Jugend unsrer Welt

[178] Nehmen wir weiter nun an, es gäbe für Himmel und Erde

Keinen Entstehungstag und sie wären schon immer und ewig:

Weshalb sangen denn nicht auch andere Dichter von andrem,

Was sich begab vor Trojas Fall und dem Kampfe vor Theben?

Wohin sanken die Toten von soviel Heldengeschlechtern?

Warum blühn sie nicht fort auf den Tafeln ewigen Ruhmes?

Aber, mich dünket, die Welt ist noch jung und vor kurzem entstanden

Und ihr Ursprung reicht nicht hinauf in ältere Zeiten.

Darum verfeinern sich auch erst jetzt gar manche Gewerbe;

Jetzt erst mehren sie sich; jetzt erst ward vieles im Schiffbau

Neu, und der Orgelbau schuf jüngst die melodischen Töne.

Endlich ward unser System der Natur erst kürzlich erfunden,

Und ich selbst bin erst jetzt als allererster erstanden,

Der es in heimischen Lauten gewagt hat wiederzugeben.

Glaubst du jedoch, dies alles sei früher schon einmal gewesen,

Aber das Menschengeschlecht sei untergegangen im Feuer,

Oder es seien die Städte versunken durch mächtige Beben,

Oder es hätten infolge von unaufhörlichem Regen

Übergetretene Flüsse die Siedlungen weithin bedecket,

Mußt du doch jedenfalls um so mehr als besiegt dich ergeben

Und auch für Himmel und Erde an künftigen Untergang glauben.

Wäre die Welt noch jetzt derartigen Leiden und Fährnis

Unterworfen, so würde beim Eintritt schlimmeren Unfalls

Rings sich Zusammensturz und Weltenzertrümmrung ereignen.

Ähnlich betrachten auch wir, im Vergleich, uns als sterbliche Wesen,

Weil an den nämlichen Leiden wir selber erkranken, wie jene,

Welche schon längst die Natur vor uns aus dem Leben gerufen.[178]

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 178-179.
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