Das physische Experiment und dessen Leitmotive.

[201] 1. Das Experiment kann als die selbsttätige Aufsuchung neuer Reaktionen, bezw. neuer Zusammenhänge derselben bezeichnet werden. Das physische Experiment haben wir schon als die natürliche Fortsetzung des Gedankenexperiments kennen gelernt, welche überall da eintritt, wo eine Entscheidung durch ersteres zu schwierig, oder zu unvollständig, oder unmöglich ist. Auch eine gelegentliche auffallende Beobachtung kann instinktiv zu einem besonderen motorischen Verhalten Anlaß geben, durch welches wir zur Kenntnis neuer Reaktionen oder deren Zusammenhänge gelangen. Solche Fälle können wir an Tieren und bei genügender Aufmerksamkeit auch an uns selbst wahrnehmen. Wir können in solchen Fällen von einem instinktiven Experimentieren sprechen. Wenn aber eine zufällige Beobachtung uns in ungewöhnlicher Weise an einen bereits bekannten Zusammenhang erinnert, noch mehr aber, wenn dieselbe zu dem Bekannten oder Gewohnten in auffallendem Gegensatz steht, werden durch dieselbe Gedanken suggeriert, welche als das eigentlich Treibende in dem nun folgenden physischen Experiment angesehen werden können. Unter den zahlreichen Fällen dieser Art erinnern wir an Galileis schwingende Lampe, an Grimaldis farbige, den Schatten säumende Streifen, an Boyles und Hookes Farben der Seifenblasen und feiner Sprünge im Glase. Wir erinnern ferner an Galvanis Frosch, an Aragos Dämpfung der schwingenden Magnetnadel durch eine Kupferscheibe, an seinen Fund der chromatischen Polarisation, an Faradays Entdeckung der Induktion u.s.w. Jeder Experimentator wird aus seiner Erfahrung solche Beispiele anführen können, wenn auch nur wenige historisch so wichtig und folgenschwer geworden sind, wie die angeführten. Meine Untersuchungen über[201] Sinnesorgane wurden eingeleitet durch den Kontrast des Anblicks eines Quadrates mit vertikaler Seite gegen jenen eines solchen mit vertikaler Diagonale. Eine Erweiterung der Gesetze des Helligkeitskontrastes fand ich durch die zufällige Beobachtung einer Erscheinung an rotierenden Sektoren mit geknickter Begrenzung, welche Erscheinung nach dem Talbot-Plateauschen Gesetze eben unverständlich war. Ebenso wie theoretisch wichtige Entdeckungen können auch praktisch wertvolle Erfindungen durch zufällige Beobachtungen veranlaßt werden. So soll Samuel Brown durch den Anblick einer Spinne in ihrem Netz zur Konstruktion der Kettenbrücke, James Watt durch Betrachtung einer Krebsschale zum Plan einer Wasserleitung gelangt sein.252 Welchen Anteil man in solchen Fällen dem Zufall zuschreiben kann, und worin dessen Funktion besteht, habe ich anderwärts auseinandergesetzt.253

2. Die absichtliche selbsttätige Erweiterung der Erfahrung durch das physische Experiment, und die planmäßige Beobachtung, steht also immer unter Leitung der Gedanken, und ist von dem Gedankenexperiment nie scharf abzugrenzen und zu trennen.254 Deshalb haben die für das physische Experiment aufzustellenden Leitmotive, die wir nun betrachten wollen, auch für das Gedankenexperiment und die Forschung überhaupt Bedeutung. Diese Leitmotive lassen sich aus den Arbeiten der Forscher abstrahieren; sie haben sich bisher bewährt, und wir können daher bei Beachtung derselben noch weitere Erfolge erwarten. Auf Erschöpfung der Möglichkeiten macht unsere Darstellung keinen Anspruch.

3. Alles, was wir durch ein Experiment erfahren können, ist[202] durch die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Elemente (oder Umstände) einer Erscheinung voneinander gegeben und erschöpft. Indem wir eine gewisse Gruppe oder auch ein Element, willkürlich variieren, ändern sich hiermit auch andere Elemente oder bleiben unter Umständen unverändert. Die Grundmethode des Experimentes ist die Methode der Variation. Könnte man jedes Element allein für sich variieren, so wäre die Untersuchung verhältnismäßig leicht. Man würde durch ein systematisches Verfahren bald die bestehenden Abhängigkeiten ermitteln. Allein die Elemente hängen meist gruppenweise zusammen, manche können nur miteinander variiert werden; jedes Element wird gewöhnlich von mehreren andern und in verschiedener Weise beeinflußt. Dadurch wird also eine Kombination von Variationen notwendig. Wächst die Zahl der Elemente, so steigt die Zahl der durch den Versuch zu erprobenden Kombinationen, wie einfache Rechnungen lehren, so rasch, daß eine systematische Erledigung der Aufgabe immer schwieriger und schließlich praktisch unmöglich wird. Das willkürliche Experiment wäre, ohne eine gewisse vorher erworbene Erfahrung auf Grund unabsichtlicher Beobachtungen, in den meisten Fällen machtlos. Die im Dienste des biologischen Bedürfnisses erworbene Erfahrung erleichtert uns nun die Aufgabe wesentlich, indem sie uns ein rohes Bild der stärksten Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten bietet, welches allerdings für die ganz neuen wissenschaftlichen Zwecke einer starken Korrektur bedarf. Wenn wir also an eine experimentelle Untersuchung gehen, so wissen wir wenigstens ungefähr, von welchen Umständen wir vorläufig absehen können. Die genauere Ermittelung solcher Unabhängigkeiten ist aber sehr wichtig. Dadurch z.B., daß die an einem Körper durch verschiedene andere bestimmten Beschleunigungen aufeinander keinen Einfluß üben, daß dasselbe für sich durchkreuzende Strahlungen, stationäre elektrische und thermische Strömungen gilt, können wir in der Untersuchung derselben das Prinzip der Isolation, bei Kombination derselben aber das Prinzip der Superposition zur Anwendung bringen (P. Volkmann s. S. 141).

4. Es handle sich nun um die Ermittelung der Abhängigkeit der Erscheinungselemente voneinander. Da haben wir die qualitative von der quantitativen Abhängigkeit zu unterscheiden. Wir[203] ermitteln z.B. eine qualitative Abhängigkeit, wenn wir durch das Experiment erfahren, daß von den Tönen der diatonischen Tonleiter, die wir uns durch das bloße Gehör gefunden vorstellen, c und g konsonieren, c und h aber dissonieren. Ebenso ist es ein qualitatives Versuchsergebnis, daß ein bestimmtes Rot und Grün sich zu Weiß vereinigen lassen, während Rot und Blau sich zu Violett ergänzen. Qualitativ experimentiert auch ein Chemiker, der die Reaktion von Stoffen bestimmter sinnlicher Eigenschaften aufeinander untersucht, oder ein Pharmakologe, welcher die giftige, z.B. narkotische Wirkung gewisser Pflanzenstoffe auf den tierischen Organismus erprobt. Wenn wir dagegen die Abhängigkeit des Brechungswinkels vom Einfallswinkel, oder die Abhängigkeit des Fallraums von der Fallzeit zu bestimmen suchen, so stellen wir uns eine quantitative Aufgabe. Die einzelnen Winkel sind nicht so verschieden voneinander, miteinander nicht so unvergleichbar, wie etwa Rot und Grün; die ersteren lassen sich vielmehr in lauter gleiche Elemente zerlegen, und ein Winkel unterscheidet sich von dem andern nur durch die Zahl dieser gleichen Elemente. Ebenso läßt sich der Fallraum in gleiche Elemente teilen, desgleichen die Fallzeit u.s.w. Tragen wir nun die zusammengehörigen Werte von Fallraum und Fallzeit in eine Tabelle ein, so reduziert sich die ganze Abhängigkeit darauf, daß jetzt einer gewissen Anzahl Fallzeitelemente eine bestimmte von ersterer abhängige Anzahl Fallraumelemente entspricht. Die quantitative Abhängigkeit ist ein besonderer einfacherer Fall der qualitativen Abhängigkeit. Wenn sich nun gar eine Rechnungsregel von immer gleicher Form finden läßt, durch welche man aus der Zahl der Fallzeitelemente t die Zahl der Fallraumelemente s, (s = gt2/2), oder aus der Zahl der Einfallswinkelelemente α die Zahl der Brechungswinkelelemente β, (sinα/sinβ = n) ableiten kann, so wird das schwerfällige Mittel der Tabellen mit großem Vorteil durch diese Rechnungsregeln, Formeln oder Gesetze ersetzt oder vertreten. Zu diesem Vorteil kommt noch, daß durch das Zahlensystem, ohne neue Erfindung, ohne besondere Nomenklatur die Feinheit der Unterscheidung der besonderen, voneinander abhängigen Umstände beliebig weit getrieben werden kann. Bei der quantitativen Abhängigkeit liegt ein übersichtliches, anschauliches Kontinuum[204] von Fällen vor, während im Falle der qualitativen Abhängigkeit immer nur eine Anzahl von Individualfällen gesondert betrachtet werden muß.255 Natürlich wird man die Einfachheit, Gleichförmigkeit und Übersichtlichtkeit der quantitativen Behandlung überall einzuführen trachten, wo dieser Vorteil erreichbar ist. Dies ist möglich, sobald es gelingt für qualitativ ungleichartige Elemente quantitativ gleichartige, dieselben vollkommen charakterisierende Merkmale aufzufinden.256 Wenn man, statt die Tonqualitäten nach dem Gehör zu unterscheiden, die Höhe durch die Schwingungszahl charakterisiert, kann man die Konsonanz sofort als an die einfachsten rationalen Schwingungszahlenverhältnisse gebunden erkennen. Wie die verschiedenfarbigen Lichtstrahlen im Prisma gebrochen werden, muß im einzelnen beschrieben werden. Hat man aber die Farbenqualität durch die Wellenlänge (die Interferenzstreifenbreite unter bestimmten Umständen) charakterisiert, so findet sich alsbald eine Formel, welche den Brechungsexponenten aus der Wellenlänge ableitet. Die Naturwissenschaften zeigen ein entschiedenes Streben, soweit als möglich qualitative Abhängigkeiten durch quantitative zu ersetzen.

5. Die positive Untersuchung wird wesentlich erleichtert, wenn man zuvor alles ausschaltet, was auf die Elemente, deren Abhängigkeit von andern man prüfen will, keinen Einfluß übt, und dadurch das Gebiet der Untersuchung einschränkt. Ein schönes historisches Beispiel dieses Motivs liefert die Beugung am Rande von Schirmen, welche Newton auf eine Massenwirkung des Schirmes auf die Lichtteilchen zurückzuführen dachte. s'Gravesand und Fresnel zeigten aber, daß die Dicke und das Material des Schirmes auf das Beugungsphänomen ohne Einfluß und nur die Art der Begrenzung des Lichtes maßgebend ist. Brewster gelang es, den Perlmutterglanz und dessen Farbenschimmer auf einem Abdruck in Siegellack zu erhalten, wodurch die Form der Oberfläche allein als maßgebend nachgewiesen war. Le Monnier zeigte, daß hohle und massive Leiter von gleicher Form sich in Bezug auf die elektrische Ladung ganz[205] gleich verhalten, und schränkte dadurch die Untersuchung auf die Abhängigkeit der Ladung von der Größe und Form der Oberfläche ein.

6. Die Beseitigung dessen, was die zu verfolgende Abhängigkeit verdeckt oder stört, ist ungemein wichtig. Um die Brechung im Prisma rein zu beobachten, experimentiert Newton im verdunkelten Zimmer; er läßt sehr dünne Sonnenlichtbündel eintreten, damit die Teile dickerer Lichtbündel sich nicht stören und gegenseitig überdecken; er bildet die kleine Lichtöffnung durch eine Linse ab, um die Bilder verschiedenfarbiger Strahlen nebeneinander zu erhalten. Bei Untersuchung der Spiegel- und Linsenfehler blenden Foucault und Toepler das regelmäßig reflektierte und gebrochene Licht ab, und es gelangt nur das von den Fehlern herrührende, nun nicht mehr von anderem überdeckte und unterdrückte Licht rein zur Wahrnehmung, wodurch eine der feinsten optischen Methoden gewonnen ist.

7. Große Experimentatoren haben stets die Anordnung ihrer Versuche so vereinfacht, daß fast nur das zu Untersuchende sich äußerte und alle übrigen Einflüsse unmerklich wurden. Man vergleiche z.B. die geniale Art, in welcher Ramsden die thermische Längenausdehnung der Stäbe bestimmt, und die nicht minder sinnreiche Methode von Dulong und Petit zur Bestimmung der absoluten kubischen Wärmeausdehnung des Quecksilbers nach dem hydrostatischen Prinzip. Die Schriften der großen Forscher sind reich an Mustern dieser Art und können durch nichts ersetzt werden. Galilei weist ohne Luftpumpe das Gewicht der Luft nach, mißt bei seinen Fallversuchen kleine Zeiten durch Ausfließen von Wasser und läßt statt des freien Falles die Körper auf der schiefen Ebene herabrollen. Newton prüft die Gegenwirkung der Magnete durch Einschließen derselben in auf Wasser schwimmende Gläschen. Derselbe vergleicht seine errechnete Schallgeschwindigkeit mit dem Versuch, indem er in einem langen Gang, ein Fadenpendel von veränderlicher Länge beobachtend, auf das mehrfache Echo achtet. Die Ampèreschen, Faradayschen, Bunsenschen Apparate sind Muster von Einfachheit und Zweckmäßigkeit. Aber nicht nur bei absichtlich angestellten Versuchen hat man nach Einfachheit zu streben, sondern man soll von den großen Forschern auch[206] lernen, in ganz gewöhnlichen Vorkommnissen mehr zu sehen als gleichgültige Dinge. Die durch ein bestimmtes Interesse geschärfte Aufmerksamkeit vermag auch ohne besondere Veranstaltungen die Spuren wichtiger Zusammenhänge in der täglichen Umgebung zu erschauen. Wer sich diese Fähigkeit nicht erworben hat, wird auf experimentellem Wege schwerlich viele Entdeckungen machen. Huygens sieht in Siegellackstückchen, welche in wirbelndem Wasser sich in der Drehungsachse am Boden sammeln, Vorgänge, die ihn zu Gedanken über die Gravitation leiten. Das vollkommen scharfe Bild zarter monochromatisch beleuchteter Fliegenfüßchen, durch ein Prisma gesehen, ist für Newton ein Zeichen, daß monochromatisches Licht keine weitere prismatische Auflösung erfährt. In dem Haften eines großen flach aufliegenden Hutes auf einer Platte sieht Pascal eine hydrodynamische Erscheinung, eine Äußerung des Luftdruckes. Die Spuren von Farben an Sprüngen im Glase, die Hooke wahrgenommen hat, leiten ihn zur Aufeinanderlegung zweier Brillengläser, welche die vollständige Ringerscheinung zeigt, die Newton nachher genau quantitativ untersucht hat. An der Stanniolkapsel einer Weinflasche werden die meisten Menschen nichts Besonderes bemerken. Wer aber gewohnt ist auf Wärmeerscheinungen zu achten, fühlt sofort die reflektierte Strahlung seines eigenen Fingers, sobald er diesen ohne Berührung in die Kapsel taucht. An dem Felde einer schwingenden Saite meint man nichts besonderes zu sehen. Der geübte Akustiker sieht aber an einer Schattierung des Feldes die Obertöne, welche die Saite gibt. An dem gleichmäßigen Felde einer gestrichenen Saite erkennt man, daß jedes Element sein Feld mit konstanter Geschwindigkeit durcheilt. Sobald der Bogen abgesetzt wird, erhält das Feld einen stärkeren Rand; die frei schwingende Saite verweilt also an den Grenzen des Feldes verhältnismäßig länger. Ein zufälliges glänzendes Flitterchen auf der Saite verrät dem Beobachter bei einer raschen Augenbewegung durch das ausgezogene Nachbild des Flitterchens die Schwingungsform. Experimente mit den gewöhnlichsten Ustensilien, wie sie z.B. G. Tissandier257 in seinem bekannten Buche beschreibt,[207] sind deshalb recht förderlich, indem sie den Blick schärfen und auf meist gar nicht beachtete Dinge lenken.

8. Wenn in einem Komplex von Umständen ein Umstand B durch einen Umstand A bedingt ist, so wird zu erwarten sein, daß mit dem Eintreten von A auch B erscheint, mit dem Verschwinden von A auch B verschwindet, mit der Verstärkung von A auch B sich verstärkt und mit der Umkehrung von A auch B sich umkehrt. Es bedeute A die Temperatursteigerung, die Stärke des Magnetpols, den Druck, B hingegen bezw. die Gasspannung, den induzierten Strom, die Doppelbrechung eines durchsichtigen Körpers. Dieses Leitmotiv des Parallelismus, wie man es nennen könnte, welches schon J. F. W. Herschel258 angibt, ist ein sicherer Führer des Experimentierenden.

9. Wenn der Einfluß von A auf B nur gering ist, so daß die Variationen von B nur schwer zu beobachten sind, so gilt es, die letzteren zu verstärken. Galilei erläutert schon den Vorgang der Summation der Effekte an einer schweren Glocke, welche durch taktmäßige kleine Impulse, die stets in derselben Schwingungsphase angebracht werden, in ausgiebige Schwingungen gerät. Er erklärt auf diese Weise das Mitschwingen. Das Verfahren wird gegenwärtig angewendet; um durch die sogenannte ballistische Methode kräftige Ausschläge der Galvanometernadel mit sehr schwachen Strömen zu erzielen. Durch Vermehrung der stromleitenden Windungen vergrößert man bis zu einer gewissen Grenze den Ausschlag der Galvanometernadel bei schwachen Strömen (Multiplikator). Voltas Erfindung des Elektrophors hat den Weg gezeigt, durch Verwendung zweier Kondensator-Elektroskope eine kaum merkliche Elektrizitätsmenge zu multiplizieren, insbesondere den Prozeß der Duplikation oft nacheinander anzuwenden. Die Influenzmaschinen verwenden diesen Prozeß automatisch zur Erzeugung größerer Elektrizitätsmengen. Wenn Fresnel viele Prismen hintereinander stellt, um die geringe Doppelbrechung durch Druck in denselben sichtbar zu machen, wenn er in seinem Interferenzrefraktometer lange Lichtwege anwendet, um einen merklichen Gangunterschied der[208] Strahlen in trockener und feuchter Luft zu erzielen, wenn Faraday den polarisierten Strahl nach der Richtung der magnetischen Kraftlinien oft hin und her reflektiert, um in seinem schweren Glase die Drehung der Polarisationsebene deutlicher hervortreten zu lassen, so sind dies ebensoviele Beispiele der Häufung der Effekte. Maxwell hat an einer zähen Flüssigkeit durch Reibungszug momentane Doppelbrechung beobachtet, und ich habe dieselbe an halbflüssigen plastischen Massen bei Druck wahrgenommen. Beide Erscheinungen waren aber nur von kurzer Dauer. Kundt schloß nun solche Flüssigkeiten zwischen zwei lange konachsiale Zylinder ein, von welchen er den einen kontinuierlich rasch rotierte. Durch den langen Weg einerseits und durch den dauernden Reibungszug anderseits trat nun die Erscheinung kräftig, dauernd und leicht meßbar hervor.

10. Um ein Element zu bestimmen, dessen direkte Ermittelung unbequem, schwierig oder unmöglich ist, bedient man sich zuweilen der Substitution eines bekannten äquivalenten Elementes. Zur Bestimmung eines galvanischen Leitungswiderstandes setzt man z.B. an die Stelle desselben so viel vorher geaichten Rheostatendraht, daß alle Erscheinungen gleich bleiben. Als Hirn seine Versuche über die Wärmeproduktion eines arbeitenden und nicht arbeitenden Menschen anstellte, und hierbei einen Mann in ein großes Kalorimeter einschloß, in welchem er an einem Tretrad aufsteigen, absteigen oder sich ruhig verhalten konnte, war die produzierte Wärmemenge wegen der gleichzeitigen Verluste des Kalorimeters direkt schwer zu bestimmen. Deshalb wurde in Parallelversuchen der Mann durch einen Gasbrenner ersetzt, der in derselben Zeit denselben Effekt am Kalorimeter hervorbrachte, dessen Wärmeproduktion aber aus dem Gasverbrauch leicht bestimmt werden konnte.259 Joule komprimierte durch eine in dem Kompressionsgefäß eingeschlossene Pumpe Luft, während das Gefäß selbst in ein Kalorimeter versenkt war. Die Bestimmung der Kompressionswärme, welche der Kompressionsarbeit entsprach, war dadurch erschwert, daß die Reibungswärme der Pumpe zu ersterer Wärme sich hinzufügte. Ließ man aber die Pumpe durch dieselbe Zeit mit derselben Geschwindigkeit[209] leer gehen, so konnte man die Kompressionswärme indirekt rein bestimmen.260

11. Zur indirekten Bestimmung dient auch die Methode der Kompensation. Durch irgend einen Umstand wird ein schwer bestimmbares Element B hervorgerufen. Man fügt das bestimmbare Element – B hinzu, wodurch B wieder verschwindet, kompensiert, zugleich aber bestimmt ist. Bringt man zwei interferierenden Strahlen einen größeren Gangunterschied bei, so verschwindet das Interferenzstreifensystem, und der Gangunterschied ist eben deshalb durch Ausmessung der Verschiebung in Streifenbreiten nicht mehr direkt bestimmbar. Vernichtet man aber den Gangunterschied wieder durch Einschaltung von Glas bestimmbarer Dicke auf der vorher nicht verzögerten Seite, so ist der Gangunterschied kompensiert und indirekt bestimmt. So kann man auch den Galvanometerausschlag, der durch eine unbekannte Bestrahlung einer Thermosäule hervorgebracht wird, durch eine bekannte der Gegenseite zugeführte Bestrahlung vernichten und dadurch erstere bestimmen.

12. Das Prinzip der Kompensation ist noch in anderer Beziehung wichtig. Ein Umstand A bedingte das Eintreten von B; wenn aber A außerdem den Eintritt von N bestimmt, welches selbst wieder auf B Einfluß nimmt, so wird hierdurch die reine Beziehung von A und B getrübt. Es muß also dafür gesorgt werden, N zu kompensieren. Jamin leitet zwei interferierende Lichtbündel durch gleich lange Röhren mit Wasser. Wird in der einen Röhre das Wasser unter Druck gesetzt, so wird das betreffende Lichtbündel sofort verzögert, aber mehr als der Verdichtung des Wassers allein entspricht, da die Röhre sich zugleich etwas verlängert. Letzterer Umstand wird aber bis auf eine leicht anzubringende Korrektur kompensiert, wenn man beide Röhren in eine weitere Röhre mit Wasser (ohne Druck) legt. Das Prinzip der Kompensation ist auch in technischer und praktisch-wissenschaftlicher Richtung wichtig, wo es sich um das Konstanthalten gewisser Umstände, z.B. um die Erhaltung der Länge eines zeitmessenden Pendels handelt.[210]

13. Die Substitution, besonders aber die Kompensation führt in ihrer Verfeinerung zu den sogenannten Nullmethoden. Wenn kleine von A abhängige Änderungen von B untersucht werden sollen, so erzielt man die höchste Empfindlichkeit, indem man B durch Kompensation unwahrnehmbar macht, so daß es erst bei Änderung von A hervortritt. Es sei A die Temperatur, B der von derselben abhängige galvanische Leitungswiderstand. Man kompensiert in einer galvanometrischen Aufstellung B bis zur gänzlichen Unterdrückung des Anschlages durch einen gleichen Widerstand (Wheatstonesche Brücke). Sobald aber B durch Temperatursteigerung wächst, natürlich ohne Änderung des kompensierenden Widerstandes, wird diese Änderung von B durch den Ausschlag sofort angezeigt (Bolometer). Legt man an zwei Punkte derselben Niveaulinie einer durchströmten Platte die Drahtenden eines Galvanometers, so gibt dieses keinen Ausschlag. Die geringste asymmetrische Verschiebung der Niveaulinien, etwa durch magnetische Änderung des Leitungswiderstandes, bewirkt aber sofort einen Ausschlag (Hallsches Phänomen). Die Anwendung des Soleilschen Doppelquarzes bei Versuchen über Drehung der Polarisationsebene ist ebenfalls ein Beispiel der Nullmethode.

14. Vorgänge, welche für unsere direkte Beobachtung zu rapid sind, müssen natürlich indirekt ermittelt werden. Man benützt hierzu die Methode der Zusammensetzung. Der unbekannte zu untersuchende Vorgang liefert die eine Komponente, welche mit einer anderen bekannten Komponente eine beobachtbare Resultante gibt. Die vertikale Fallbewegung verrät ihre Eigentümlichkeit durch die entstehende Parabel, wenn sie mit einer gleichförmigen Horizontalbewegung von bekannter Geschwindigkeit kombiniert wird, wie in dem verbreiteten Apparat von Morin, oder bei Zusammensetzung mit einer harmonischen horizontalen Schwingung wie in dem Apparat von Lippich, oder am einfachsten am horizontal ausgeworfenen Wasserstrahl. Eine mächtige Anregung zur Ausbildung dieser Methode ging von Wheatstone aus, als er den rotierenden Spiegel zur Ermittlung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit und der Dauer der elektrischen Entladung anwendete. Die Vervollkommnung dieses Verfahrens durch Feddersen führte zur genauen Kenntnis der elektrischen[211] Oszillationen. Eine andere Ausbildung liegt in Foucaults Methode zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit. Sehr zahlreich sind die akustischen Anwendungen des rotierenden Spiegels.

Die Wahl einer optischen Bewegung als bekannte Komponente liegt so nahe, weil durch diese der zu untersuchende Vorgang in keiner Weise beeinflußt wird. Auch Fizeaus Verfahren zur Messung der Lichtgeschwindigkeit ist ein schönes Beispiel einer genialen Anwendung dieses Mittels. Die Benützung rasch rotierender Scheiben und Zylinder zur Aufnahme von Funkenmarken behufs sonst schwieriger Zeitbestimmungen, etwa bei Projektil-, Schall- oder Entladungsversuchen, die stroboskopische Methode, das Wheatstonesche Kaleidophon, die Lissajoussche Stimmmethode, das Helmholtzsche Vibrationsmikroskop u.s.w. gehören alle hierher. Die Kombination der Ausströmungsgeschwindigkeit eines explosiven Gases mit dessen Explosionsgeschwindigkeit zur Bestimmung der letzteren, die Benützung der Schallgeschwindigkeit zur Messung anderer Geschwindigkeiten ist nicht mehr ungewöhnlich, und es ist nicht abzusehen, warum die Lichtgeschwindigkeit nicht in ähnlicher Weise zu noch viel feineren Zeitbestimmungen dienen sollte. Die Komposition unbekannter Prozesse mit Bewegungen empfiehlt sich aus dem bezeichneten Grunde am besten. Es ist aber nicht von vornherein auszuschließen, daß auch die Kombination zweier beliebiger Prozesse, von welchen der eine zu erforschen, der andere schon bekannt ist, wertvolle Ergebnisse liefern könnte, wenn nur der eine vom andern unabhängig oder in bekannter Weise beeinflußt ist.

15. Von besonderem Interesse sind solche Experimente, durch welche nicht nur die Zusammengehörigkeit zweier Werte eines Paares von Umständen A und B festgestellt, sondern die Übersicht über ein ganzes System von zusammengehörigen Werten gewonnen wird. Die Hooke-Newtonsche Glaskombination liefert schon ein solches Experiment. Wenn Newton seine Glaskombination durch das Spektrum führt und die Kontraktion der Ringe vom Rot gegen Violett beobachtet, so stellt er wieder ein solches Experiment an. Löst man die Beugungserscheinung einer engen, sehr kurzen, vertikalen Spalte nach der Spaltenrichtung,[212] also senkrecht zur Beugungsrichtung spektral auf,261 so erhält man die verschiedenen monochromatischen Beugungserscheinungen zugleich untereinander gesetzt. Die Achsenbilder der chromatischen Polarisation der Kristallplatten, der von Spottiswoode und mir angegebene rotierende Polarisationsapparat, Kundts Bestäubung pyroelektrischer Kristalle mit dem Gemisch von Mennige und Schwefelblumen, Chladnis Sandfiguren auf tönenden Platten, die bekannten magnetischen Kurven sind andere Beispiele der Experimente, die Herschel262 »collective instances«, Jevons263 »collective experiments« nennt.

16. Bei jedem Experiment muß man die möglichen Fehler beachten, um dasselbe nicht irrtümlich auszulegen. Insbesondere ist dies aber dann nötig, wenn man nur minimale Anzeigen zu erwarten hat. Als Faraday den Einfluß eines starken Elektromagneten auf schwach magnetische und diamagnetische Substanzen untersuchte, versäumte er nicht, den bloßen Aufhängeapparat, die Papiere und Gläschen, in welche die zu untersuchenden Körper eingeschlossen wurden, für sich auf das magnetische Verhalten zu prüfen. Erst wenn die Aufhängevorrichtung nicht reagierte, schenkte er den Versuchen mit der Substanz selbst Vertrauen. Ein solcher Versuch mit Ausschaltung des eigentlichen Versuchsobjektes heißt ein blinder Versuch. Dieselbe Vorsicht ist geboten, wenn man z.B. eine sehr kleine zu untersuchende Elektrizitätsmenge durch Duplikation vergrößern muß, um sie deutlich beobachtbar zu machen. Da muß man sich überzeugen, ob nicht die Kondensatorelektroskope noch eine rückständige Ladung von einem früheren Versuch hatten, oder ob nicht die Prozedur des Duplizierens selbst eine Ladung entwickelt. Bevor der Chemiker den Marshschen Apparat zur Prüfung einer Substanz auf Arsengehalt verwendet, überzeugt er sich, ob die Arsenanzeige nicht schon erfolgt, ohne daß die zu prüfende Substanz eingebracht worden wäre, ob also nicht die Substanzen des Apparates selbst Arsen enthalten.

17. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt, daß Experimente mit negativem Ergebnis niemals als definitiv entscheidend angesehen[213] werden dürfen. Hooke vermochte den Einfluß der Entfernung von der Erde auf das Gewicht der Körper mit seinen Wagen nicht nachzuweisen, dies gelingt aber ohne Schwierigkeit mit den viel empfindlicheren Wagen der Gegenwart. J. F. W. Herschel gelang es nicht, galvanische oder magnetische Drehung der Polarisationsebene zu beobachten, wohl aber Faraday. Die Versuche J. Kerrs über die elektrische Doppelberechnung der Dielectrica wurden lange vor ihm oft mit negativem Erfolg angestellt. Bennet versuchte vergebens den Druck des Lichtes auf die bestrahlte Fläche nachzuweisen, Crookes gelang dieser Nachweis mit seinem Radiometer, A. Schuster aber zeigte, daß dieser Druck von inneren Kräften des Apparates herrührt und nicht durch heranfliegende Teilchen erklärt werden kann. So bleibt also sowohl der Ausfall, als auch die Auslegung eines negativen Experimentes problematisch.

18. Die hier dargelegten formgebenden Motive des Experimentes sind von wirklich ausgeführten Experimenten abstrahiert. Die Aufzählung derselben soll keine vollständige sein, denn diese Motive werden durch geniale Forscher immer noch vermehrt. Die Aufzählung soll aber auch keine Einteilung vorstellen, denn diese Motive schließen sich nicht allgemein aus. In einem Experiment können mehrere derselben vereinigt sein. Fizeaus und Foucaults Methoden zur Bestimmung der Lichtgeschwindigkeit enthalten z.B. das Motiv der Zusammensetzung des Bekannten mit dem noch Unbekannten zu einem beobachtbaren Resultat, aber auch das Motiv der Häufung der Effekte, und auch noch die zeitliche Stabilisierung einer momentanen Erscheinung. Bei Fizeaus Bestimmungen sind von der Geschwindigkeit abhängige Maxima und Minima der Helligkeit, bei Foucaults Messungen dagegen von den Geschwindigkeiten abhängige Verschiebungsgrößen eines Bildes maßgebend.264

19. Betrachten wir nun noch die Ideen zur Erweiterung unserer Kenntnisse durch experimentelle Untersuchungen. Alle unsere Ideen können nur durch die bisher gewonnene Erfahrung entstanden[214] sein und durch die künftige weiter entwickelt werden. Die Gedanken, welche der Erfahrung vorauseilen und die Erwartung, die das Experiment vorbildet, können nur Übereinstimmungen oder Unterschiede des Neuen und des Bekannten betreffen. Wie weit darf man ein experimentelles Ergebnis als gültig betrachten? Wie weit muß dasselbe bei veränderten Umständen eingeschränkt werden? Diese Fragen bezeichnen die Hauptideen des an die experimentelle Untersuchung herantretenden Forschers. Die Spezialideen sollen wieder aus historisch wichtigen Fällen abstrahiert werden.

20. Man kennt ein experimentelles Ergebnis und versucht nun rein kollektiv dasselbe möglichst weit auszudehnen. Es gibt magnetische Eisenerze. Sind noch andere Körper magnetisch? Ist der Doppelspat der einzige doppelt brechende Körper? Welche Körper können durch Reibung elektrisch werden? Welche sind Leiter, welche Isolatoren? Wie weit reicht die Verbreitung der Phosphoreszenz?265 Hierher gehört auch die Aufsuchung aller Fälle, in welchen eine durch Einzelbeobachtung entdeckte Erscheinung auftritt. Oerstedt sucht alle möglichen Lagen der Magnetnadel gegen den Stromleiter und deren Verhalten zu bestimmen, nachdem er einen Fall der Ablenkung beobachtet hat, und gelangt so zur vollständigen Kenntnis des magnetischen Feldes des Stromleiters.

21. Die Ausdehnung einer Untersuchung von einem bekannten Fall auf analoge Fälle wird besonders einladend sein. Die Analogien zwischen Wärme, Elektrizität, mechanischen und Diffusionsvorgängen u.s.w. haben zahlreiche Experimente veranlaßt. Es sei nur die Ficksche Untersuchung über den Diffusionsstrom erwähnt. Magnete stehen in Wechselwirkung; ein Strom mit einem Magnet auch. Der Strom wirkt auf den Magnet ähnlich wie ein Magnet. Sollten sich Ströme gegen Ströme magnetähnlich verhalten? Arago hat darauf hingewiesen, daß man bei Übertragungen nach Analogie auch auf das Auftreten von Unterschieden gefaßt sein muß. Magnete und weiches Eisen ziehen sich gegenseitig an; weiches Eisen verhält sich in diesem Falle[215] magnetähnlich; dennoch verhalten sich weiche Eisenstücke gegeneinander indifferent. Allerdings verhält sich der Strom und weiches Eisen dem Magnet gegenüber nicht ganz übereinstimmend; ersterer zeigt in diesem Falle Polarität, letzteres aber nicht.

22. Wo Erscheinungen in verschiedenem Grade auftreten, wird man auch an die Möglichkeit eines Gegensatzes denken dürfen. Verschieden starke Magnetismen legen den Gedanken eines entgegengesetzten Verhaltens, des diamagnetischen, nahe. Kennt man die eine Art der Doppelbrechung, etwa die als negativ bezeichnete, so sucht man nach dem Gegensatz, nach der positiven. Nicht alles, was man durch diesen Ideengang hätte finden können, ist auf diesem Wege wirklich gefunden worden, sondern wurde oft durch Zufall entdeckt, wie z.B. zu der bereits bekannten einen Art der Elektrizität die andere durch Dufay. Nicht jeder Gegensatz, der zuerst als solcher erscheint, muß es wirklich sein. So faßt man Magnetismus und Diamagnetismus heute nicht als Gegensatz, sondern besser als Gradunterschiede gegen ein allgemein verbreitetes Medium auf, so wie man in der Luft aufsteigenden Körpern nicht mehr absolute Leichtigkeit, negative Schwere, sondern nur geringeres Gewicht als dem gleichen Volum Luft zuschreibt. Ähnliches kann man über den Gegensatz von Wärme und Kälte, von positiver und negativer Elektrizität u.s.w. sagen. Solche Wandlungen gehören übrigens in das Gebiet der Theorie.

23. Der Kontinuität der Variation der Umstände entspricht eine Kontinuität der Erwartung in Bezug auf die experimentellen Ergebnisse. Ungleicher Druck in verschiedener Richtung erzeugt anstarren Körpern Doppelbrechung. Nun ist der Übergang von der Starrheit zur Flüssigkeit in Bezug auf die Rigidität und Viskosität ein ganz allmählicher. Man darf also erwarten, daß auch plastische Körper und zähe Flüssigkeiten durch passenden Druck oder Zug Doppelbrechung erlangen werden, wie es wirklich beobachtet worden ist. Ja, da keine Flüssigkeit ganz ohne Rigidität oder Viskosität sein wird, so wird es nur auf die Größe der Kräfte und die Geschwindigkeit der Deformationen ankommen, ob die Doppelbrechung bemerklich wird. Auch zwischen Gasen und Dämpfen finden wir eine kontinuierliche Variation der Eigenschaften, weshalb der Gedanke, alle Gase bei entsprechender[216] Temperatur durch Druck zu verflüssigen, sich ganz natürlich ergab. Es gibt starre und flüssige Körper, welche die Polarisationsebene drehen; man kann vermuten, daß dies auch bei Dämpfen und Gasen vorkommen wird. Die magnetische Drehung ist für jeden Aggregatzustand nachgewiesen, zuletzt für Gase 1879 von Kundt und gleichzeitig unabhängig von Lippich. Gibt es noch einen vierten Aggregatzustand? (Crookes.)

24. Die Variation einer Erscheinung bei Variation der Umstände erregt den Wunsch, die erstere auch bei den extremen Werten der letzteren kennen zu lernen. So untersucht man das Verhalten der Körper bei den höchsten und tiefsten erreichbaren Temperaturen in Bezug auf Härte, Elastizität, galvanischen Leitungswiderstand u.s.w. Man setzt die schmelzenden, frierenden, verdampfenden Körper unter den höchsten erreichbaren Druck. Man untersucht, die Eigenschaften des vollkommensten Vakuums, trachtet die größten elektrischen Spannungen, den stärksten Strom zu erzielen. Man unterwirft die längsten und die kürzesten Lichtwellen der Untersuchung. Bei Versuchen dieser Art kann man immer auf Ergiebigkeit rechnen.

25. So wie wir einerseits durch Aufsuchung möglichst weitreichender Übereinstimmungen unsere Erfahrung bereichern, geschieht dies auch durch die den jedesmaligen Umständen entsprechende Restriktion, Spezialisierung, Individualisierung. Kennen wir auch die Brechung als eine allgemeine bei jedem Übergang aus einem Medium ins andere auftretende Erscheinung, so bleibt uns noch der für jedes Medienpaar charakteristische Brechungsexponent, oder die jedem Medium entsprechende Fortpflanzungsgeschwindigkeit zu bestimmen. In solchen Restriktionen können ebenso große Entdeckungen liegen, wie in Verallgemeinerungen. Man denke an die Newtonsche Entdeckung der Dispersion durch Zuweisung besonderer Brechungsexponenten an die besonderen Farben, an die Klassifikation der Farben nach Periodenlängen. Alle quantitativen Bestimmungen der für Stoffindividuen charakteristischen Konstanten, wie Dichten, spezifische Wärmen, Ausdehnungs- und Spannungskoeffizienten, Leitungswiderstände, Dielektrizitätskonstanten und Magnetisierungszahlen u.s.w. gehören hierher.

26. Ein fruchtbares Leitmotiv ist das der vereinigten Wirkung[217] und Gegenwirkung. Schärfer als durch einen Namen läßt es sich so formulieren. Wenn der Umstand A das Eintreten des Umstandes + B bedingt, so bedingt der Umstand + B das Eintreten von – A, des Gegenteils von A. Beispiel hierfür ist in der Mechanik Druck und Gegendruck. Erwärmtes Gas dehnt sich aus, unter Druck sich ausdehnendes Gas kühlt sich ab. Der Strom treibt den Magnetpol, der Magnetpol den Strom in entgegengesetztem Sinne. Der Widerstand wird durch den Strom erwärmt, Erwärmung des Widerstandes schwächt den Strom. Der dauernde Strom macht das Eisen zum Magnet, der angenäherte Magnet, oder der Magnet von wachsender Intensität, erzeugt einen Strom von der Dauer der Änderung, welcher jenen Magnet zu entfernen, bezw. zu schwächen strebt. Wenn der Seebecksche Thermostrom durch die erwärmte Berührungsstelle von M zu N fließt, so wird nach Peltier266 der von M zu N fließende Strom die passierte Berührungsstelle abkühlen. Bei weitem wieder nicht alle Phänomene, zu welchen dieses Motiv hätte leiten können, sind auf diesem Wege gefunden worden. Faraday sucht als Gegenerscheinung zur Erregung des Elektromagneten durch den Strom eine Stromerregung durch Einlegen eines Magnetkerns in die Drahtspule. Er fand aber nur beim Einführen oder Entfernen des magnetischen Kerns den momentanen »induzierten« Strom. Auch Peltier suchte nicht die Gegenerscheinung zur Seebeckschen Erscheinung. Er denkt an einen Einfluß der Wärmeleitungsfähigkeit der Metalle bei der Seebeckschen Erscheinung. Indem er die Metalle der Thermosäule durch den Strom erwärmt, findet er eine Ungleichheit der Erwärmung der Lötstellen je nach dem Stromsinne. Durch Einschließen eines dicken267 Wismut- und eines ebensolchen Antimonstabes in das Gefäß eines Luftthermometers ergibt sich Erwärmung durch den positiven Strom vom Antimon zum Wismut, aber eine unerwartete Abkühlung durch den entgegengesetzten Stromsinn. Wenn wir zu einer Erscheinung die Gegenerscheinung suchen, so kann uns das oben bezeichnete Motiv wohl einen Fingerzeig geben, allein es vermag uns nicht allein zu leiten. Ein dauernder Strom kann wohl einen Magnet[218] erzeugen, allein ein ruhender Magnet kann keinen Strom hervorbringen, der ja Arbeit ohne Energieverbrauch repräsentieren würde. Energieprinzip und Induktionsgesetz zusammen liefern erst ein vollständig geschlossenes System von Erscheinungen und Gegenerscheinungen. Das obige Motiv bedarf also einer Ergänzung durch Spezialerfahrungen. Dies liegt daran, daß wir in den untersuchten Phänomenen selten einfache, reine und unmittelbare Zusammenhänge vor uns haben. Von zwei in unmittelbarer Wechselbeziehung stehenden Körpern kann der eine nur auf Kosten des anderen Bewegungsquantität, Wärmemenge, Elektrizitätsmenge u.s.w. erhalten. Wären alle Verhältnisse so einfach, so könnte das bezeichnete Motiv sehr sicher leiten. Bei vermittelten Wechselbeziehungen ist die Sache nicht so einfach, und die direkte Umkehrung ist unzulässig.268[219]

252

G. A. Colozza, L'Immaginatione nella scienza. Torino 1900. p. 156.

253

Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwicklung von Erfindungen und Entdeckungen. Popul.-wissensch. Vorlesungen. 3. Aufl. 1903. S. 287 u. f.

254

Claude Bernard erteilt den Rat, bei der experimentellen Untersuchung von jeder Theorie abzusehen, die Theorie vor der Tür zu lassen. Duhem wendet mit Recht ein, daß dies in der Physik, wo das Experiment ohne Theorie ganz unverständlich ist, unmöglich sei. Ich meine, es ist in der Physiologie nicht viel anders. In der Tat kann man nur empfehlen, achtzugeben, ob der Ausfall des Experimentes überhaupt zu der mitgebrachten Theorie paßt. Vgl. Duhem (La Théorie physique, S. 297 u. f.).

255

Über das Prinzip der Vergleichung. Popul. Vorlesungen. S. 263 u. f.

256

Analyse der Empfindungen. 4. Aufl. 1903. S. 209.

257

Tissandier, La Physique sans appareils. Paris, 7me édit.

258

J. F. W. Herschel, A preliminary discourse on the study of natural philosophy. London 1831. p. 151 u. f.

259

Hirn, Théorie mécanique de la chaleur. Paris 1865. S. 26-34.

260

Joule, On the changes of temperature produced by the rarefaction and condensation of air. Phil. Mag. 1845.

261

Fraunhofer, Gesammelte Schriften. München 1888. S. 71.

262

Herschel, a. a. O. S. 185.

263

W. S. Jevons, The Principles of science. London 1892. S. 447.

264

Foucault, Recueil des travaux scientifiques. Paris 1878. S. 197. Foucault charakterisiert seine Methode als »l'observation d'une image fixe d'une image mobile«, womit mir übrigens das Wesentliche nicht bezeichnet zu sein scheint.

265

J. P. Heinrich, Die Phosphoreszenz der Körper. Nürnberg 1820. – A. E. Becquerel, Sur la phospho rescence par insolation. Ann. chim. phys. T. 22. 1848.

266

L'Institut 1834. 21. April und 11. August.

267

Weil dadurch die Peltiersche Temperaturänderung der Lötstellen gegen die Joulesche-Erwärmung deutlich hervortritt.

268

Vgl. Analyse der Empfindungen S. 69-76.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 201-220.
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