Entwicklung des Menschengeschlechtes

[196] Aber das Menschengeschlecht, das damals noch auf den Feldern

Lebte, war rauher natürlich als Sprößling der rauheren Erde;

Größre und stärkere Knochen befestigten innen den Körper;

Kräftige Sehnen im Fleisch verbanden die einzelnen Glieder;

Hitze und Kälte ergriff sie nicht leicht und die neue Ernährung

Schadete nichts; frei blieben sie auch von jeder Erkrankung;

Während unzähliger Jahre, die unsere Sonne an Himmel

Kreiste, verbrachten sie so wie die Tiere ein schweifendes Leben.

Niemand lenkte mit kräftiger Hand das gebogene Pflugholz,

Niemand kannte die Kunst mit der Hacke das Feld zu bestellen,

Noch auch neues Gesträuch in die Erde zu senken, noch endlich

Altes Geäst mit der Hippe aus hohen Bäumen zu schneiden.

Nur was Regen und Sonne verlieh, was die Erde von selbst gab,

Ward als Geschenk von den Menschen zufriedenen Herzens empfangen.

Meistens ernährten sie sich in den eicheltragenden Wäldern.

Auch ließ damals die Erde von Erdbeerbäumen die Früchte

Größer noch werden als jetzt, wo zur Winterszeit du die Beeren

Sehn kannst, wie in der Reife sie purpurartig erstrahlen.

Noch viel andres erzeugte die blühende Jugend der Erde,

Gröbliche Kost, doch es war der elenden Sterblichen Reichtum.

Aber zur Löschung des Dursts lud Quell und Bach sie zu Gaste,

Wie noch jetzt in den Bergen ein niederrauschender Sturzbach

Dürstende Scharen von Wild weither zur Tränke herbeiruft.

Schließlich weilten sie gern in Grotten der Nymphen im Walde,

Die sie beim Schweifen entdeckt. Sie wußten, daß hieraus entspringe

Reichlicher Quellenerguß, der die schlüpfrigen, triefenden Felsen[196]

Jetzt, ja triefende Felsen, sodann durch das moosige Grün tropft,

Während anderes Naß aus den Ebenen sprudelnd emporspringt.

Sie verstanden noch nicht den Gebrauch des Feuers, noch deckten

Felle, die etwa dem Wild sie geraubt, die Blöße des Körpers,

Sondern sie lebten im Wald und im Hain und in Höhlen der Berge.

Und wenn die Not sie zur Flucht vor dem peitschenden Regen und Winde

Zwang, so verbargen sie wohl die schmutzigen Körper im Dickicht.

Noch vermochten sie nicht dem gemeinsamen Wohl sich zu ordnen,

Keine gemeinsame Sitte verband sie oder Gesetze.

Was ihm der Zufall bot, trug jeder als Beute nach Hause.

Jeder nach eigenem Triebe bedacht auf Leben und Wohlsein.

Und in den Wäldern vereinte die Körper der Liebenden Venus,

Sei's daß das Weib sich verband aus wechselseitiger Neigung,

Oder daß trotzige Kraft und rasende Wollust des Mannes

Oder ein Kaufpreis zwang, wie Eicheln und Beeren und Birnen.

Auf die erstaunliche Kraft der Faust und der Füße vertrauend

Stellten sie nach in dem Wald den Geschlechtern des Wildes. Als Waffe

Dienten geschleuderte Steine und Keulen von großem Gewichte.

Viele erlegten sie so, vor manchen verbarg ein Versteck sie.

Gleich wie die borstigen Schweine, so legten sie nackt sich im Walde

Auf den Boden der Erde, sobald sie die Nacht überraschte,

Und umgaben sich dort mit der Hülle von Blättern und Laubwerk.

Nicht mit lautem Geheul durchirrten sie ängstlich die Fluren,

Um in dem Schatten der Nacht nach dem Tag und der Sonne zu suchen,

Sondern sie warteten still und in ruhigen Schlummer versunken,

Bis die Sonne dem Himmel mit rosiger Fackel das Licht gab.

Denn sie waren gewohnt von Kindesbeinen an ständig

Dunkel und Helle des Lichts gleichmäßig wechseln zu sehen.

So war gar kein Grund, sich jemals darüber zu wundern

Oder zu fürchten, es möchte das Licht sich der Sonne verlieren,

Und dann ewige Nacht die Lande für immer bedecken.

Nein, viel eher besorgten sie Angriff reißender Tiere,

Welche den Armen so oft die nächtliche Ruhe verstörten.

Wenn ein schäumender Eber, ein mächtiger Löwe sich nahte,

Ließen ihr Heim sie im Stich und flohn aus dem Grottengesteine.

Tief in der Nacht überließen entsetzt sie ihr ärmliches Lager,

Das sie aus Laub sich im Innern gehäuft, den grausamen Gästen.

Quelle:
Lukrez: Über die Natur der Dinge. Berlin 1957, S. 196-197.
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