Die Welt kein Götterwerk

[172] Ferner behaupten zu wollen, es sei nur den Menschen zu Liebe

Diese vortreffliche Welt von den Göttern einstens erschaffen;

Drum sei dies hochpreisliche Werk als göttlich zu rühmen,[172]

Sei für ewig bestehend und unzerstörbar zu halten,

Sündhaft sei es daher, die Welt, die den Menschengeschlechtern

Nach uraltem Beschlüsse der Götter für ewig erbaut ward,

Irgendwann und – wo aus den Fundamenten zu reißen

Und sie mit Worten zu stürmen, das Oberste kehrend zu unterst, –

Und noch weitere Lügen nach gleicher Methode zu brauen:

Wahnsinn ist dies alles, mein Memmius. Welcherlei Vorteil

Könnte denn unsere Gunst den seligen Göttern verschaffen,

Daß sie um unseretwillen sich irgend betätigen sollten?

Welches Ereignis verlockte die vordem ruhigen Götter

Noch so spät zu dem Wunsche ihr früheres Leben zu ändern?

Denn mich dünket, nur dem kann ein Wechsel der Lage genehm sein,

Welchem die alte mißfällt. Doch wer nichts Schlimmes erfahren

In der vergangenen Zeit, wo er glücklich sein Leben verbrachte,

Was nur konnte in dem das Gelüst der Neuerung wecken?

Oder war etwa vorher ihr Leben voll Dunkel und Trübsal,

Ehe die Schöpfungsstunde das Licht in der Welt hat entzündet?

Oder was brächte denn uns, nicht geschaffen zu werden, für Übel?

Freilich wer einmal geboren, der wird auch im Leben noch bleiben

Wollen, solang' er behält des Daseins wonnige Freude.

Doch wer nimmer gekostet des Lebens Freude, wer nie ward

Mitgezählt, was schadet es dem, wenn er nie ward geboren?

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 172-173.
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