache ist die, daß der Mangel einer geschichtlichen Auffassung den Faden des Fortschritts im großen unterbricht; daß kleinliche Gesichtspunkte sich des Ganges der Untersuchungen bemächtigen; daß sich zur Geringschätzung der Vergangenheit eine philisterhafte Überschätzung des gegenwärtigen Zustandes der Wissenschaften gesellt, bei welchem die landläufigen Hypothesen als Axiome gefaßt werden und blinde Überlieferungen als Resultate der Forschung gelten.

Geschichte und Kritik sind oft eins und dasselbe. Die zahlreichen Mediziner, welche noch eine Frucht von sieben Monaten für eher lebensfähig halten als eine von acht Monaten, halten dies meist für Erfahrungstatsache. Wenn man die Quelle dieser Ansicht in der Astrologie entdeckt hat414 und hinlänglich aufgeklärt ist, um an der tödlichen Kraft des Saturn zu zweifeln, so zweifelt man auch an der angeblichen Tatsache. – Wer die Geschichte nicht kennt, wird von den üblichen Arzneimitteln alle diejenigen für heilsam halten, von denen das Gegenteil nicht durch neuere Untersuchungen ausdrücklich erwiesen ist. Wer aber ein einziges Mal ein Rezept aus dem 16. oder 17. Jahrhundert gesehen und dabei wohlerwogen hat, daß die Leute nach diesen schauderhaften und sinnlosen Kompositionen ebenfalls »gesund wurden«, der wird der vulgären »Erfahrung« nichts mehr trauen und umgekehrt nur an diejenigen streng begrenzten Wirkungen irgendeines Arzneimittels oder Giftes Glauben, welche durch die sorgfältigsten neuern Untersuchungen der exakten Wissenschaft festgestellt sind. – Unkenntnis der Geschichte der Wissenschaft trug dazu bei, daß man vor einigen Dezennien schon begonnen, die »Elemente« der neuern Chemie für in der Hauptsache endgültig festgestellt zu erachten; während gegenwärtig mehr und mehr zutage tritt, daß nicht nur einige neue[617] zu entdecken, sondern daß überhaupt der ganze Begriff eines Elementes nur ein provisorischer Notbehelf ist.

Vielen Chemikern beginnt noch die Geschichte ihrer Wissenschaft mit Lavoisier. Wie in Geschichtswerken für Kinder die finstere Periode des Mittelalters oft mit den Worten beendet wird: »Da trat Luther auf« – so tritt bei ihnen Lavoisier auf, um den Aberglauben des Phlogiston zu verbannen; womit denn die Wissenschaft nach Beseitigung des Blendwerks sich aus dem gesunden Menschenverstand ganz von selbst ergibt. Natürlich! So wie wir die Sache ansehen, muß sie ja angesehen werden! Ein vernünftiger Mensch kann nicht anders; man wäre längst auf den rechten Weg gekommen, wenn nur – das Phlogiston nicht gewesen wäre! Wie auch der alte Stahl nur so verblendet sein konnte!

Wer dagegen in der Geschichte die unauflösliche Verschmelzung von Irrtum und Wahrheit sieht; wer bemerkt, wie die beständige Annäherung an ein unendlich fernes Ziel vollkommener Erkenntnis durch zahllose Zwischenstufen geht; wer da sieht, wie der Irrtum selbst ein Träger mannigfaltigen und bleibenden Fortschritts wird: der wird auch nicht so leicht aus dem tatsächlichen Fortschritt der Gegenwart auf die Unumstößlichkeit unsrer Hypothesen schließen. Wer gesehen hat, wie der Fortschritt nie dadurch erzielt wird, daß eine irrtümliche Theorie plötzlich vor dem Blick des Genies wie Nebel zerfließt, sondern daß sie nun durch eine höhere verdrängt wird, welche aus den kunstvollsten Untersuchungsmethoden mühsam gewonnen wird, der wird auch das Ringen eines Forschers nach Bewahrheitung einer neuen und ungewohnten Idee nicht so leicht mit höhnendem Lächeln betrachten, der wir in allen fundamentalen Fragen der Überlieferung wenig, der Methode viel und dem unmethodischen Verstande gar nichts zutrauen.

Es ist durch Feuerbach in Deutschland und durch Comte in Frankreich die Anschauung aufgekommen, als sei der wissenschaftliche Verstand weiter nichts, als der nach Verdrängung der hindernden Phantasien zu seiner natürlichen Geltung gekommene gesunde Menschenverstand. Die Geschichte zeigt uns keine Spur von einem solchen plötzlichen Hervorspringendes gesunden Menschenverstandes nach bloßer Beseitigung einer störenden Phantasie; sie zeigt uns vielmehr überall, wie die neuen Ideen sich trotz entgegenstehenden Vorurteils Bahn brechen, wie sie mit dem Irrtum selbst, den sie beseitigen sollen, sich verschmelzen oder zu irgendeiner schiefen Richtung zusammenwirken, und wie die völlige Beseitigung[618] des Vorurteils in der Regel nur die letzte Vollendung des ganzen Prozesses ist, gleichsam das Putzen der fertiggearbeiteten Maschine. Ja – um der Kürze wegen beim Bilde zu bleiben – der Irrtum erscheint historisch oft genug als der Mantel, in welchem die Glocke der Wahrheit gegossen wird, und der erst nach Vollendung des Gusses zerschlagen wird. Das Verhältnis der Chemie zur Alchimie, der Astronomie zur Astrologie mag dies erläutern. Daß die wichtigsten postitiven Resultate erst nach Vollendung der Grundlagen der Wissenschaft gewonnen werden, ist natürlich. Wir verdanken Kopernikus im einzelnen sehr wenig von unsrer heutigen Kenntnis des gestirnten Himmels; Lavoisier, welcher in der Ursäure, die er suchte, noch den letzten Rest der Alchimie mit sich trug, würde ein Kind in unsrer heutigen Chemie sein. Wenn die richtigen Grundlagen einer Wissenschaft geschaffen sind, findet sich allerdings eine große Menge von Folgerungen mit verhältnismäßig geringer Geistesarbeit von selbst; eine Glocke zu läuten ist eben leichter, als eine zu gießen. Wo aber ein prinzipiell bedeutender Schritt vorwärts gemacht wird, erblickt man fast immer dasselbe Schauspiel: eine neue Idee greift Platz trotz des Vorurteils; anfänglich vielleicht gar gestützt auf dasselbe. In ihrer Entfaltung erst sprengt sie die morschen Hüllen. Wo diese Idee nicht da ist, hilft die Beseitigung des Vorurteils zu gar nichts. Im Mittelalter waren viele frei von dem Glauben an die Astrologie; zu allen Zeiten finden sich Spuren kirchlicher und weltlicher Opposition gegen diesen Aberglauben; aber nicht aus solchen Kreisen ging die Astronomie hervor, sondern aus denen der Astrologen.

Das wichtigste Resultat der geschichtlichen Betrachtung ist die akademische Ruhe, mit welcher unsre Hypothesen und Theorien ohne Feindschaft und ohne Glauben als das betrachtet werden, was sie sind: als Stufen in jener unendlichen Annäherung an die Wahrheit, welche die Bestimmung unsrer intellektuellen Entwicklung zu sein scheint. Damit ist denn freilich jeder Materialismus, insofern derselbe mindestens ein Glauben an die transzendente Existenz des Stoffes voraussetzt, ganz und gar aufgehoben, was aber den Fortschritt in den exakten Wissenschaften betrifft, so wird gewiß nicht derjenige am meisten zu Entdeckungen befähigt sein, welcher die gestrige Theorie verachtet und auf die heutige schwört, sondern derjenige, welcher in allen Theorien nur ein Mittel sieht, sich der Wahrheit zu nähern und die Tatsachen zu überblicken und für den Gebrauch zu beherrschen.[619]

Diese Freiheit von der Dogmatik der Theorien schließt die Benutzung derselben nicht aus. Man würde auf der andern Seite ebensoweit vom richtigen abweichen, wenn man alle allgemeinen Ideen über den Zusammenhang der Dinge schon im Entstehen unterdrücken und sich eigensinnig an das Einzelne, an die sinnlich nachweisbare Tatsache anklammern wollte. Wie der Geist des Menschen seine höchste, das Gebiet des Naturerkennens überschreitende Befriedigung erst in den Ideen findet, die er aus der dichtenden Tiefe des Gemütes hervorbringt, so kann er sich auch der ernsten und strengen Arbeit der Forschung nicht mit Erfolg widmen, ohne gleichsam in der Idee, in dem allgemeinen Gedanken zu ruhen und aus ihm neue Kraft zu schöpfen. Gattungsbegriffe und Gesetze dienen uns einerseits, wie Helmholtz sehr richtig gezeigt hat, als Mittel des Gedächtnisses und des Überblicks für eine sonst unübersehbare Summe von Gegenständen und Vorgängen; anderseits aber entspricht auch diese einheitliche Zusammenfassung des Mannigfaltigen in der Erscheinung dem synthetischen Grundtriebe unsres Geistes, der allenthalben nach Einheit strebt: im großen Ganzen der Weltanschauung, wie in den einfachsten, eine Mehrheit von Gegenständen zusammenfassenden Begriffen. Wir werden heutzutage dem Allgemeinen gegenüber dem Einzelnen nicht mehr, wie Plato, eine wahrhaftere Wirklichkeit und einen von unserm Denken unabhängigen Bestand zuschreiben; aber innerhalb unsrer Subjektivität wird es uns mehr sein als die bloße Klammer, welche die Tatsachen zusammenhält.

Und diese unsre Subjektivität hat auch für den Naturforscher ihre Bedeutung, da er eben keine Entdeckungsmaschine ist, sondern ein Mensch, in welchem alle Seiten des menschlichen Wesens in unzertrennlicher Einheit wirken. Hier aber finden wir den Materialismus wieder auf der entgegengesetzten Seite. Dieselbe Geistesrichtung, welche einerseits dazu führt, die großen Hypothesen über die Grundlage der Erscheinungen in ein starres Dogma zu verwandeln, zeigt sich anderseits sehr spröde gegenüber der Mitwirkung der Ideen in der Naturforschung. Wir haben gesehen, wie im Altertum der Materialismus steril blieb, weil er starr an seinem großen Dogma von den Atomen und ihrer Bewegung haftete und für neue und kühne Ideen wenig Sinn hatte. Die idealistischen Schulen dagegen, namentlich Platoniker und Pythagoreer gaben dem Altertum die reichsten Früchte naturwissenschaftlicher Erkenntnis.[620]

In der Neuzeit stehen die Dinge, was den Anteil an Erfindungen und Entdeckungen betrifft, ungleich günstiger für den Materialismus. Ist doch die Atomistik, welche damals nur zu Betrachtungen über die Möglichkeit der Erscheinungen führte, seit Gassendi zur Basis der physikalischen Forschung nach dem Wirklichen geworden! Hat doch die mechanische Weltanschauung seit Newton sich allmählich der ganzen Naturauffassung bemächtigt! So bildet, wenn wir nur von den »Schranken des Naturerkennens« absehen wollen, der Materialismus heutzutage nicht nur das Resultat, sondern eigentlich schon die Voraussetzung der ganzen Naturforschung. Aber freilich, je klarer und allgemeiner dies zum Bewußtsein kommt, desto mehr verbreitet sich auch bei den Naturforschern, und je bei den bedeutendsten und tiefblickendsten zuerst, der kritische Standpunkt der Erkenntnistheorie, welcher den Materialismus im Prinzip wieder aufhebt. Es hemmt den Eroberungsgang der Naturforschung nicht im mindesten, wenn der naive Glaube an die Materie schwindet und sich hinter aller Natur eine neue unendliche Welt eröffnet, die mit der Welt der Sinne in engstem Zusammenhange steht, die vielleicht dasselbe Ding ist, nur von einer andern Seite betrachtet; die aber unserm Subjekt, unserm Ich mit allen Regungen seines Gemütes als die eigentliche Heimat seines innersten Wesens ebenso vertraut ist, als ihm die Welt der Atome und ihrer ewigen Schwingungen fremd und kalt gegenübersteht.

Der Materialismus freilich sucht die Welt der Atome auch zur eigentlichen Heimat des Geistes zu machen. Dies kann auf seine Methodik nicht ohne Einfluß bleiben. Er vertraut den Sinnen. Auch seine Metaphysik ist nach Analogie der Erfahrungswelt gebildet. Seine Atome sind kleine Körperchen. Man kann sie sich zwar nicht so klein vorstellen, wie sie sind, weil das jede menschliche Vorstellung übersteigt; man kann sie sich aber doch vergleichsweise vorstellen, als sähe und fühlte man sie. Die ganze Weltauffassung des Materialisten ist vermittelt durch die Sinnlichkeit und durch die Kategorien des Verstandes. Gerade diese Organe unsres Geistes sind aber vorwiegend sachlicher Natur. Sie geben uns Dinge, wenn auch kein Ding an sich. Die tiefere Philosophie kommt dahinter, daß diese Dinge unsre Vorstellungen sind; sie kann aber nichts daran ändern, daß gerade die Klasse derjenigen Vorstellungen, welche sich durch Verstand und Sinnlichkeit auf Dinge beziehen, die größte Beständigkeit, Sicherheit und Gesetzmäßigkeit hat, und[621] ebendeshalb auch vermutlich den strengsten Zusammenhang mit einer von ewigen Gesetzen geregelten Außenwelt.

Auch der Materialismus dichtet, indem er sich die Elemente der Erscheinungswelt vorstellt, aber er dichtet in naivster Weise nach Anleitung der Sinne. In dieser beständigen Anlehnung an diejenigen Elemente unsrer Erkenntnis, welche die geregeltste Funktion haben, besitzt er eine unerschöpfliche Quelle reiner Methodik, einen Schutz vor Irrtum und Phantasterei und einen lautern Sinn für die Sprache der Dinge.

Er leidet aber auch an einer gemütlichen Zufriedenheit mit der Erscheinungswelt, welche Sinneseindruck und Theorie zu einem unauflöslichen Ganzen verschmelzen läßt. Wie der Trieb fehlt, über die scheinbare Objektivität der Sinneserscheinungen hinauszugehen, so fehlt auch der Trieb, durch paradoxe Fragen den Dingen wieder eine ganz neue Sprache zu entlocken, und zu solchen Experimenten zu greifen, welche statt auf bloßen Aushau im einzelnen abzuzielen, vielmehr die bisherige Anschauungsweise stürzen und ganz neue Einblicke in das Gebiet der Wissenschaften herbeiführen. Der Materialismus ist mit einem Worte in den Naturwissenschaften konservativ. Wie es kommt, daß er dessenungeachtet für die wichtigsten Gebiete des Lebens unter gewissen Verhältnissen ein revolutionäres Ferment wird, wird sich später herausstellen.

Der Idealismus ist von Haus aus metaphysische Dichtung; obschon eine solche, welche uns als begeisterte Stellvertreterin höherer, unbekannter Wahrheiten erscheinen kann. Der Umstand, daß überhaupt ein dichtender, schaffender Trieb in unsre Brust gelegt ist, welcher in Philosophie, Kunst und Religion oft mit dem Zeugnis unsrer Sinne und unsres Verstandes in direkten Widerspruch tritt und dann doch Schöpfungen hervorbringen kann, welche die edelsten, gesündesten Menschen höher halten als bloße Erkenntnis: dieser Umstand schon deutet darauf hin, daß auch der Idealismus mit der unbekannten Wahrheit zusammenhängt, obschon in ganz andrer Weise als der Materialismus. Im Zeugnis der Sinne stimmen alle Menschen überein. Reine Verstandesurteile schwanken und irren nicht. Die Ideen aber sind poetische Geburten der einzelnen Person; vielleicht mächtig genug, ganze Zeiten und Völker mit ihrem Zauber zu beherrschen, aber doch niemals allgemein und noch weniger unveränderlich.

Trotzdem könnte der Idealist in den positiven Wissenschaften[622] eben so sicher gehen wie der Materialist, wenn er nur beständig daran dächte, daß die Erscheinungswelt – wie immer bloße Erscheinung – doch ein zusammenhängendes Ganze ist, in welches ohne Gefahr gänzlicher Zerrüttung keine fremden Glieder eingeschaltet werden dürfen. Der Mensch aber, der einmal sich in eine Ideenwelt versteigt, ist beständig in Gefahr, sie mit der Sinnenwelt zu verwechseln und dadurch die Erfahrung zu fälschen oder seine Dichtungen in demjenigen prosaischen Sinne für »wahr« oder »richtig« auszugeben, in welchem diese Ausdrücke nur den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes zukommen. Denn wenn wir von der sogenannten »inneren Wahrheit« der Kunst und der Religion absehen, deren Kriterium nur in der harmonischen Befriedigung des Gemütes besteht und mit wissenschaftlicher Erkenntnis ganz und gar nichts gemein hat, so dürfen wir eben nur dasjenige wahr nennen, was jedem Wesen menschlicher Organisation mit Notwendigkeit so erscheint, wie es uns erscheint, und eine solche Übereinstimmung ist nur in den Erkenntnissen der Sinne und des Verstandes zu finden.

Nun besteht aber zwischen unsern Ideen und diesen Erkenntnissen auch ein Zusammenhang: der Zusammenhang in unserm Gemüte dessen Erzeugnisse nur ihrer Meinung und Absicht nach über die Natur hinausschweifen, während sie als Gedanken und Produkte menschlicher Organisation doch ebenfalls Glieder der Erscheinungswelt sind, die wir allenthalben nach notwendigen Gesetzen zusammenhängend finden. Mit einem Worte: unsre Ideen, unsre Hirngespinste sind Produkte derselben Natur, welche unsre Sinneswahrnehmungen und Verstandesurteile hervorbringen. Sie tauchen nicht ganz zufällig, regellos und fremdartig im Geiste auf, sondern sie sind – mit Sinn und Verstand betrachtet – Produkte eines psychologischen Prozesses, in welchem unsre sinnlichen Wahrnehmungen ebenfalls ihre Rolle spielen. Die Idee unterscheidet sich vom Hirngespinst durch ihren Wert nicht durch ihren Ursprung. Was ist aber der Wert? Ein Verhältnis zum Wesen des Menschen, und zwar zu seinem vollkommenen, idealen Wesen. So mißt sich die Idee an der Idee, und die Wurzel dieser Welt geistiger Werte verläuft ebensowohl wie die Wurzel unsrer Sinnesvorstellungen in das innerste Wesen des Menschen zurück, welches sich unsrer Beobachtung entzieht. Wir können die Idee als Hirngespinst psychologisch begreifen; als geistigen Wert können wir sie nur an ähnlichen Werten messen. Den Kölner Dom vergleichen wir mit[623] andern Kathedralen, mit andern Kunstwerken; seine Steine mit andern Steinen.

Die Idee ist für den Fortschritt der Wissenschaften so unentbehrlich wie die Tatsache. Sie führt nicht notwendig zur Metaphysik, obwohl sie jedesmal die Erfahrung überschreitet. Aus den Elementen der Erfahrung unbewußt und schnell, wie das Anschießen eines Kristalls, hervorspringend, kann sie sich auf Erfahrung zurückbeziehen und ihre Bestätigung oder Verwerfung in der Erfahrung suchen. Der Verstand kann die Idee nicht machen, aber er richtet sie und er huldigt ihr. Die wissenschaftliche Idee entsteht, wie die poetische, wie die metaphysische, aus der Wechselwirkung aller Elemente des individuellen Geistes; sie nimmt aber einen andern Verlauf, indem sie sich dem Urteil der Forschung unterzieht, in welchem allein die Sinne, der Verstand und das wissenschaftliche Gewissen zu Rate sitzen. Dies Gericht fordert nicht absolute Wahrheit, sonst möchte es um den Fortschritt der Menschheit schlecht bestellt sein. Brauchbarkeit, Verträglichkeit mit dem Zeugnis der Sinne in dem durch die Idee geforderten Experiment, entschiedenes Übergewicht über die entgegenstehenden Auffassungen – das genügt schon, um der Idee das Bürgerrecht im Reiche der Wissenschaft zu geben. Die kindliche Wissenschaft verwechselt fortan Idee und Tatsache; die entwickelte, methodisch sicher gewordene bildet die Idee auf dem Wege der exakten Forschung fort zur Hypothese und endlich zur Theorie.

Auch der einseitigste Idealist wird niemals den Versuch ganz verschmähen, die Erfahrung selbst zum Zeugnis ihrer Unzulänglichkeit aufzurufen. Wenn in den Tatsachen der Sinneswelt selbst keine Spur davon aufzufinden wäre, daß die Sinne uns nur ein gefärbtes und vielleicht ganz und gar unzulängliches Bild der wahren Dinge geben, so stände es schlimm um die Überzeugung des Idealisten. Allein schon die gewöhnlichsten Sinnestäuschungen geben seiner Ansicht einen Halt. Die Entdeckung des Zahlenverhältnisses in den Tönen der Musik folgte aus einer Idee der Pythagoreer, welche dem ursprünglichen Sinnenschein zuwiderläuft; denn unser Ohr gibt uns in den Klängen nicht das mindeste Bewußtsein eines Zahlenverhältnisses. Dennoch legten die Sinne selbst Zeugnis ab für die Idee: die geteilte Saite, die verschiedenen Dimensionen metallner Hämmer wurden im Zusammenhang mit den verschiedenen Tönen sinnlich wahrgenommen. So wurde die Idee der Vibrationstheorie für das Licht, einmal verworfen, später auf das[624] Zeugnis der Sinne und des rechnenden Verstandes wieder angenommen; Interferenzerscheinungen konnte man sehen.

Hieraus ergibt sich schon, daß auch der Idealist Forscher sein kann; seine Forschung wird aber in der Regel einen revolutionären Charakter tragen, wie der Idealist auch dem Staat, dem bürgerlichen Leben, den Gewohnheitssitten gegenüber als Träger des revolutionären Gedankens bestellt ist.

Dabei ist aber nicht zu vergessen, daß es sich um ein Mehr oder Weniger handelt. Sieht man von den wenigen Trägern konsequenter Systeme ab, so gibt es im Leben so wenig Idealisten und Materialisten – als bestimmte Klassen von Individuen – wie es Phlegmatiker und Choleriker gibt. Es wäre kindisch, anzunehmen, daß kein Mann von überwiegend materialistischer Anschauung eine wissenschaftliche Idee haben könnte, welche das Überlieferte ganz und gar umstößt. Unsre Forscher haben dazu namentlich jetzt, wo der Zug der Zeit dahin geht, fast alle Idealismus genug, obwohl sie hauptsächlich dasjenige Glauben, was sie sehen und fühlen können. In der Geschichte der neueren Naturforschung vermögen wir nicht mit derselben Sicherheit wie für das Altertum die Einflüsse des Materialismus und Idealismus zu unterscheiden. Solange wir nicht sehr sorgfältig und auf den ganzen Menschen Rücksicht nehmende Biographien der bedeutendsten Führer des wissenschaftlichen Fortschritts haben, befinden wir uns auf einem schwankenden Boden. Der Druck der Kirche verhinderte meist die wahre Meinungsäußerung, und mancher edle Mann spricht bisher durch die Tatsachen seiner Entdeckungen zu uns, bei dem wir ein reiches Denken, gewaltige Kämpfe des Gemüts und einen Schatz tiefer Ideen voraussetzen dürfen.

Die meisten Naturforscher unsrer Zeit halten von Ideen, Hypothesen und Theorien sehr wenig. Liebig geht dagegen in seinem Groll gegen den Materialismus wieder zu weit, wenn er in seiner Rede über Baco den Empirismus völlig verwirft.

»Baco legt in der Forschung dem Experiment einen hohen Wert bei; er weiß aber von dessen Bedeutung nichts; er hält es für ein mechanisches Werkzeug, welches, in Bewegung gesetzt, das Werk aus sich selbst herausmacht; aber in der Naturwissenschaft ist alle Forschung deduktiv oder apriorisch, das Experiment ist nur Hilfsmittel für den Denkprozeß, ähnlich wie die Rechnung, der Gedanke muß ihm in allen Fällen und mit Notwendigkeit vorausgehen, wenn es irgendeine Bedeutung haben soll.«[625]

»Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinn existiert gar nicht. Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d.h. eine Idee vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinderklapper zur Musik.«

Starke Worte! Es steht aber in der Tat nicht ganz so schlimm um den Empirismus. Liebigs meisterhafte Analyse der Versuche Bacos, für welche ihm in der Tat Philosophen und Historiker Dank wissen müssen, hat uns freilich gezeigt, daß aus Bacos Versuchen nicht nur nichts folgte, sondern auch nichts folgen konnte. Wir finden aber dafür Gründe genug in der Gewissenlosigkeit und Leichtfertigkeit seines Verfahrens, in dem willkürlichen Ergreifen und Verlassen seiner Gegenstände, in dem Mangel an Konzentration und Ausdauer; besonders endlich auch in seinem Überfluß an methodischen Einfällen und Schleichwegen, welche den brauchbaren Teil der Methode überwuchern und der Willkür und Weichheit Ausflüchte darbieten, während sie praktisch gar nicht anzuwenden sind. Hätte Baco nur den Begriff der Induktion entwickelt und die keineswegs bedeutungslose Lehre von den negativen und den prärogativen Instanzen, so würde seine eigne Methode ihn zu größerer Stetigkeit genötigt haben. So aber erfand er sich die schwankenden und jeder Willkür Tür und Tor öffnenden Klassifikationen der instantiae migrantes, solitarae, clandestinae usw. gewiß in dem dunklen Drang, seine Lieblingsideen beweisen zu können. Daß ihn bei seinen Untersuchungen keine Idee geleitet habe, scheint uns keineswegs der Fall; vielmehr das Gegenteil. Seine Lehre von der Wärme z.B., welche Liebig so schonungslos aufdeckt, sieht ganz nach einer vorgefaßten Meinung aus.

In der Überladung seiner Beweistheorie mit unnützen Begriffen verrät Baco die Nachwirkungen der Scholastik, die er bekämpft, allein es waren nicht die Begriffsgespenster, welche ihn hinderten, mit Erfolg zu forschen, sondern es war der gänzliche Mangel derjenigen Eigenschaften, welche zur Forschung überhaupt befähigen. Baco hätte ebensowenig einen alten Autor kritisch herausgeben können, als er ein ordentliches Experiment machen konnte415.

Es ist gerade eine Eigentümlichkeit der fruchtbaren Ideen, daß sie sich in der Regel erst bei eingehender und beharrlicher Beschäftigung mit einem bestimmten Gegenstande entwickeln; eine solche Beschäftigungsweise kann aber auch ohne leitende Theorien fruchtbar sein. Kopernikus widmete sein ganzes Leben den Himmelskörpern, Sanctorius seiner Waage: der erstere hatte eine leitende[626] Theorie, die schon in frühen Jahren aus Philosophie und Beobachtung entsprang. War nicht aber auch Sanctorius ein Forscher?416[627]

406

Wir lassen hier noch folgende Stelle der ersten Auflage folgen, welche im Text einer strengeren Durchführung des Gedankenganges und dem neuen, hierher gehörigen Stoffe hat weichen müssen. Mit Rücksicht auf die Tatsache der Bildung einer besondern naturwissenschaftlichen Fakultät wurde folgendes bemerkt:

»Die alten Fakultäten bildeten sich ziemlich schnell nach dem Entstehen der Universität Paris, deren Einrichtungen für Deutschland mustergültig wurden. Sie stehen in engster Beziehung je zu einem bestimmten praktischen Lebensberuf; denn die philosophische Fakultät wurde nur durch die Ablösung der drei andern ein besondres Ganze. Sie blieb die allgemeine Fakultät gegenüber den drei speziellen; teils der gemeinsamen Vorbereitung auf die Fachstudien gewidmet, teils der freien Wissenschaft. Alle neu entstehenden Wissenschaften fielen ihr naturgemäß zu, sofern sie nicht zu einem Fachstudium in engster Beziehung standen. Wäre das ursprüngliche Bildungsprinzip der Universitäten lebendig geblieben, so hätten sich vielleicht schon mehrere neue Fakultäten genau im Sinne der bestehenden bilden können, so z.B. eine kameralistische, eine pädagogische, eine landwirtschaftliche. An sich ist nichts dagegen einzuwenden, daß nun auch einmal eine neue Fakultät nach einem neuen Prinzip gebildet wird, wir möchten nur feststellen, daß dies so ist, und uns dann das neue Prinzip etwas näher betrachten. Wir haben einen förmlichen Krieg der Fakultäten vor uns, in welchem jedenfalls die Philosophen die traurigste Rolle spielen. Die Mediziner beantragen zuerst die Errichtung der naturwissenschaftlichen Fakultät. Die Naturforscher wollen sämtlich aus den mütterlichen Armen der facultas artium scheiden. Ihre bisherigen Kollegen wollen sie nicht loslassen; ein förmlicher Emanzipationsstreit! Man begreift, daß ein dem Schulfach entsprossener Philologe sich durch die Rücksicht auf eine gewisse Einheit in der Bildung zukünftiger Lehrer zu weit führen läßt; ein wirklicher Philosoph aber sollte niemals einem tatsächlich empfundenen Bedürfnis nach solcher Trennung durch starres Festhalten bestehender Zustände entgegentreten. Er sollte sich vielmehr fragen, worin die abstoßende Kraft begründet liegt, welche die Trennung fordert; er sollte sich bemühen, durch seine eignen Leistungen sich denen, die er festhalten will, unentbehrlich zu machen. Hat eine Universität keine Männer, die in einem solchen Falle über dem Streit stehen und vor allem nach der innern Seite der Sache fragen so hat sie überhaupt keine Philosophen. Wenn Feuerbach behauptet, es sei ein spezifisches Kennzeichen eines Philosophen, kein Professor der Philosophie zu sein, so ist das eine arge Übertreibung; allein so viel ist gewiß, daß gegenwärtig ein selbständiger und freimütiger Denker nicht leicht einen öffentlichen Lehrstuhl in Deutschland erlangen wird. Man klagt über Vernachlässigung der Naturwissenschaften; man könnte über Erdrosselung der Philosophie klagen. Es ist den Tübinger Naturforschern nicht übelzunehmen, wenn sie sich von einem toten Körper loszumachen suchen; allein es muß bestritten werden, daß diese Trennung durch das Wesen der Naturforschung und der Philosophie bedingt werde.«

»Die Naturwissenschaften haben in ihrer klaren und lichtvollen Methode, in der überzeugenden Macht ihrer Experimente und Demonstrationen einen mächtigen Schutz gegen die Verfälschung ihrer Lehre durch Männer, welche dem Prinzip ihrer Forschung schnurstracks zuwider arbeiten. Und doch dürfte, wenn erst die Philosophie ganz und gar unterdrückt und beseitigt ist, auch die Zeit herankommen, in welcher in naturwissenschaftlichen Fakultäten ein Reichenbach die Odlehre vorträgt, oder ein Richter das Newtonsche Gesetz widerlegt. In der Philosophie ist der Denkfrevel leichter zu begehen und leichter zu bemänteln. Es gibt kein so sinnlich und logisch gewisses Kriterium des Gesunden und Wahren, wie in der Naturwissenschaft. Wir wollen einstweilen als Notbehelf eins vorschlagen. Wenn die Naturforscher sich freiwillig der Philosophie wieder nähern, ohne deshalb an der Strenge ihrer Methode auch nur ein Titelchen zu ändern; wenn man zu erkennen beginnt, daß alle Fakultätsunterschiede überflüssig sind; wenn die Philosophie, statt ein Extrem zu sein, vielmehr das Bindeglied zwischen den verschiedensten Wissenschaften abgibt und einen fruchtbaren Austausch der positiven Resultate vermittelt: dann wollen wir annehmen, daß sie auch ihrer Hauptaufgabe wieder zugewandt ist, dem Jahrhundert die Fackel der Kritik voranzutragen, die Strahlen der Erkenntnis in einen Brennpunkt zu sammeln und die Revolutionen der Geschichte zu fördern und zu lindern.«

»Die Vernachlässigung der Naturwissenschaften in Deutschland stammt aus derselben konservativen Tendenz wie die Unterdrückung und Verfälschung der Philosophie. Vor allen Dingen hat es an Geldmitteln gefehlt, und es wird leider noch lange dauern, bis wir in dieser Beziehung den Vorsprung Englands und Frankreichs eingeholt haben.« (Dies ist, wenigstens in Beziehung auf Frankreich, zurzeit schon nicht mehr richtig.) »Herr von Mohl sah in dem physikalischen Kabinett einer deutschen Universität ›eine Schrecken erregende Maschine, welche eine Luftpumpe vorstellen sollte. Die akademische Kommission, deren Bewilligung und Anordnung die Anschaffungen des Physikers unterlagen, hatte dekretiert, damit die Arbeit nicht einen auswärtigen Mechaniker zugewendet werde, die Luftpumpe einem Spritzenmacher in Akkord zu geben‹. Dies gibt Veranlassung, über die Bevormundung des Physikers durch seine Fakultätsgenossen zu seufzen. Ist aber ein ordentlicher Etat für solche Anschaffungen zur freien Disposition des Physikers nicht denkbar ohne Trennung der Fakultäten ? Und ist nicht auch bei dem gegenwärtigen Zustande der Dinge gerade der Philosoph, welcher die wissenschaftlichen Methoden und die Voraussetzungen ihrer Anwendung kennen muß, der natürliche Bundesgenosse des Physikers?«

»Doch nein! Da sitzt der Haken. Ein Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant würden diese Rolle spielen; die Mehrzahl unsrer gegenwärtigen Philosophie-Professoren aber – da hat Herr von Mohl recht; nur sollte er die Schuld nicht auf die Philosophie selbst, ja geradezu auf das Wesen des philosophischen Denkens schieben, wenn heutzutage ein solches Zusammenwirken nicht leicht zu erwarten ist.«

407

Büchner hat anläßlich der 12. Auflage von »Kraft und Stoff« eine »Selbstkritik« verfaßt (in der 3. Aufl. von »Natur und Wissenschaft«, Leipz. 1874), in welcher er es sich als ein Hauptverdienst anrechnet, der Philosophie auf dem Gebiete der Naturwissenschaften wieder zu ihrem Rechte verholfen zu haben. Er gibt zu, daß auch andre Umstände dazu mitgewirkt haben, aber: »Erst ›Kraft und Stoff‹ ebnete die Bahn und eröffnete den Kampf auf eine Weise, daß er die allgemeine Teilnahme der gelehrten und nicht-gelehrten Welt fand und ohne ein bestimmtes Resultat nicht wieder einschlafen konnte. In diesem Sinne kann und muß denn auch ›Kraft und Stoff‹ in der Tat ›epochemachend‹ genannt werden, und das Buch muß und wird in der Geschichte der Wissenschaften als solches erwähnt und besprochen werden, solange eine solche überhaupt existiert.« Weit eher könnte Büchner den Anspruch auf bleibende Nennung seines Namens in der allgemeinen Kulturgeschichte erheben, da er mit einem durchschlagenden Erfolge im richtigen Moment an die große Glocke hing, was viele dachten und was gewiß mancher sowohl nach der naturwissenschaftlichen als nach der philosophischen Seite besser hätte machen können. Ob auch erfolgreicher, ist eine andre Frage; denn gerade der Mangel an wissenschaftlicher Bestimmtheit und das Verweilen auf der Oberfläche der Erscheinungen war für den Erfolg sehr wesentlich. Daß Büchner seiner »Theorie« auch wissenschaftliche Bedeutung zuschreibt, ist gewiß Selbsttäuschung, da er nicht nur weder im ganzen noch im einzelnen etwas wesentlich Neues leistet, sondern auch hinter den Anforderungen der Aufgabe, ein Gesamtbild der mechanischen Weltanschauung zu entwerfen, in vielen Stücken erheblich zurückbleibt. So stellt z.B. Büchner die Lehre von der Erhaltung der Kraft in seiner Selbstkritik als eine später eingetretene bestätigende Ergänzung seines Standpunktes dar, indem er sie sehr naiv von der fünften Auflage seines Buches an datiert, während jeder allseitig gebildete Naturforscher und Philosoph diese wichtige Lehre schon im Jahre 1855, als die erste Auflage von »Kraft und Stoff« erschien, kennen mußte. Sprach doch Mayer das Gesetz schon 1842 aus; im Jahre 1847 erschien Helmholtz' Abhandlung von der Erhaltung der Kraft, und 1854 lag die populäre Abhandlung desselben Forschers »über die Wechselwirkung der Naturkräfte« schon im zweiten Abdruck vor!

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Nachträglich sei hier bemerkt, daß der viel besprochene »Ausspruch Vogts« in der Hauptsache schon bei Cabanis vorkommt. Das Gehirn macht »la sécrétion de la pensée«. Rapports du physique et du moral de l'homme, Paris 1844, p. 138. – Der Herausgeber, L. Peisse, bemerkt dazu: »Cette phrase est restée célèbre.«

409

Der Unterschied der »Geisteswissenschaften« von den »Naturwissenschaften« ist von Mill in seiner Logik scharf hervorgehoben worden. Er verlangt zwar für diese im wesentlichen die gleiche Methode der Forschung, dagegen überschätzt er (vom Standpunkte der englischen Assoziations-Psychologie) bedeutend die Quelle der subjektiven Beobachtung, auf die er hier fast allein Rücksicht nimmt, während er die Förderung dieser Wissenschaften durch Orientierung an der korrespondierenden Erscheinung (die physiologische Methode) viel zu gering anschlägt. Richtiger faßt Helmholtz den Unterschied in seinem Vortrag »über das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Gesamtheit der Wissenschaft« (Popul. Vortr. I, S. 16 u. ff.). Hier tritt der Unterschied, welcher sich aus der Verschiedenheit des Materials, der Methoden und Beweismittel ergibt, in den Vordergrund. Wenn Helmholtz dabei zugleich für den Historiker, Philologen, Juristen usw. »eine fein und reich ausgebildete Anschauung der Seelenbewegungen des Menschen« fordert, die sich wieder auf »eine gewisse Wärme des Gefühls und Interesse an der Beobachtung der Seelenzustände anderer« setzen, so ist dies zuzugeben. Es sind eben die Mittel, um die der äußeren Beobachtung unterliegenden Zeichen in Wort, Schrift, Gebärden, Spuren und Denkmälern aller Art feiner und schneller aufzufassen und richtiger zu denken. Der von Laplace fingierte Geist aber bedarf in dieser Beziehung keine ausgezeichnete, sondern nur eine mittlere menschliche Anlage, um auch in allen Geisteswissenschaften, soweit er mit seinen Gefühlen irgend nachkommen kann, die vollkommenste Einsicht zu besitzen; denn er besitzt an seiner Kenntnis der äußeren Tatsachen ein Mittel, die Grundsätze der Deutung von Zeichen zu kontrollieren und zu verbessern, und da er zugleich jede Sprache versteht (denn in seiner Weltformel sind die Umstände der Entstehung und Umwandlung aller bedeutungsvollen Laute enthalten), so weiß er auch, wie nur irgendein Menschengeist, vom begabtesten bis zum beschränktesten, die Zeichen des Geistigen deutet: Ein Dichter würde er aber freilich mit all dieser Unendlichkeit der Erkenntnis nicht werden können, wenn es nicht ohnehin in ihm läge.

410

Die bei Kirchmann, Czolbe, Spiller u. a. auftretende Forderung, daß den Qualitäten, welche seit Locke, und im Grunde schon seit Demokrit, als »sekundär« und nur subjektiv betrachtet werden, eine objektive Realität zukommen müsse, beruht zwar zunächst auf einer ungenügenden Erkenntnistheorie, und daran, daß »Rot«, »saurer Geschmack«, »Glockenklang« usw. Phänomene im Subjekt sind, ist nicht zu rütteln; allein wenn die Naturerkenntnis mir auch im Gehirn für die entsprechenden Vorgänge nur Atombewegungen gibt, während doch die Empfindungen unzweifelhaft da sind (empirische Realität haben), kann ich sehr wohl die Vermutung ableiten, daß auch in der schwingenden Saite noch etwas andres stecke, was meiner Vorstellung von den tönenden, farbigen Objektiven zwar nicht gleich ist, aber weit mehr Verwandtschaft mit ihnen hat als das undulierende Atom.

411

Spiller, Phil., Das Naturerkennen nach seinen angeblichen und wirklichen Grenzen. Berlin 1873. Auch diese Schrift ist, Du B.-R. gegenüber, reich an Mißverständnissen der im Text bezeichneten Art.

412

Zöllner, Über die Natur der Kometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntnis. 2. Aufl. Leipzig 1872, S. 320 u. ff.

413

Wir lassen hier noch einige Stellen der ersten Auflage folgen, welche sich (dort anschließend an die oben erwähnte Rede des Botanikers von Mohl) speziell mit der Forderung philosophischer Bildung für die Naturforscher beschäftigen.

»Wir verlangen von dem heutigen Naturforscher mehr philosophische Bildung; aber nicht mehr Neigung, selbst originelle Systeme zu machen. Im Gegenteil, in dieser Beziehung sind wir den Schaden der naturphilosophischen Zeit noch immer nicht los; der Materialismus ist der letzte Ausläufer einer Epoche, wo jeder Botaniker oder Physiologe auch glaubte, die Welt mit einem System beglücken zu müssen.«

»Wer hieß denn eigentlich einen Onken, Nees von Esenbeck, Steffens und andre Naturkundige philosophieren, statt forschen? Hat jemals irgendein Philosoph, selbst in der ärgsten Schwindelperiode, die exakte Forschung in vollem Ernst durch sein System ersetzen wollen? Selbst Hegel, der hochmütigste der neueren Philosophen, betrachtete sein System niemals in dem Sinne als definitiven Abschluß der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie dies nach der Auffassung, die wir bestreiten, hätte sein müssen. Er erkannte sehr wohl, daß keine Philosophie über den geistigen Gesamtinhalt ihrer Zeit hinaus gelangen kann. Freilich war er verblendet genug, die reichen philosophischen Schätze, welche die einzelnen Wissenschaften dem Denker fertig zuführen, zu verkennen und namentlich den geistigen Gehalt der exakten Wissenschaften viel zu gering anzuschlagen. Umgekehrt warfen sich die Naturforscher damals vor der Spekulation in den Staub wie vor einem Götzen. Wäre ihre eigne Wissenschaft in Deutschland besser fundiert gewesen, so würde sie den Windstürmen der Spekulationswut besser getrotzt haben.«

Weiterhin heißt es mit Beziehung auf die Behauptung von Mohls daß oft ein gegenseitiges Verständnis zwischen Naturforschung und Philosophie geradezu unmöglich werde:

»Also der Naturforscher lernt von den Dingen; der Philosoph will alles aus sich wissen, und deshalb verstehen sie sich beide nicht? Das Mißverständnis kann doch nur da sein, wo beide über dieselben Dinge sprechen und dabei Verschiedenes nach verschiedenen Methoden dartun. Dabei sind sie sich entweder klar darüber, daß sie nach verschiednen Methoden verfahren oder nicht. Wenn z.B. ein Professor der Philosophie den Ärzten ›auf naturwissenschaftlichem Wege‹ allerlei metaphysischen Hokuspokus beweisen will, so ist dieser Professor, und er ganz allein, an dem Mißverständnis schuld. Jeder wirkliche Philosoph wird einen solchen Anthropologen ebenso scharf zurückweisen wie der Naturforscher, vielleicht schärfer, weil er eben den methodischen Fehler als Kenner des beiderseitigen Verfahrens schneller durchschaut. Ein Beispiel solcher wissenschaftlichen Polizei verübte vor einigen Jahren Lotze in seiner Streitschrift (1857) gegen die Anthropologie des jüngeren Fichte. Er beging nur dabei den Fehler, daß er diesem, nachdem er ihn wissenschaftlich ganz und gar beseitigt hatte, einen Händedruck und gegenseitige Geschenke nach der Art der homerischen Helden vorschlug. Die homerischen Helden schenkten dem nichts mehr, den sie erlegt hatten!«

»Ganz ebenso kann es gehen, wenn ein Naturforscher denselben Fehler macht, d.h. wenn er seine metaphysischen Grillen unter der Form von Tatsachen an den Mann bringen will. Nur wird in diesem Falle oft gerade der strengere Naturforscher die prompteste Polizei üben, weil er die Entstehungsgeschichte der angeblichen Tatsachen am genauesten kennt. Dies ist bekanntlich gerade unsern Materialisten bisweilen widerfahren.«

»Wenn aber Philosoph und Naturforscher sich ihrer verschiedenen Methoden bewußt sind, d.h. wenn der erste spekulativ verfährt, der letztere empirisch, so ist in ihren Lehren deshalb kein Widerspruch, weil nur der letztere von einem verstandesmäßig zu erkennenden Objekt der Erfahrung spricht, während der erstere einem Bedürfnis des Gemütes, einem schaffenden Naturtrieb zu genügen sucht. Wenn z.B. ein Hegelianer die Empfindung erklärt, als ›das wo die ganze Natur als ein dumpfes Weben des Geistes in sich erscheint‹, und der Physiologe nennt sie ›die Reaktion des Nervenprozesses auf das Gehirn‹ oder ›auf das Bewußtsein‹, so liegt darin durchaus kein Anlaß für beide, sich ergrimmt den Rücken zu kehren. Der Philosoph muß den Physiologen verstehen; für diesen aber ist es Geschmackssache oder wenn man will Bedürfnisfrage, ob er dem Metaphysiker noch länger zuhören will.«

»Wenn wir vom Naturforscher höhere philosophische Bildung verlangen, so ist es auch durchaus nicht die Spekulation, die wir ihm so dringend anempfehlen möchten, sondern die philosophische Kritik, die ihm gerade deswegen unentbehrlich ist, weil er selbst doch niemals in seinem eignen Denken, trotz aller Exaktheit der Spezialforschung, die metaphysische Spekulation ganz wird unterdrücken können. Eben um seine eignen transzendenten Ideen richtiger als solche zu erkennen und sie sicherer von dem zu unterscheiden, was die Empirie gibt, bedarf er der Kritik der Begriffe.«

»Wenn nun der Philosophie hierin ein gewisses Richteramt zugesprochen wird, so ist das auch keine Anmaßung einer Bevormundung. Denn abgesehen davon, daß jeder in diesem Sinne Philosoph sein kann, welcher die allgemeinen Denkgesetze zu hand haben versteht, so bezieht sich auch der Richterspruch nie auf das eigentlich Empirische, sondern auf die mit untergelaufene Metaphysik oder auf die rein logische Seite der Schlußfolgerung und Begriffsbildung. Was soll daher der Vergleich des Verhältnisses der Naturwissenschaften zur Philosophie mit der Stellung der Philosophie zum Dogma der Theologen? Soll damit wieder das Bedürfnis einer Emanzipation angedeutet werden, so haben wir einen starken Anachronismus vor uns. Die Philosophie hat nicht mehr ihre Freiheit von theologischen Dogmen erst zu verlangen. Das ist durchaus selbstverständlich, daß sie sich nach diesen in keiner Weise zu richten hat. Sie wird aber umgekehrt jederzeit das Recht in Anspruch nehmen, diese Dogmen dennoch zu berücksichtigen, und zwar als Objekte ihrer Forschung. Das Dogma ist dem Philosophen kein naturwissenschaftlicher Lehrsatz, sondern der Ausdruck der Glaubensrichtung und der spekulativen Tätigkeit einer geschichtlichen Periode. Er muß das Entstehen und Vergehen der Dogmen im Zusammenhang mit der kulturgeschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu begreifen suchen, wenn er seine Aufgabe auf diesem Gebiete lösen will.«

»Die exakte Forschung vollends muß für jeden Philosophen das tägliche Brot sein. Mag der Stolz des Empirikers es vorziehen, sich auf ein Feld für sich zurückzuziehen: er wird den Philosophen doch niemals hindern können, ihm zu folgen. Es ist keine Philosophie auf dem Standpunkt der Gegenwart mehr denkbar ohne die exakte Forschung, und ebenso bedarf die exakte Forschung der beständigen Läuterung durch die philosophische Kritik. Es ist kein Dilettantismus, wenn der Philosoph sich mit den wichtigsten Resultaten und den Forschungsmethoden sämtlicher Naturwissenschaften bekannt macht; denn dies Studium ist die notwendige Basis aller seiner Operationen. So ist es auch kein Dilettantismus, wenn der Naturforscher sich eine bestimmte, geschichtlich und kritisch begründete Ansicht über den Denkprozeß der Menschheit verschafft, an den er doch trotz aller scheinbaren Objektivität seiner Untersuchungen und Folgerungen unauflöslich geknüpft ist. Gerade das aber möchten wir verwerflichen Dilettantismus nennen – ohne übrigens zu leugnen, daß bevorzugte Geister beide Gebiete wirklich umfassen mögen, – wenn der Philosoph nach Bacos Weise mit ungeschultem Sinn und ungeübter Hand in Experimenten herumpfuscht, und wenn der Naturforscher, ohne sich darum zu bekümmern, was vor ihm gedacht und gesagt ist, mit willkürlicher Behandlung der überlieferten Begriffe sich selbst ein metaphysisches System zusammenwürfelt.«

»Nicht minder wahr ist es aber, daß Philosoph und Naturforscher direkt fördernd aufeinander einwirken können, wenn sie sich auf den Boden begeben, der beiden gemeinsam ist und bleiben muß: die Kritik des Materials der exakten Forschung in Beziehung auf die möglichen Folgerungen. Vorausgesetzt, daß man sich wirklich beiderseits einer strengen und nüchternen Logik bedient, werden die erblichen Vorurteile dadurch in ein wirksames Kreuzfeuer gebracht, und damit ist beiden Teilen gedient.«

»Was soll nun die Theorie des gegenseitigen Gehenlassens wegen gänzlicher Unmöglichkeit der Verständigung? Es will uns bedünken, als sei gerade in diesem Prinzip die höchste Einseitigkeit des Materialismus ausgesprochen. Die Folgen einer allgemeinen Anwendung dieses Prinzipes würden sein, daß alles in egoistische Zirkel zerfällt. Die Philosophie unterliegt vollends dem Zunftgeist der Fakultäten. Die Religion – und auch dies gehört zum ethischen Materialismus – stützt sich in Gestalt krasser Orthodoxie auf den Grundbesitz und die politischen Rechte der Kirche; die Industrie jagt seelenlos dem momentanen Unternehmergewinn nach; die Wissenschaft wird zum Schiboleth einer exklusiven Gesellschaft; der Staat neigt zum Cäsarismus.«

414

Nach den Regeln der Astrologie regiert den siebenten Monat der zweideutige Mond, den achten der verderbenbringende Saturn, den neunten Jupiter, der Stern des Glücks und der Vollendung. Infolgedessen sah man die unter dem Einflusse des Saturn erfolgte Geburt für weit schwerer bedroht an, als eine unter dem Einflusse des Mondes stehende.

415

Über Bacos wissenschaftlichen und persönlichen Charakter vgl. I. S. 203 ff und S. 228 f, Anm. 60.

416

In der 1. Aufl. folgte hier noch eine für den Zweck des Werkes wohl zu sehr ins einzelne gehende methodologische Erörterung, aus welcher wir jedoch nachstehenden Punkt, dessen Interesse uns noch keineswegs erloschen scheint, hier folgen lassen:

»Vielleicht sind wir berechtigt, einen eigentümlichen Zug der neueren Naturforschung als materialistisch zu bezeichnen, welcher gerade in der Opposition gegen die Strenge der exakten Forschung besteht, freilich nicht einer Opposition, welche sich auf den Libertinismus der Idee stützt, sondern in einer solchen, welche aus Überschätzung der unmittelbaren sinnlichen Überzeugung hervorgeht.«

Um hier nicht in vage Allgemeinheiten zu geraten, wollen wir unsre Betrachtungen an das merkwürdige Beispiel dieser Opposition anknüpfen, welches in den letzten Jahren in Deutschland vorgekommen ist. Es ist die Reaktion einiger Physiologen gegen eine Abhandlung des Mathematikers Radicke über die Bedeutung und den Wert arithmetischer Mittel. Radicke veröffentlichte im Jahre 1858 im Archiv für phys. Heilkunde eine ausführliche Arbeit, deren Zweck darin bestand, das übermäßig wuchernde Material physiologisch-chemischer Entdeckungen einer kritischen Sichtung zu unterwerfen. Er bediente sich dabei eines ebenso sinnreichen und selbständigen als korrekten Verfahrens, um das Verhältnis des arithmetischen Mittels aus den Versuchsreihen zu den Abweichungen der einzelnen Versuche von diesem Mittel logisch zu verwerten. Dabei ergab sich denn in der Anwendung der entwickelten Grundsätze auf viele bisher sehr geschätzte Untersuchungen, daß die Versuchsreihen dieser Untersuchungen überhaupt kein wissenschaftliches Resultat ergaben, weil die einzelnen Beobachtungen zu große Verschiedenheiten zeigten, um das arithmetische Mittel mit genügender Wahrscheinlichkeit als Produkt des zu untersuchenden Einflusses erscheinen zu lassen. Gegen diese höchst verdienstvolle und von mathematischer Seite durchaus nicht angefochtene Arbeit erhob sich nun Widerspruch von seiten einiger namhafter Mediziner, und dieser Widerspruch förderte eben diese seltsamen Urteile zutage, die wir hier glauben erwähnen zu müssen. Vierordt nämlich bemerkte zu der Abhandlung, die er im allgemeinen wohl billigte, »daß es außer der rein formalen, mit einer gewissen mathematischen Schärfe beweisenden Logik des Wahrscheinlichkeitskalküls in vielen Fällen noch eine Logik der Tatsachen selbst gibt, die, in rechter Weise angewandt, einen kleineren, oder selbst sehr großen Grad von Beweiskraft für den Mann von Fach besitzt.« Der bestechende, aber doch im Grunde höchst unglücklich gewählte Ausdruck »Logik der Tatsachen« fand bei manchen Anklang, denen die schneidende Schärfe der mathematischen Methode unbequem sein mochte; er wurde jedoch von Prof. Ueberweg, einem Logiker von eminenter Befähigung zur Untersuchung solcher Fragen (Archiv für pathol. Anat. XVI.), auf ein sehr bescheidenes Maß der Berechtigung zurückgeführt. Ueberweg zeigte überzeugend, daß das, was man etwa als »Logik der Tatsachen« bezeichnen könne, in vielen Fällen als Vorstufe der strengeren Untersuchung einen Wert haben möge, »etwa so, wie die Abschätzung nach dem Augenmaß, solange noch die mathematisch strenge Messung unmöglich ist; daß aber nach richtiger Durchführung der Rechnung von einem durch die Logik der Tatsachen ermittelten abweichenden Resultat nicht mehr die Rede sein könne. In der Tat ist jenes unmittelbare Bewußtsein, welches der Fachmann während der Versuche erhält, gerade so gut dem Irrtum ausgesetzt, wie jede beliebige Bildung eines Vorurteils. Wir haben weder Veranlassung zu bezweifeln, daß sich während des Experimentierens solche Überzeugungen bilden; noch anzunehmen, daß ihnen mehr Wert zuzuschreiben ist als der Bildung von Überzeugungen auf nicht wissenschaftlichem Wege überhaupt. Das wahrhaft Beweisende in den exakten Wissenschaften ist eben nicht der materiale Vorgang, das Experiment in seiner unmittelbaren Einwirkung auf die Sinne, sondern die ideelle Zusammenfassung der Resultate. Es besteht aber unleugbar unter vielen Forschern, und besonders bei den Physiologen, die Neigung, das Experiment selbst, nicht seine logisch-mathematische Deutung als das wesentliche der Forschung zu betrachten. Daraus ergibt sich denn leicht der Rückfall in die größte Willkür von Theorien und Hypothesen: denn die materialistische Idee eines ungestörten Verkehrs zwischen den Gegenständen und unsern Sinnen widerspricht der menschlichen Natur, die allenthalben, selbst in die scheinbar unmittelbarste Tätigkeit der Sinne, die Wirkungen des Vorurteils einzuschieben weiß. Daß diese eliminiert werden, ist ja gerade das große Geheimnis aller Methodik in den exakten Wissenschaften, und es ist dabei völlig gleichgültig, ob es sich um Fälle handelt, in welchen man mit Durchschnittswerten arbeitet, oder um solche, in welchen schon der einzelne Versuch von Bedeutung ist. Der Durchschnittswert dient ja zunächst nur, um die objektiven Schwankungen zu eliminieren; damit nun aber auch die subjektiven Fehler vermieden werden, ist die allererste Vorbedingung die, daß für den Mittelwert selbst der wahrscheinliche Fehler bestimmt werde, welcher eben genau den Spielraum ungerechrfertigter Deutungen bezeichnet. Erst wenn der wahrscheinliche Fehler klein genug ist, um ein Resultat überhaupt als zulässig zu erachten, steht die Beobachtungsreihe als Ganzes auf demselben logischen Boden, wie ein einzelnes Experiment auf Gebieten, für welche die Eliminierung objektiver Schwankungen durch einen sichern Mittelwert der Natur der Sache nach nicht erforderlich ist. Wenn z.B. Zweck eines Experimentes ist, das Verhalten eines neu entdeckten Metalls zum Magneten zu prüfen, so wird bei Anwendung aller üblichen Vorsichtsmaßregeln und guter Apparate schon das einzelne Experiment beweisen, indem die Erscheinung, um welche es sich handelt, leicht wiederholt werden kann, ohne daß die kleinen Ungleichheiten in der Stärke der Wirkung, die immer vorhanden sein werden, einen Einfluß auf den Satz ausüben, den man beweisen will.«

»Hiernach ist denn auch die etwas behutsamere Polemik zu beurteilen welche Voit in seinen ›Untersuchungen über den Einfluß des Kochsalzes, des Kaffees und der Muskelbewegungen‹ (München 1860) gegen Radicke geführt hat. Er findet nämlich bei seinen eignen Untersuchungen oft Ungleichheiten der einzelnen Beobachtungswerte, welche nicht als zufällige Schwankungen, sondern vielmehr als durch die Natur des Organismus bedingte und mit Regelmäßigkeit eintretende Ungleichheiten zu betrachten seien; indem z.B. der dem Experiment unterworfene Hund bei ganz derselben Fleischnahrung erst eine geringere und dann eine größere Menge Harnstoff ausscheidet, und umgekehrt beim Fasten. Wo aber die Vermutung solcher in der Natur der Sache liegenden Ungleichheiten vorliegt, da ist es so durchaus selbstverständlich, daß man nicht mit Mittelwerten operiert, daß es schwer zu begreifen ist, wie dieser Fall überhaupt gegen Radicke angewandt werden konnte. Ob aber nun, wie Voit beansprucht, in diesem Falle jedem einzelnen Versuch der Wert eines Experimentes beizulegen ist, hängt durchaus, wie bei jedem Experiment, von seiner Wiederholbarkeit unter gleichen Umständen ab. Bei der Wiederholung muß sich dann auch erst zeigen, ob das, was bewiesen werden soll, bei jedem einzelnen Versuch klar genug sich darstellt, oder ob eine ganz anders kombinierte Versuchsreihe anzustellen ist, aus welcher die Mittelwerte zu ziehen sind.«

»Wenn nämlich bei der ersten Versuchsreihe sich die Werte a, b, c, d,... ergeben, welche statt bloßer Schwankungen vielmehr einen bestimmten Fortschritt zeigen, so ist, um diesen zu konstatieren, ein zweiter Versuch erforderlich, welcher die Werte a1, b1, c1, d1,... ergeben mag. Zeigt sich dann der Fortschritt deutlicher wieder, und will man weiter nichts, als ihn ganz im allgemeinen konstatieren, so mag es sein Bewenden haben. Will man aber numerisch genaue Resultate, und die Übereinstimmung ist nicht vollständig, so bleibt nichts übrig, als mit einer dritten Reihe a2, b2, c2, d2... fortzufahren, und so weiter bis an, bn, cn, dn,... wo dann sich von selbst ergibt, daß nun die Werte a1, a2, a3,.... a, und hinwieder b1, b2, b3,... b zu kombinieren sind. Auf diese Kombinationen wird dann aber die ganze Strenge der von Radicke aufgestellten Methode Anwendung erleiden müssen.«

Quelle:
Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Frankfurt am Main 1974, S. 585-628.
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