Zweites Kapitel.
Es giebt keine angebornen Grundsätze in der Seele

[35] § 1. (Der Weg, wie wir zu unsern Kenntnissen gelangen, und dass sie nicht angeboren sind, wird gezeigt.) Für Manche ist es eine ausgemachte Sache, dass in dem Verstände angeborne Grundsätze bestehen oder gewisse Urbegriffe, koinai ennoiai, gleichsam der menschlichen Seele eingeprägte Schriftzeichen, welche sie bei ihrem ersten Entstehen erhält und mit auf die Welt bringt. Für unbefangene Leser würfle es genügen, um sie von der Unrichtigkeit dieser Annahme zu überzeugen, wenn ich blos zeigte (wie es hoffentlich in den folgenden Abschnitten dieser Abhandlung geschehen wird), dass die Menschen lediglich durch den Gebrauch ihrer natürlichen Vermögen, ohne Hülfe von angebornen Eindrücken, all die Kenntniss erlangen, die sie besitzen, und wie sie ohne solche Urbegriffe oder Grundsätze zur Gewissheit gelangen. Jedermann wird hoffentlich anerkennen, dass es unverschämt wäre, wenn man bei einem Geschöpf die Vorstellungen der Farben für angeboren annehmen wollte, welchem der Schöpfer das Gesicht und die Macht gegeben hat, die Farben durch die Augen von äussern Gegenständen aufzunehmen; ebenso unbegründet würde es sein, wenn man gewisse Wahrheiten von natürlichen Eindrücken und angebornen Schrift-Zeichen ableiten wollte, da Fähigkeiten in uns angetroffen werden, die ebenso geeignet sind, diese Erkenntniss leicht und sicher zu erwerben, als wenn sie dem Menschen angeboren wäre.

Da indess bei der Aufsuchung der Wahrheit Niemand, ohne getadelt zu werden, seinen eignen Gedanken folgen kann, sobald sie ihn auch nur ein wenig von der grossen Heerstrasse abführen, so führe ich die Gründe an, die[35] mich an der Wahrheit dieser angebornen Grundsätze haben zweifeln lassen; sie mögen mich zugleich entschuldigen, wenn ich irren sollte. Ich überlasse die Prüfung dieser Gründe Denen, welche mit mir die Wahrheit überall, wo sie sie finden, aufzunehmen bereit sind.

§ 2. (Die allgemeine Zustimmung ist der Hauptgrund für die angebornen Grundsätze.) Nichts hält man für unzweifelhafter, als dass gewisse Grundsätze, sowohl theoretische wie praktische (denn von beiden wird gesprochen), von Jedermann anerkannt werden; deshalb, schliesst man, müssen sie bleibende Eindrücke sein, welche die menschliche Seele bei ihrem ersten Entstehen empfangen und mit sich ebenso nothwendig und wirklich auf die Welt gebracht hat, wie die ihr einwohnenden Vermögen.

§ 3. (Die allgemeine Zustimmung beweist nichts für das Angeborensein.) Dieser der allgemeinen Uebereinstimmung entnommene Grund hat indess den Uebelstand an sich, dass, wenn es thatsächlich richtig wäre, dass alle Menschen in gewissen Wahrheiten übereinstimmten, er nicht deren Eingeborensein bewiese, sofern noch ein anderer Weg aufgezeigt werden kann, auf dem die Menschen in den Diagen, wo sie übereinstimmen, zu dieser allgemeinen Zustimmung kommen; und dieser Weg dürfte sich zeigen lassen.

§ 4. (Die Sätze der Dieselbigkeit und des Widerspruchs sind nicht allgemein anerkannt.) Aber schlimmer ist es, dass dieser von der allgemeinen Zustimmung entlehnte Grund, um die eingebornen Grundsätze zu beweisen, mir eher zu beweisen scheint, dass es deren keine giebt, denen alle Menschen zustimmen. Ich beginne mit den theoretischen und nehme als Beispiel jene gerühmten Grundsätze des Beweisens: »Was ist, das ist«, und: »Es ist für ein und dasselbe Ding unmöglich, zu sein und nicht-zu-sein«, die, glaube ich, noch am meisten von allen als angeborne gelten könnten. Ihr Ansehen, als allgemein anerkannte Grundsätze, steht so fest, dass es sonderbar erscheinen würde, wenn Jemand sie bezweifeln wollte. Dennoch sind diese Grundsätze so fern von der allgemeinen Zustimmung, dass ein grosser Theil der Menschen sie nicht einmal kennt.[36]

§ 5. (Auch sind sie nicht von Natur der Seele eingeprägt, da Kinder, Dumme und Andere sie nicht kennen.) Denn erstens ist klar, dass Kinder und dumme Menschen nicht die leiseste Vorstellung oder einen Begriff davon haben; dieser Mangel genügt, um jene allgemeine Zustimmung aufzuheben, welche nothwendig alle angebornen Wahrheiten begleiten müsste. Es scheint mir ein Widerspruch, dass der Seele Wahrheiten eingedrückt seien, die sie nicht bemerkt oder nicht versteht; denn dieses »Eingedrückte« kann, wenn es überhaupt Etwas bedeuten soll, nur bewirken, dass gewisse Wahrheiten gewusst werden, und ich kann nicht Verstehen, wie Etwas der Seele eingeprägt sein könnte, ohne dass sie es bemerkte. Wenn daher. Kinder und dumme Menschen eine Seele oder einen Verstand mit solchen Einprägungen haben, so müssen sie sie auffassen, sie kennen und diesen Wahrheiten beistimmen, und da sie dies nicht thun, kann es solche Eindrücke nicht geben. Denn wenn sie keine von Natur eingeprägten Begriffe sind, wie können sie da angeboren sein? und wenn diese Begriffe eingeprägt sind, wie können sie da nicht gewusst werden? Sagt man: ein Begriff sei der Seele eingeprägt, und zugleich: die Seele kenne ihn nicht und habe ihn nie bemerkt, so macht man diese Einprägung zunichte. Kein Satz kann in der Seele bestehen, den sie niemals gekannt hat und dessen sie sich niemals bewusst gewesen ist. Wäre dies bei einem möglich, so könnte man aus demselben Grunde sagen, dass alle Sätze, die wahr sind und denen überhaupt die Seele zustimmen kann, in der Seele bestehen und ihr eingeprägt seien. Wenn man von einem sagen kann, er sei in der Seele, obgleich sie ihn nie gewusst hat, so kann es nur deshalb geschehen, weil die Seele fähig ist, ihn kennen zu lernen, und dann gilt dies für alle Wahrheiten, die sie je erfassen wird; ja es sind dann auch jene Wahrheiten der Seele eingeprägt, welche sie niemals gekannt hat, noch kennen wird, da ein Mensch lange leben kann und doch, wenn er stirbt, viele Wahrheiten nicht kennen kann, zu deren Kenntniss und zwar sicherer Kenntniss seine Seele die Fähigkeit hatte. Soll also diese behauptete natürliche Einprägung nur die Fähigkeit zum Wissen bezeichnen, so werden alle Wahrheiten, die Jemand allmählich kennen lernt, zu[37] den angebornen gehören und diese grosse Frage sinkt dann zu einer blossen unpassenden Redeweise herab, die, während sie das Gegentheil scheinbar behauptet, doch nur dasselbe sagt wie die, welche die angebornen Grundsätze bestreiten; denn Niemand hat wohl je geleugnet, dass die Seele zur Erkenntniss gewisser Wahrheiten fähig ist. Sagt man, die Fähigkeit ist angeboren, die Kenntniss erworben, wozu dann dieser Kampf für gewisse angeborne Grundsätze? Können Wahrheiten dem Verstand eingeprägt sein, ohne dass er sie bemerkt, so finde ich in Bezug auf ihren Ursprung keinen Unterschied gegen Wahrheiten, die die Seele fähig ist zu erkennen; entweder müssen alle angeboren oder alle erworben sein, und man sucht dann vergeblich nach einem Unterschied zwischen denselben. Wenn daher Jemand von der Seele angebornen Begriffen spricht (sofern er dabei eine bestimmte Art von Wahrheiten meint), so kann er darunter nicht solche Wahrheiten verstehen, die der Verstand nie aufgefasst hat und die er gar nicht kennt. Denn wenn die Worte: »in dem Verstande sein« überhaupt etwas bedeuten, so ist es, dass sie vom Verstande erfasst sind. Mithin wollen Ausdrücke, wie: »In dem Verstand sein, aber nicht verstanden sein«, »In der Seele sein und nie bemerkt sein«, ebenso so viel sagen, als: Etwas ist und ist nicht in der Seele, oder in dem Verstande. Wenn daher jene Sätze: »Was ist, das ist«, und: »dasselbe Ding kann sein und nicht sein«, von Natur eingeprägt sind, so müssen die Kinder sie kennen; Kinder und Jeder, der eine Seele hat, müssen sie dann in ihrem Verstande haben, ihre Wahrheit kennen und ihr zustimmen.

§ 6. (Auf den Einwand wird geantwortet, dass die Menschen die Grundsätze kennen, wenn sie zum Gebrauch ihrer Vernunft kommen.) Um dem zu entgehen, sagt man gewöhnlich, dass alle Menschen sie kennen und ihnen zustimmen, wenn sie zu dem Gebrauche ihrer Vernunft kommen, und dies genüge für den Beweis, dass sie angeboren seien. Ich antworte:

§ 7. Schwankende Ausdrücke, die kaum Etwas bedeuten, gelten bei Denen für klare Gründe, die in ihrer Voreingenommenheit sich nicht die Mühe nehmen, ihre eigenen Worte zu prüfen; denn soll diese Erwiderung auf unsere Frage irgend passen, so muss sie eins von den[38] beiden sagen: entweder, dass diese angeblichen natürlichen Eindrücke, sobald die Menschen zum Gebrauch ihrer Vernunft kommen, von ihnen gewusst und bemerkt werden; oder: dass der Gebrauch und die Hebung der Vernunft dem Menschen diese Grundsätze entdecken hilft und ihm die gewisse Kenntniss derselben gewährt.

§ 8. (Selbst wenn man sie durch die Vernunft entdeckt, so beweist dies nicht ihr Angeborensein). Sollen diese Grundsätze nur durch den Gebrauch der Vernunft entdeckt werden und dies zum Beweis genügen, dass sie angeboren seien, so hiesse dies so viel, als dass jedwede Wahrheit, die die Vernunft sicher entdecken kann und der sie zustimmt, von Natur der Seele eingeprägt sei; weil dann die allgemeine Zustimmung, die dass Kennzeichen sein soll, nur sagt, dass durch den Gebrauch der Vernunft man fähig wird, gewisse Kenntnisse zu gewinnen und ihnen zuzustimmen. Dann ist aber kein. Unterschied mehr zwischen den Grundsätzen (Axiomen) der Mathematiker und den Lehrsätzen, die sie daraus ableiten; sie sind dann alle gleich angeboren, weil sie alle durch den Gebrauch des Verstandes entdeckt werden und Wahrheiten sind, die ein vernünftiges Geschöpf erlangen kann, wenn es sein Denken in rechter Weise gebraucht.

§ 9. (Die Vernunft entdeckt sie nicht). Wie können aber Jene annehmen, dass der Gebrauch der Vernunft zur Entdeckung von angeblich angebornen Grundsätzen nöthig sei, wenn die Vernunft (sofern man ihnen glaubt) nur das Vermögen ist, was unbekannte Wahrheiten aus bereits bekannten Grundsätzen oder Lehrsätzen ableitet? Das, was man erst durch die Vernunft entdecken muss, kann sicherlich niemals für angeboren gelten, wenn man nicht, wie gesagt, alle von der Vernunft uns gelehrte sichere Wahrheiten zu angebornen machen will. Man kann dann auch ebenso den Gebrauch der Vernunft für nothwendig halten, damit die Augen die sichtbaren Dinge wahrnehmen, und dass die Vernunft oder ihr Gebrauch nöthig ist, damit der Verstand das sehe, was ihm ursprünglich eingeprägt ist, und was nicht in dem Verstande sein kann, bevor er es wahrgenommen hat. Lässt man die Vernunft diese so eingeprägten Wahrheiten entdecken, so heisst das so viel, als der Gebrauch der Vernunft entdeckt, was sie schon vorher wusste. Haben aber die[39] Menschen diese angebornen und eingeprägten Wahrheiten ursprünglich und vor dem Gebrauch ihrer Vernunft und kennen sie sie doch nicht eher, als bis sie zu dem Gebrauch ihrer Vernunft gelangen, so sagt man in Wahrheit damit, dass die Menschen sie kennen und zugleich nicht kennen.

§ 10. Man entgegnet hier vielleicht, dass mathematischen Beweisen und andern nicht angebornen Wahrheiten nicht gleich bei ihrer Aufstellung zugestimmt werde, und dass sie sich darin von den Grundsätzen und angebornen Wahrheiten unterscheiden. Ich werde später über die bei der ersten Aufstellung eines Satzes erfolgende Zustimmung ausführlicher sprechen; will indess hier gern einräumen, dass diese Grundsätze sich von den mathematischen Beweisen unterscheiden, dass letztere der Gründe und der Beweise bedürfen, um sie als ausgemacht anzunehmen und ihnen zuzustimmen, während die ersten sofort, wenn sie verstanden sind, ohne alle Begründung angenommen werden, und ihnen zugestimmt wird. Allein damit wird gerade die Schwäche dieser Ausflucht dargelegt, wonach der Gebrauch der Vernunft für die Entdeckung dieser allgemeinen Wahrheiten verlangt wird, obgleich man doch einräumen muss, dass zu deren Entdeckung von der Vernunft gar kein Gebrauch gemacht wird; und ich denke, die, welche so antworten, werden nicht gern behaupten, dass die Kenntniss des Grundsatzes: »Ein Ding kann nicht sein und nicht-sein«, aus unserer Vernunft erst abgeleitet sei; denn dies würde jene ihnen so liebe Freigebigkeit der Natur aufheben, wenn die Kenntniss dieser Grundsätze von der Arbeit unseres Denkens abhängig wäre; denn alles Begründen ist ein Suchen und Umherblicken, was Mühe und Ausdauer verlangt. Wie kann man ferner verständiger Weise annehmen, dass das, was die Natur als Grundlage und Führerin der Vernunft eingeprägt haben soll, nur mittelst des Gebrauches der Vernunft gefunden werden könne?

§ 11. Jeder, der sich die Mühe nimmt, auf die Thätigkeit des Verstandes ein wenig zu achten, wird finden, dass, wenn die Seele gewissen Wahrheiten sofort zustimmt, dies weder auf einer natürlichen Einprägung, noch auf dem Gebrauch der Vernunft, sondern auf einem Seelenvermögen beruht, was, wie wir später sehen werden,[40] von beiden sehr verschieden ist. Die Vernunft hat daher bei der Herbeiführung unserer Zustimmung zu diesen Wahrheiten nichts zu thun. Wenn also mit den Worten, dass, nachdem man zu dem Gebrauche der Vernunft gelangt sei, man diese Wahrheiten erkenne und ihnen zustimme, gemeint ist, dass der Gebrauch der Vernunft uns bei der Erkenntniss dieser Grundsätze beistehe, so ist dies durchaus falsch; wäre es aber auch wahr, so würde es vielmehr beweisen, dass diese Grundsätze uns nicht angeboren sind.

§ 12. (Die Zeit, wo man zur Vernunft kommt, ist nicht die, wo man zur Kenntniss dieser Sätze kommt.) Wenn aber mit den Worten: dass wir diese Grundsätze erkennen, wenn wir zu dem Gebrauch der Vernunft gelangt sind, gemeint ist, dass dies die Zeit sei, wo die Seele von ihnen Kenntniss nimmt, und dass, sobald Kinder zu dem Gebrauch ihrer Vernunft kommen, sie auch zur Erkenntniss und Zustimmung zu diesen Grundsätzen kommen, so ist auch dies falsch und eine leichtfertige Behauptung. Erstlich ist es falsch; denn diese Grundsätze sind nicht so zeitig in der Seele, wie der Gebrauch der Vernunft, und deshalb wird die Zeit, wo man zu dem Gebrauch der Vernunft kommt, fälschlich als die Zeit ihrer Entdeckung bezeichnet. Man kann gar viele Fälle von Vernunftgebrauch bei den Kindern bemerken, lange bevor sie eine Kenntniss von dem Grundsatze haben, dass es für dasselbe Ding unmöglich ist, zu sein und nicht zu sein, und ein grosser Theil der Ungebildeten und Wilden leben selbst viele Jahre ihres vernünftigen Alters, ohne je an diese oder ähnliche allgemeine Sätze zu denken. Ich gebe zu, dass die Menschen nicht eher zur Erkenntniss dieser allgemeinen und abgetrennten Wahrheiten, die man für angeboren hält, kommen, als bis sie den Gebrauch ihrer Vernunft erlangt haben; aber ich setze hinzu: auch dann nicht und zwar, weil wenn die Menschen zu dem Gebrauch ihrer Vernunft gelangt sind, diese allgemeinen höheren Begriffe, auf welche diese allgemeinen angeblich angeborenen Grundsätze sich beziehen, in der Seele nicht gebildet sind; vielmehr werden diese Sätze entdeckt und als Wahrheiten der Seele auf demselben Wege zugeführt und durch dieselben Schritte aufgefunden, wie viele andere Sätze, von[41] denen es noch Niemand eingefallen ist, sie für angeboren zu erklären. Ich hoffe dies in dem Fortgange dieser Untersuchung darlegen zu können, und ich gebe deshalb zu, dass die Menschen nothwendig den Gebrauch ihrer Vernunft erlangt haben müssen, ehe sie die Erkenntniss dieser allgemeinen Wahrheiten erlangen; aber ich bestreite, dass die Zeit, wo man den Gebrauch der Vernunft erlangt, die Zeit ihrer Entdeckung ist.

§ 13. (Deshalb unterscheiden sie sich dadurch nicht von andern auffindbaren Wahrheiten.) Zugleich erhellt, dass, wenn man sagt, die Menschen erkennen und nehmen diese Grundsätze an, wenn sie den Gebrauch ihrer Vernunft erlangt haben, man in Wahrheit nur sagt, dass diese Grundsätze vor dem Gebrauche der Vernunft niemals gekannt, noch bemerkt werden, aber dass man ihnen möglicherweise später im Leben zustimmt; wobei die Zeit, wenn dies geschieht, ungewiss bleibt. Ebenso verhält es sich aber auch mit allen andern erkennbaren Wahrheiten; daher haben jene keinen Vorzug und keine Auszeichnung vor diesen, deshalb weil sie angeblich erkannt werden, wenn man zu dem Gebrauche des Verstandes kommt. Es kann daher damit auch nicht bewiesen werden, dass sie angeboren sind; vielmehr folgt das Gegentheil daraus.

§ 14. (Selbst wenn sie zur Zeit, wo man zum Gebrauche seiner Vernunft kommt, entdeckt würden, bewiese dies nicht, dass sie angeboren seien.) Aber zweitens würde der Umstand, dass diese Sätze erkannt und ihnen zugestimmt wird, wenn man zu dem Gebrauch der Vernunft kommt, selbst wenn er wahr wäre, nicht beweisen, dass sie angeboren wären. Diese Beweisführung ist ebenso leichtfertig, wie der Satz selbst falsch ist. Denn welche Logik zeigt, dass ein Begriff von Natur der Seele ursprünglich bei ihrer ersten Bildung eingeprägt worden, weil man ihn dann bemerkt und ihm zustimmt, wenn ein Seelenvermögen, was einem ganz andern Gebiete angehört, sich zu entwickeln beginnt? Wenn die Zeit, wo man den Gebrauch der Sprache erlangt, die wäre, wo man diesen Grundsätzen zuerst beistimmt (was ebenso wahr sein möchte, als die Zeit, wo man den Gebrauch der Vernunft erlangt), so bewiese dies ebensogut, dass sie angeboren seien, als wenn man dies[42] deshalb behauptet, weil man ihnen zustimmt, wenn man zu dem Gebrauch der Vernunft gelangt ist. Ich trete deshalb diesen Vertheidigern von angeborenen Grundsätzen darin bei, dass die Seele vor der Erlangung des Gebrauchs der Vernunft keine Kenntniss von diesen allgemeinen und von selbst einleuchtenden Grundsätzen hat; aber ich leugne, dass die Zeit, wo man zu dem Gebrauch der Vernunft kommt, die ist, wo man sie zuerst bemerkt, und selbst wenn dies der Fall wäre, so würde dies nicht beweisen, dass sie angeboren seien. Alles, was mit einiger Wahrheit durch den Satz, wonach man ihnen zustimme, wenn man zu dem Gebrauch der Vernunft gelangt ist, gemeint sein kann, ist, dass die Bildung allgemeiner höherer Begriffe und das Verständniss allgemeiner Worte mit dem Vermögen der Vernunft verbunden ist, mit ihm zunimmt, und dass deshalb Kinder diese Begriffe nur erlangen und die dafür gebrauchten Worte nur verstehen, wenn sie zuvor längere Zeit ihre Vernunft für bekanntere und dem Einzelnen nähere Begriffe geübt haben, und durch ihr Reden und Benehmen mit Andern sich als solche erwiesen haben, welche einer vernünftigen Unterhaltung fähig sind. Sollte der Satz, dass man diesen Wahrheiten zustimmt, sobald man zu dem Gebrauch der Vernunft gelangt ist, in einem anderen Sinne gelten, so bitte ich, mir dies zu zeigen, oder wenigstens, wie aus einem solchen oder anderem Sinne desselben folgt, dass jene Wahrheiten angeboren seien.

§ 15. (Die Schritte, durch welche die Seele die Wahrheiten kennen lernt.) Zuerst lassen die Sinne Einzel-Vorstellungen ein und richten das noch leere Cabinet ein; die Seele wird dann allmählich mit einzelnen derselben vertraut, sie werden in das Gedächtniss aufgenommen, und es werden ihnen Namen gegeben. Dann schreitet die Seele weiter vor, trennt sie begrifflich und erlernt allmählich den Gebrauch allgemeiner Worte. So wird die Seele mit Vorstellungen und Worten ausgestattet, als dem Stoffe, an dem sie ihr begriffliches Vermögen üben kann. Je mehr dieser Stoff für ihre Beschäftigung zunimmt, desto sichtbarer wird der Gebrauch der Vernunft. Wenngleich so der Besitz allgemeiner Vorstellungen und der Gebrauch allgemeiner Worte und der Vernunft gleichzeitig zunehmen, so sehe ich doch in keiner[43] Weise ab, wie dies beweiset, dass jene angeboren seien. Allerdings ist die Kenntniss gewisser Wahrheiten sehr frühzeitig in der Seele; aber doch in einer Weise, welche zeigt, dass sie nicht angeboren sind. Denn bei genauer Beobachtung wird man immer finden, dass sie sich auf erworbene und nicht auf angeborene Vorstellungen beziehen; und zwar zunächst auf die von äussern Gegenständen empfangenen, welche die Kinder zunächst beschäftigen und auf ihre Sinne die häufigsten Eindrücke machen. In diesen so erlangten Vorstellungen entdeckt die Seele, dass einzelne zusammenstimmen, andere verschieden sind; wahrscheinlich sogleich, wenn das Gedächtniss benutzt wird und sie im Stande ist, bestimmte Vorstellungen zu fassen und festzuhalten. Mag es indess zu dieser Zeit geschehen oder nicht, so geschieht dies jedenfalls lange vor dem Gebrauch der Worte oder vor dem sogenannten Gebrauch der Vernunft. Denn ein Kind kennt, schon ehe es sprechen kann, den Unterschied der Wahrnehmungen von süss und bitter (d.h. dass süss nicht bitter ist) so gewiss, als es später (wenn es sprechen kann) weiss, dass Wermuth und Zuckererbsen nicht ein und dasselbe Ding sind.

§ 16. Ein Kind weiss nicht eher, dass 3 und 4 gleich 7 sind, als bis es bis 7 zählen kann und den Namen und die Vorstellung der Gleichheit erlangt hat; dann stimmt es bei Erklärung dieser Worte sofort zu oder begreift die Wahrheit dieses Satzes. Indess stimmt es dann nicht zu, weil es eine ihm eingeborene Wahrheit ist; und ebenso fehlte seine Zustimmung nicht deshalb so lange, weil ihm der Gebrauch der Vernunft fehlte, sondern die Wahrheit erscheint ihm dann, wenn es in seiner Seele die klaren und bestimmten Vorstellungen befestigt hat, zu denen diese Worte gehören. Dann erkennt es die Wahrheit dieses Satzes aus demselben Grunde und auf dieselbe Weise, als es vorher wusste, dass eine Ruthe und eine Kirsche nicht dasselbe Ding sind, und aus demselben Grunde, aus dem es später zu dem Wissen gelangt, dass es für dasselbe Ding unmöglich ist, zu sein und nicht zu sein, wie später noch weiter gezeigt werden soll. Je später also Jemand zu diesen allgemeinen Vorstellungen gelangt, aus welchen diese Grundsätze bestehen, oder je später er die Bedeutung der[44] Worte für diese Vorstellungen kennen lernt, oder je später er die Vorstellungen, welche sie bezeichnen, in seiner Seele zusammenbringt, desto später wird er auch diesen Sätzen zustimmen, deren Worte mit den dadurch bezeichneten Vorstellungen so wenig ihm angeboren sind, wie die einer Katze oder eines Wiesels; vielmehr muss er warten, bis die Zeit und Beobachtung ihn damit bekannt gemacht hat. Dann wird er fähig sein, die Wahrheit dieser Sätze zu verstehen, sobald ein Umstand ihn bestimmt, diese Vorstellungen zu verbinden und zu beobachten, ob sie so, wie diese Sätze es aussagen, zusammenstimmen oder nicht. Deshalb erkennt ein Erwachsener mit derselben Selbstgewissheit, dass 18 und 19 gleich 37 sind, mit der er weiss, dass 1 und 2 gleich 3 sind. Indess erkennt ein Kind das eine nicht so schnell, als das andere, nicht aus Mangel an Vernunftgebrauch, sondern weil die Vorstellungen, welche mit den Worten 18, 19 und 37 bezeichnet werden, nicht so schnell gewonnen werden, als die, welche durch 1, 2 und 3 bezeichnet sind.

§ 17. (Eine Zustimmung, die erfolgt, sofort wenn der Satz aufgestellt und verstanden worden, beweist noch nicht, dass er angeboren ist.) Wenn sonach diese Ausflucht mit einer allgemeinen Zustimmung, sobald man zu dem Gebrauch seiner Vernunft gelangt, hinfällig ist, und den Unterschied zwischen diesen angeblich angeborenen und den später erworbenen und erlernten Wahrheiten aufhebt, so hat man gesucht, die allgemeine Zustimmung zu diesen sogenannten Grundsätzen dadurch zu sichern, dass man sagte, man stimme denselben sofort zu, wenn sie ausgesprochen und die Worte verstanden worden. Indem man sah, dass Jedermann und selbst Kinder, sobald sie diese Wahrheiten hörten und die Worte verstanden, ihnen zustimmten, so hielt man dies für genügend, um ihr Eingeborensein zu beweisen. Denn da Niemand, sobald er die Worte verstanden, zögert, sie für unzweifelhafte Wahrheiten anzuerkennen, so will man daraus folgern, dass diese Sätze zunächst in den Verstand gelegt worden sind, weil dieser, ohne alle Belehrung bei ihrer ersten Aufstellung ihnen sofort zustimmt und dann niemals mehr daran zweifelt.[45]

§ 18. (Wenn solche Zustimmung das Angeborensein bewiese, so würde die Menge der angeborenen Grundsätze zahllos sein.) In Antwort hierauf frage ich, ob die Zustimmung, welche sofort einem Satze bei dessen erstem Hören und Verstehen gegeben wird, das sichere Zeichen eines angeborenen Grundsatzes ist? Wo nicht, so kann diese allgemeine Zustimmung nicht als Beweis geltend gemacht werden; soll sie dagegen ein solches Zeichen sein, so müssen dann alle jene Sätze angeboren sein, denen man sofort bei dem Hören zustimmt, und Jene befinden sich dann überaus reichlich mit angeborenen Grundsätzen versorgt. Denn aus demselben Grunde, d.h. aus der Zustimmung bei dem ersten Hören und Verstehen der Worte, der diese Grundsätze für angeborene erweisen soll, muss man auch die vielerlei Sätze über Zahlen für angeboren anerkennen, z.B. den Satz, dass 1 und 2 gleich 3, dass 2 und 2 gleich 4 und viele andere ähnliche Zahlensätze, denen Jeder bei dem ersten Hören und Verstehen der Worte zustimmt. Diese alle müssen dann einen Platz unter den angeborenen Grundsätzen erhalten. Auch ist dies kein Vorzug der Zahlen allein und der davon gebildeten Lehrsätze; vielmehr bringen auch die Naturwissenschaft und andere Wissenschaften Lehrsätze, die der sofortigen Zustimmung bei ihrem Verständniss sicher sind. Dass zwei Körper nicht denselben Ort einnehmen können, ist eine Wahrheit, bei der man mit der Zustimmung so wenig zögert, als bei dem Satze, dass unmöglich dasselbe Ding sein und auch nicht-sein kann; oder, dass weiss nicht schwarz ist; dass ein Viereck kein Kreis ist; dass das Gelbe nicht das Süsse ist. Allen diesen und Millionen anderen, wenigstens so vielen, als man bestimmte Vorstellungen hat, muss ein Mensch von gesundem Verstande bei dem ersten Hören und Verstehen der Worte nothwendig zustimmen. Wollen also Jene ihrer Regel treu bleiben, und soll die Zustimmung bei dem ersten Hören und Verstehen der Worte ein Zeichen des Eingeborenseins sein, so müssen sie so viele angeborene Grundsätze anerkennen, als es bestimmte Vorstellungen giebt, ja selbst so viele, als Lehrsätze, in denen verschiedene Vorstellungen von einander verneint werden, aufgestellt werden können; denn jeder solcher Satz wird sicherlich bei dem ersten Hören und Verstehen[46] der Worte ebenso die Zustimmung erhalten als jener Satz, dass unmöglich dasselbe Ding sein und auch nichtsein kann; oder dass, was die Grundlage von diesem und der leichter verständliche Satz ist, dass ein Ding nicht von sich selbst verschieden ist. Damit haben sie Legionen angeborener Grundsätze schon von dieser einen Art, ohne der andern zu erwähnen. Da nun kein Satz uns angeboren sein kann, wenn nicht auch seine Vorstellungen angeboren sind, so muss man alle untere Vorstellungen von Farben, Tönen, Geschmäcken, Gestalten für angeborene anerkennen; obgleich doch nichts mehr der Vernunft und Erfahrung, als eine solche Folge, widersprechen kann. Die allgemeine und sofortige Zustimmung bei dem Hören und Verstehen der Worte ist (wie ich einräume) ein Zeichen der Selbstgewissheit, allein diese Selbstgewissheit hängt nicht von angeborenen Eindrücken ab, sondern von etwas Anderem (wie ich später zeigen werde), und sie kommt vielen Sätzen zu, von denen noch Niemand es gewagt hat, sie für angeboren zu erklären.

§ 19. (Solche Sätze von geringerer Allgemeinheit werden vor denen von grösserer Allgemeinheit gewusst.) Auch darf man nicht sagen, dass diese mehr besondern, selbstgewissen Sätze, denen man bei dem ersten Hören zustimmt, wie, dass 1 und 2 gleich sind 3, dass grün nicht roth ist u.s.w., als die Folge von allgemeineren Sätzen angenommen werden, die als angeboren gelten; denn wenn Jemand nur auf den Vorgang dabei im Verstande Acht giebt, so wird er finden, dass diese und ähnliche weniger allgemeinen Sätze offenbar von Personen aufgefasst werden und ihnen zugestimmt wird, welche die allgemeineren Sätze gar nicht kennen. Wenn daher die besonderen Sätze früher in der Seele sind, als die sogenannten obersten Grundsätze, so kann von letztem nicht die Zustimmung kommen, mit der jene bei dem ersten Hören angenommen werden.

§ 20. (Der Einwand, dass diese besondere Sätze ohne Nutzen seien, wird widerlegt.) Sagt man, dass Sätze, wie: 2 und 2 sind gleich 4; roth ist nicht blau u.s.w., keine allgemeinen Grundsätze und von geringem Nutzen seien, so erwidere ich, dass dieser Umstand darauf ohne Einfluss ist, dass sie beim Hören und Verstehen sofort von Jedermann angenommen werden.[47] Denn soll es als ein sicheres Zeichen des An geborenseins gelten, wenn ein Satz, sei er, welcher er wolle, bei dem ersten Hören und Verstehen sofort angenommen wird, so müssen jene Sätze ebenso für angeboren gelten, wie der Satz: es ist unmöglich, dass ein Ding ist und nicht ist; da dieser Grund für beide derselbe bleibt. Und wenn letzterer Satz von allgemeinerer Natur ist, so kann man ihn um so weniger für angeboren ansehen, weil diese allgemeinen und hohem Begriffe für die erste Auffassung fremdartiger sind, als die Begriffe in den mehr besondern selbstgewissen Sätzen; deshalb dauert es auch länger, ehe der wachsende Verstand sie annimmt und ihnen zustimmt. Was aber den Nutzen dieser hochgerühmten Grundsätze anlangt, so durfte er bei der später folgenden Untersuchung dieser Frage sich nicht so gross ergeben, als man gewöhnlich annimmt.

§ 21. (Diese Grundsätze werden meist nicht eher gekannt, als bis sie aufgestellt worden; und dies beweist, dass sie nicht angeboren sind.) Damit ist es indess in Bezug auf diese Zustimmung zu Sätzen, so wie man sie das erste Mal hört und versteht, noch nicht abgethan; es ist zunächst hier zu bemerken, dass diese Zustimmung, anstatt ein Zeichen des Eingeborenseins zu sein, vielmehr der Beweis des Gegentheils ist, weil dabei vorausgesetzt wird, dass die, welche andere Dinge verstehen und kennen, diese Grundsätze so lange nicht kennen, als sie ihnen nicht vorgesagt werden, und dass man mit diesen Wahrheiten so lange unbekannt sein kann, als man sie nicht von Anderen gehört hat. Wären- sie angeboren, was bedürfte es da ihrer Aufstellung, um die Zustimmung zu erlangen; da sie, wenn sie dem Verstande ursprünglich und von Natur eingeprägt wären (vorausgesetzt, es gäbe solche Sätze), schon vorher bekannt sein mussten? Soll etwa die Aufstellung derselben sie der Seele klarer eindrücken, als die Natur es gethan? Ist dies der Fall, so folgt, dass man sie besser kennt, wenn man sie so gelernt hat, als vorher. Daraus folgt weiter, dass diese Grundsätze selbstverständlicher für uns sind, wenn Andere sie uns lehren, als vermittelst der blossen Einprägung durch die Natur. Dies stimmt aber schlecht mit der Lehre von angeborenen Grundsätzen und unterstützt sie wenig; im Gegentheil[48] werden sie damit unfähig, die Grundlagen unseres ganzen Wissens zu bilden, was sie doch sein sollen. Man kann nicht bestreiten, dass man mit manchen dieser selbstverständlichen Grundsätze erst bei deren Aufstellung bekannt wird; offenbar bemerkt also Der, dem dies begegnet, dass er einen Satz kennen lernt, der ihm vorher unbekannt war, und wenn er ihn von da ab nicht mehr bezweifelt, so kommt dies nicht von dessen Angeborensein, sondern weil die Rücksicht auf die Natur des in diesen Worten enthaltenen Inhalts es ihm nicht gestattet, ihn anders aufzufassen, wenn bei spätem Gelegenheiten dieser Satz ihm wieder vorkommt. Soll Etwas, dem man bei dem ersten Hören und Verstehen zustimmt, allemal für einen angeborenen Grundsatz gelten, so ist jede wohl begründete Betrachtung, die aus Einzelnem zu einer allgemeinen Regel sich erhebt, angeboren. Dessenungeachtet macht nicht Jedweder, sondern nur scharfsinnige Menschen zuerst diese Betrachtungen, nur diese führen sie auf allgemeine Sätze zurück, die also nicht angeboren, sondern aus vorgebenden Erfahrungen und dem Nachdenken über einzelne Fälle abgenommen sind. Wenn Beobachter solche Sätze gebildet haben, so können dann die Nicht-Beobachter, ohne eigenes Nachdenken, bei dem Hören derselben ihnen die Zustimmung nicht versagen.

§ 22. (Das »unentwickelte Wissen« solcher Sätze sagt entweder nur, dass der Verstand sie begreifen kann, oder es hat keinen Sinn.) Man sagt auch, dass der Verstand vor dem ersten Hören solcher Sätze eine unentwickelte Kenntniss derselben habe, und nur keine entwickelte. (So muss man sprechen, wenn man behauptet, dass diese Sätze vor ihrem Wissen in dem Verstande seien.) Allein man kann sich schwer vorstellen, was mit einer solchen unentwickelten Einprägung eines Grundsatzes in den Verstand gemeint ist; es wäre denn, die Seele sei fähig, solche Sätze zu verstehen und ihnen fest zuzustimmen. Dann müssen aber alle mathematischen Beweise, ebenso wie die obersten Grundsätze, als natürliche Einprägungen der Seele gelten, obgleich man dies schwerlich zugeben wird, da man einen Satz schwerer beweisen, als dem Bewiesenen zustimmen kann. Nur wenige Mathematiker werden glauben wollen, dass alle Figuren, die sie gezeichnet, nur Abbilder der[49] angeborenen Gestaltungen seien, welche die Natur in ihre Seele eingeprägt habe.

§ 23. (Der Grund, welcher aus der Zustimmung beim ersten Hören entnommen wird, beruht auf der falschen Annahme, dass keine Unterweisung dabei vorhergegangen sei.) Noch eine andere schwache Seite hat der Grund, dass die Sätze, denen man bei dem ersten Hören zustimmt, desshalb als angeboren gelten, weil man hierbei Sätzen zustimme, die nicht gelehrt seien und die ihre Kraft von keinem Gründe und Beweise ableiten, sondern nur einer einfachen Erklärung und des Verständnisses der Worte bedürfen. Mir scheint hier nämlich die Täuschung unterzuliegen, dass man meint, der Mensch könne nichts lernen und über nichts belehrt werden de novo, obgleich in Wahrheit er das, was er lernt oder gelehrt erhält, vorher nicht gekannt hat. Denn erstens ist klar, dass der Mensch die Worte und ihre Bedeutung gelernt hat, was Beides ihm nicht angeboren gewesen ist; dies sind indess noch nicht all die erlernten Kenntnisse; auch die Vorstellungen selbst, welche der Satz befasst, sind so wenig wie die Worte angeboren, sondern erst später erworben. Daher sind bei allen Sätzen, denen man bei dem ersten Hören zustimmt, weder die Worte und ihre Verbindung mit den Vorstellungen noch diese selbst angeboren. Was bleibt nun aber nach Abzug dessen an den Sätzen noch Angeborenes übrig? Ich möchte wohl, dass man mir einen Satz angäbe, wo entweder die Worte oder die Vorstellungen angeboren sind. Im Gegentheil erwerben wir die Vorstellungen und Worte allmählich und ebenso ihre passende Verbindung mit einander; erst dann stimmten wir bei dem ersten Hören den Sätzen zu, die in Worten ausgedrückt sind, deren Bedeutung wir gelernt haben, und bei denen wir die Zusammenstimmung oder Nicht-Zusammenstimmung der verbundenen Worte verstehen; während wir gleichzeitig solchen Sätzen nicht beistimmen können, die zwar in sich ebenso gewiss und überzeugend sind, aber Vorstellungen befassen, die wir noch nicht so schnell oder so leicht erlangt haben. So stimmt ein Kind leicht dem Satze zu, dass ein Apfel kein Feuer ist, wenn es durch genaue Bekanntschaft sich die Vorstellungen dieser zwei verschiedenen Dinge in seiner Seele eingeprägt hat,[50] und es die Worte Apfel und Feuer als die Bezeichnung dieser Dinge gelernt hat; allein wahrscheinlich wird dasselbe Kind erst mehrere Jahre später dem Satze beistimmen, dass dasselbe Ding unmöglich sein und nicht-sein kann. Die Worte sind hier vielleicht ebenso leicht zu lernen, aber ihre Bedeutung ist weiter, umfassender und abgetrennter als die Worte, welche den sinnlichen Dingen beigelegt werden, mit denen das Kind sich beschäftigt. Deshalb lernt es erst nach längerer Zeit den Sinn jener Worte, und es braucht mehr Zeit, um in seiner Seele die allgemeinen damit verknüpften Vorstellungen zu bilden. Vorher wird man vergebens die Zustimmung des Kindes zu solchen allgemein gefassten Sätzen zu erlangen suchen; sobald es aber diese Vorstellungen gewonnen und ihre Worte kennen gelernt hat, so stimmt es ebensowohl dem einen wie dem andern Satze bereitwillig zu, und zwar aus ein- und demselben Grunde, nämlich weil es findet, dass die Vorstellungen in seiner Seele ebenso mit einander stimmen oder nicht stimmen, wie sie in den Sätzen mit einander verbunden oder von einander verneint sind. Sagt man ihm aber Sätze in Worten, die Vorstellungen bezeichnen, welche es noch nicht in seiner Seele hat, so stimmt es solchen Sätzen, wenn sie auch noch so offenbar wahr oder falsch sind) weder zu noch nicht zu, sondern entscheidet sich zu nichts; weil Worte, die keine Zeichen unserer Vorstellungen sind, nur leere Töne bleiben. Deshalb kann man ihnen nur so weit zustimmen, als sie Vorstellungen bezeichnen, die man besitzt. Die nähere Darlegung der Mittel und Wege, auf welchen die Seele ihr Wissen erwirbt, und die Gründe für die verschiedenen Grade der Zustimmung werden später zur Untersuchung kommen; deshalb sind sie hier nur als einer der Gründe berührt worden, die mich an den angeborenen Grundsätzen zweifeln lassen.

§ 24. (Sie sind nicht angeboren, denn die Zustimmung zu ihnen ist keine allgemeine.) Um mit diesem, aus der allgemeinen Zustimmung entnommenen Grunde abzuschliessen, gab ich den Vertheidigern angeborner Grundsätze zu, dass sie, wenn sie angeboren sind, allgemeine Zustimmung finden müssen; denn ich könnte es nicht verstehen, dass eine Wahrheit zwar angeboren wäre, aber doch keine Zustimmung fände; dies[51] wäre ebenso, als wenn ein Mensch eine Wahrheit wüsste und sie doch nicht wüsste. Allein nach dem eignen Zugeständniss dieser Vertheidiger können sie nicht angeboren sein, weil Diejenigen ihnen nicht zustimmen, welche die Worte nicht verstehen oder welche diese Worte zwar verstehen, aber solche Sätze noch nicht gehört oder bedacht haben, und dies wird, glaube ich, mindestens die Hälfte aller Menschen sein. Aber selbst wenn die Zahl viel kleiner wäre, genügte sie, die allgemeine Zustimmung aufzuheben, und selbst wenn nur die Kinder diese Sätze nicht kennten, würde dies schon ergeben, dass sie nicht angeboren sind.

§ 25. (Diese Grundsätze sind nicht das, was man zuerst weiss.) Damit man mich indess nicht beschuldige, dass ich meine Beweise aus dem Denken der Kinder entnehme, was man doch nicht kenne, und dass ich Folgerungen aus den Vorgängen in ihrer Seele ziehe, bevor sie davon etwas mittheilen können, so erwidere ich zunächst, dass jene beiden allgemeinen Sätze nicht die ersten Wahrheiten sind, welche das Kind besitzt, und dass sie nicht jeder erworbenen und von Aussen gekommenen Kenntniss vorhergehen; was doch sein müsste, wenn sie angeboren wären. Wenn man dies auch nicht sollte feststellen können, so giebt es doch sicherlich einen Zeitpunkt, wo die Kinder zu denken beginnen; denn ihre Worte und Handlungen überzeugen uns davon. Sind sie also zu dieser Zeit im Stande, zu denken, zu erkennen und zuzustimmen, so kann man vernünftiger Weise nicht annehmen, dass sie dann die Begriffe noch nicht erkennen sollten, welche die Natur ihnen, wenn es der Fall wäre, eingeprägt hätte. Kann man vernünftiger Weise glauben, dass sie von äussern Dingen die Eindrücke empfangen und gleichzeitig die Schrift-Zeichen nicht kennen, welche die Natur selbst ihnen eingeprägt habe? Wie könnten sie die von Aussen kommenden Begriffe aufnehmen und ihnen zustimmen und doch die nicht kennen, welche in die Grundlage ihres Daseins selbst eingewoben und da in unvertilgbaren Zeichen eingegraben sein sollen, um die unterläge und den Führer all ihrer erworbenen Kenntnisse und ihres spätem Denkens abzugeben? Dies hiesse, die Natur sich nutzlos anstrengen, oder sie sehr schlecht schreiben. lassen, wenn ihre Schrift-Zeichen selbst von den Augen[52] nicht gesehen würden, die Anderes sehr gut sehen. Diese klarsten Stücke der Wahrheit und diese Grundlagen unseres Wissens wären dann sehr schlecht eingerichtet, wenn sie nicht zuerst erkannt würden, und wenn auch ohne sie die sichere Kenntniss vieler Dinge erlangt werden könnte. Das Kind weiss sicherlich, dass die Amme, welche es stillt, weder die Katze ist, mit der es spielt, noch der schwarze Mohr, vor dem es sich fürchtet, und dass der Wurmsamen oder Senf, den es nicht mag, nicht der Apfel oder der Zucker ist, nach dem es schreit. Dies ist unzweifelhaft, aber kann man deshalb sagen, dass es vermittelst des Grundsatzes geschehe, wonach dasselbe Ding unmöglich sein und nicht-sein kann, wenn es so fest diesen und andern Vorstellungen seiner Seele zustimmt? Oder, dass das Kind in einem Alter, wo es offenbar schon eine Menge anderer Wahrheiten kennt, schon einen Begriff und ein Verständniss von jenem Satze habe? Wer da sagt, dass Kinder diese allgemeinen und abgetrennten Grundsätze mit ihrer Saugflasche oder Klapper bei sich führen, wird mit Recht als ein eifriger und hitziger aber nicht als ein aufrichtiger und wahrheitsliebender Vertheidiger seiner Meinung gelten.

§ 26. (Und deshalb sind sie nicht angeboren.) Es mag daher allgemeine Sätze geben, welche bei erwachsenen Personen, die mit den allgemeinen und hohem Begriffen und deren Worten bekannt sind, gleich bei ihrer Aufstellung eine beständige und wahrhafte Zustimmung finden; aber da dies sich nicht auch bei Personen zartem Alters findet, obgleich sie Anderes kennen, so können diese Sätze keine allgemeine Zustimmung bei allen vernünftigen Personen beanspruchen und deshalb auch nicht als angeboren gelten. Denn eine angeborene Wahrheit (wenn es eine solche giebt) kann unmöglich ungekannt bleiben, wenigstens nicht für Jemand, der schon Anderes kennt. Giebt es angeborne Wahrheiten, so giebt es auch angeborne Gedanken, da keine Wahrheit in der Seele bestehen kann, an die sie niemals gedacht hat. Daraus erhellt, dass wenn es Wahrheiten giebt, die der Seele angeboren sind, die Seele auch zuerst an sie denken muss und sie zuerst in ihr sich zeigen müssen.[53]

§ 27. (Sie sind nicht angeboren, weil sie am wenigsten sich zeigen, während das Angeborne sich am klarsten zeigen muss.) Dass diese besprochenen allgemeinen Grundsätze den Kindern, Dummen und vielen Menschen unbekannt sind, habe ich bereits zur Genüge gezeigt und daraus erhellt, dass ihnen keine allgemeine Zustimmung zukommt, und dass sie keine allgemeinen Einprägungen sind. Indess spricht gegen ihr Angeborensein noch der weitere Grund, dass, wenn diese Zeichen ursprüngliche und angeborne Eindrücke wären, sie bei denjenigen Personen am ersten und deutlichsten hervortreten müssten, bei denen man doch keine Spur davon bemerkt. Es spricht nach meiner Ansicht stark gegen dieses Angeborensein, dass sie gerade den Personen am wenigsten bekannt sind, bei denen sie, wenn es sich so verhielte, gerade am stärksten und kräftigsten sich geltend machen müssten. Denn Kinder, Dumme, Wilde und alle unwissende Leute sind weniger, wie Andere, durch Gewohnheit oder angenommene Meinungen verdorben; bei ihnen hat Unterricht und Erziehung die ursprünglichen Gedanken nicht in neue Formen gepresst, und keine fremde und erlernte Lehre kann diese von der Natur eingeschriebenen deutlichen Zeichen verwischt haben. Deshalb kann man mit Recht erwarten, dass in der Seele Dieser jene angebornen Begriffe offen für Jedermanns Anblick darliegen werden, wie dies bei den Gedanken der Kinder immer der Fall ist; man sollte mit Recht erwarten, dass diese Grundsätze jenen Naturen vollkommen bekannt sein müssten, wenn sie unmittelbar der Seele eingeprägt wären (wie Jene annehmen), und deshalb von dem Zustand und den Organen des Körpers unabhängig wären, wodurch sie sich allein von andern Sätzen unterscheiden. Nach den Ansichten Jener sollte man meinen, dass alle diese natürlichen Lichtstrahlen (wenn es deren giebt) in ihrem vollen Glänze bei Denen leuchten müssten, welche nichts verheimlichen und künstlich verbergen können, und dass sie uns über ihr Dasein so wenig zweifeln lassen könnten, als man an ihrer Liebe zum Angenehmen und an ihrer Sehen vor dem Schmerze zweifelt. Aber welche Grundsätze, welche allgemeine Regeln des Wissens findet man denn bei Kindern, Dummen, Wilden und Ungebildeten? Ihre Begriffe sind beschränkt,[54] nur den Gegenständen entnommen, mit denen sie am meisten zu thun haben, und welche ihre Sinne am häufigsten und stärksten erregt haben. Ein Kind kennt seine Amme und seine Wiege und allmählich mit zunehmendem Alter sein Spielzeug; ein junger Wilder ist vielleicht von der Liebe zur Jagd, nach der Weise seines Stammes, erfüllt; wer aber bei einem unerzogenen Kinde und einem wilden Bewohner der Wälder diese höheren Sätze und berühmten Grundlagen der Wissenschaften erwartet, wird sich, fürchte ich, sehr getäuscht finden. Solche allgemeine Sätze hört man nicht in den Hütten der Indianer; noch weniger finden sie sich in dem Denken der Kinder und in den Seelen der Naturmenschen eingeprägt; sie sind vielmehr nur die Sprache und die Beschäftigung in den Schulen und Akademien gebildeter Völker, welche an diese Art von Unterhaltung und Gelehrsamkeit gewöhnt sind, und wo häufig Streitfälle sich erheben. Hier sind diese Regeln für die künstlichen Beweise zurecht gemacht und für die Widerlegung zu gebrauchen; aber sie helfen wenig bei der Entdeckung der Wahrheit und zu dem Fortschritt des Wissens. Ueber diesen Punkt werde ich noch bei Kap. 7, Buch IV. Gelegenheit haben, mehr zu sagen.

§ 28. (Wiederholung.) Was ich hier ausgeführt habe, mag den Meistern in der Beweiskunst thöricht vorkommen, und bei dem ersten Hören wird es Niemandem in den Kopf wollen. Ich bitte deshalb um einen kurzen Waffenstillstand mit dem Vorurtheil und um ein Anhalten im Tadel, bis man mich in dem Folgenden vollständig angehört haben wird; dann bin ich gern bereit, mich dem bessern Urtheile zu unterwerfen. Ich suche ernstlich nach der Wahrheit und bin deshalb nicht in Sorgen, dass man mich überführen könnte, indem ich von meiner Meinung zu eingenommen wäre, obgleich, wie ich gestehe, Alle gern dazu neigen, wenn Anstrengungen und Nachdenken den Kopf erhitzt haben. Mit einem Worte: Ich kann diese beiden wissenschaftlichen Grundsätze nicht für angeboren halten, weil man nicht allgemein ihnen zustimmt. Die Zustimmung, welche ihnen in der Regel zu Theil wird, erhalten auch andere Sätze in gleicher Weise, obgleich sie nicht als angeborene behauptet werden. Wenn ihnen zugestimmt wird, so geschieht dies[55] anderer Umstände wegen, und nicht, weil sie von Natur uns eingeprägt sind, wie ich später auszuführen hoffe. Sind also diese obersten Grundsätze der Erkenntniss und Wissenschaft nicht angeboren, so kann auch kein anderer höherer Grundsatz (nach meiner Meinung) ein besseres Recht als jene darauf geltend machen.

Quelle:
John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern. Band 1, Berlin 1872, S. 35-56.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Versuch über den menschlichen Verstand
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand, Teil 1: Buch I und II
Philosophische Bibliothek, Bd.76, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 2. Buch 3 und 4
Philosophische Bibliothek, Bd.75, Versuch über den menschlichen Verstand. Teil 1. Buch 1 und 2.
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