Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie.485

[353] 1. Für den tierischen Organismus sind die Beziehungen der Teile des eigenen Leibes zueinander und der physikalischen Objekte zu den Teilen dieses Leibes zunächst von der höchsten Bedeutung. Auf dieselben gründet sich das physiologische System der Raumempfindungen. Kompliziertere Lebensbedingungen, die keine einfache und direkte Befriedigung der Bedürfnisse mehr zulassen, bewirken eine Steigerung der Intelligenz. Das physikalische, insbesondere auch das räumliche Verhalten der Körper zueinander kann dann ein mittelbares, indirektes Interesse gewinnen, welches das Interesse an den augenblicklichen Empfindungen weit übersteigt. Hierdurch entwickelt sich ein räumliches Weltbild, erst instinktiv, dann handwerksmäßig, endlich wissenschaftlich, in Form der Geometrie. Geometrisch sind die Beziehungen der Körper, insofern dieselben sich durch Raumempfindungen bestimmt zeigen oder in solchen ihren Ausdruck finden. So wie es ohne Wärmeempfindungen keine Wärmelehre gäbe, so auch keine Geometrie ohne Raumempfindungen. Allein Wärmelehre und Geometrie bedürfen noch der Erfahrungen über Körper, d.h. beide müssen über das engbegrenzte Sinnesgebiet, das ihre eigentümliche Grundlage bildet, hinausgreifen.

2. Selbständige Bedeutung hat die einzelne Empfindung nur auf der tiefsten Stufe des tierischen Lebens. So bei der Reflexbewegung, bei Beseitigung eines unangenehmen Hautreizes, beim Schnappreflex des Frosches u.s.w. Bei höherer Entwicklung richtet sich die Aufmerksamkeit nicht auf die Raumempfindungen[353] allein, sondern auf jene innigen Komplexe von Sinnesempfindungen mit Raumempfindungen, welche wir Körper nennen. Der Körper erregt unser Interesse und ist das Ziel unserer Tätigkeit. Die Art dieser Tätigkeit wird aber dadurch mitbestimmt, wo der Körper sich befindet, ob nah oder fern, ob oben oder unten u.s.w., d.h. durch welche Raumempfindungen er charakterisiert ist. Dadurch ist es bedingt, wie, durch welche Reaktion, der Körper erreichbar ist, ob durch Ausstrecken des Armes, durch eine größere oder geringere Anzahl von Schritten, durch Schleudern, Werfen u.s.w. Die Menge der empfindenden Elemente, welche der Körper erregt, die Menge der Orte, welche derselbe deckt, das Volumen des Körpers, entspricht in gleichartigen Fällen der Quantität der Bedürfnisbefriedigung und hat demnach eine biologische Bedeutung. Wenn unsere Gesichts- und Tastempfindungen zunächst auch nur durch die Oberfläche der Körper ausgelöst werden, so drängen doch mächtige Associationen gerade den primitiven Menschen dazu, sich mehr vorzustellen, oder wie er meint, mehr wahrzunehmen, als er beobachtet. Er stellt sich auch die von der allein wahrgenommenen Oberfläche eingeschlossenen Orte materiell erfüllt vor. Dies gilt besonders beim Erblicken und Ergreifen schon einigermaßen bekannter Körper. Es würde sogar eine bedeutende Abstraktion erfordern, sich zum Bewußtsein zu bringen, daß man nur die Oberfläche wahrnimmt. Eine solche Abstraktion kann man dem primitiven Menschen nicht zumuten.

3. Wichtig in dieser Beziehung sind auch die eigentümlichen typischen Formen der Beute- und Gebrauchsobjekte. Besondere Formen, d.h. besondere Komplexe von Raumempfindungen, welche der Mensch durch den Verkehr mit der Umgebung kennen lernt, sind schon rein physiologisch unzweideutig charakterisiert. Die Gerade und die Ebene zeichnen sich durch ihre physiologische Einfachheit vor anderen Formen aus, ebenso der Kreis und die Kugel. Symmetrische und geometrisch ähnliche Formen offenbaren sich schon durch rein physiologische Eigenschaften als verwandt. Die Mannigfaltigkeit an Gestalten, die wir aus der physiologischen Erfahrung kennen, ist nicht unbedeutend. Bei Beschäftigung mit körperlichen Objekten tritt die physikalische Erfahrung bereichernd hinzu.[354]

4. Die rohe physikalische Erfahrung drängt uns dazu, den Körpern eine gewisse Beständigkeit zuzuschreiben. Wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen, nehmen wir diese Beständigkeit auch für die einzelnen Merkmale des Komplexes »Körper« an. Wir denken uns auch die Farbe, die Härte, die Form u.s.w. als beständig. Wir sehen insbesondere den Körper als räumlich beständig, unzerstörbar an. Diese Voraussetzung der räumlichen Beständigkeit, räumlichen Substanzialität, kommt eben in der Geometrie zum Ausdruck. Die physiologisch-psychologische Organisation neigt schon für sich zur Betonung der Beständigkeiten. Denn allgemeine physikalische Beständigkeiten müssen auch in dieser sich aussprechen, welche ja selbst einen physikalischen Fall darstellt; besondere physikalische Beständigkeiten aber werden doch in der Anpassung der Art wirksam. Indem das Gedächtnis die Bilder der wahrgenommenen Körper in den ursprünglichen Formen und Größen aufleben läßt, bedingt es das Wiedererkennen derselben Körper, und liefert so die erste Grundlage des Eindrucks der Beständigkeit. Die Geometrie muß aber noch besondere individuelle Erfahrungen heranziehen.

5. Ein Körper K entferne sich von einem Beobachter A, indem ersterer aus der Umgebung FGH rasch in die Umgebung MNO versetzt wird. Für den optischen Beobachter A wird hierbei der Körper K kleiner und im allgemeinen von anderer Form. Für einen optischen Beobachter B jedoch, der sich mit K bewegt, und gegen K dieselbe Stellung beibehält, bleibt K unverändert. Auch für den greifenden, haptischen Beobachter gilt Analoges, wenngleich die perspektivische Verkleinerung, weil der Tastsinn überhaupt kein Fernsinn ist, wegfällt. Die Wahrnehmungen von A und B müssen nun widerspruchslos vereinigt werden, und diese Forderung wird besonders dadurch dringend, daß derselbe Beobachter abwechselnd die Rolle von A und B übernehmen kann. Sie können nur vereinigt werden, indem man K gewisse konstante von der Lage gegen andere Körper unabhängige räumliche Eigenschaften zuerkennt. Man erkennt die Raumempfindungen des Beobachters A, die durch K bestimmt sind, als abhängig von andern Raumempfindungen (der Lage von K gegen den Leib des Beobachters A). Die von K an A[355] bestimmten Raumempfindungen sind aber unabhängig von andern Raumempfindungen, welche die Lage des K gegen B oder gegen FGH ... MNO charakterisieren. In dieser Unabhängigkeit liegt das Konstante, um das es sich handelt. Die Grundvoraussetzung der Geometrie beruht also auf einer, wenn auch idealisierten, Erfahrung.

6. Sollen die erwähnten Erfahrungen auffallend und mit voller Bestimmtheit sich ergeben, so muß der Körper K ein sogenannter starrer Körper sein. Wenn die mit drei distinkten Sinnesempfindungen verknüpften Raumempfindungen unverändert bleiben, so ist hiermit auch die Unveränderlichkeit des ganzen Komplexes der Raumempfindungen gegeben, welcher durch einen starren Körper bestimmt ist. Diese Festlegung der von dem Körper ausgelösten Raumempfindungen durch drei Raumempfindungselemente charakterisiert also sinnesphysiologisch den starren Körper. Dies gilt in gleicher Weise für den Gesichts- und Tastsinn. Wir denken bei dieser Benennung nicht an die physikalischen Bedingungen der Starrheit, wobei wir in verschiedene Sinnesgebiete übergreifen müßten, sondern an die bloße, dem Raumsinn gegebene Tatsache. Wir betrachten hier im Gegenteil jeden Körper als geometrisch starr, solange er die angegebene Eigenschaft tatsächlich hat, also auch eine Flüssigkeit, solange sich deren Teile gegeneinander nicht bewegen.

7. So sehr es immer wieder und mit starkem Recht betont wird, daß sich die Geometrie nicht mit physischen, sondern mit idealen Objekten beschäftigt, so kann man anderseits nicht bezweifeln, daß dieselbe aus dem Interesse für die Raumverhältnisse der physischen Körper entsprungen ist. Die Spuren hiervon trägt sie deutlich an sich, und nur durch Beachtung dieser Spuren wird der Entwicklungsgang derselben ganz verständlich. Unser Wissen über das räumliche Verhalten der Körper gründet sich auf die Vergleichung der durch dieselben ausgelösten Raumempfindungen. Auch ohne irgend welche künstliche oder wissenschaftliche Hilfsmittel erwerben wir uns eine ausgiebige Raumerfahrung. Wir vermögen ungefähr zu beurteilen, ob starre Körper, die wir nebeneinander in ungleicher Lage, in verschiedener Entfernung wahrnehmen, nacheinander in gleiche Lage gebracht, nahe gleiche oder ungleiche Raumempfindungen auslösen[356] werden. Wir wissen ungefähr, ob ein Körper einen andern decken, ob ein horizontal liegender Stab zu einer gewissen Höhe hinanreichen kann. Die Raumempfindungen unterliegen jedoch physiologischen Umständen, die für die verglichenen Glieder nie ganz identisch sein können. Genau genommen muß auch immer die Gedächtnisspur einer Empfindung mit einer eigentlichen Empfindung verglichen werden. Wenn es sich also um das genaue räumliche Verhalten der Körper gegeneinander handelt, müssen wir uns Merkmale derselben verschaffen, welche von den wenig kontrollierbaren physiologischen Umständen möglichst unabhängig sind. Dies geschieht durch Vergleichung der Körper mit Körpern. Ob ein Körper A einen andern B deckt, ob einer genau an die vom andern eingenommenen Orte gebracht werden kann, d.h. ob beide unter gleichen Umständen dieselben Raumempfindungen auslösen, läßt sich mit großer Genauigkeit beurteilen. Wir betrachten solche Körper als räumlich, geometrisch in jeder Beziehung gleich, kongruent. Die Art der Empfindungen ist hierbei gar nicht mehr maßgebend; es handelt sich nur mehr um deren Gleichheit oder Ungleichheit. Sind beide Körper starr, so können wir alle Erfahrungen, die wir an dem einen, etwa dem leichter beweglicheren, handlicheren Maßstab A gewinnen, auch auf den andern B übertragen. Auf den Umstand, daß es weder möglich noch notwendig ist, für jeden Körper einen besonderen Vergleichskörper oder Maßstab zu verwenden, kommen wir noch zurück. Die bequemsten, wenn auch nur in roher Weise verwendbaren Vergleichskörper, deren Unveränderlichkeit beim Transport wir stets vor den Augen haben, sind unsere Hände und Füße, unsere Arme und Beine. Die Namen der ältesten Maße zeigen auch deutlich, daß wir ursprünglich mit Handbreiten, Fußlängen, Armlängen, Schrittweiten u.s.w. gemessen haben. Mit der Einführung konventioneller, aufbewahrter, körperlicher Maße beginnt nur eine Periode größerer Genauigkeit der Messung; das Prinzip derselben bleibt das gleiche. Der Maßstab ermöglicht uns die Vergleichung schwer transportabler oder überhaupt praktisch unbeweglicher Körper.

8. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß nicht die räumlichen, sondern vor allem die materiellen Eigenschaften der Körper das stärkste Interesse für uns haben. Dieser Umstand[357] äußert sich gewiß auch in den Anfängen der Geometrie. Das Volumen des Körpers kommt instinktiv als Quantität der materiellen Eigenschaften in Betracht, und bildet als solches ein Streitobjekt, lange vor jeder tieferen geometrischen Einsicht. Hiermit gewinnt aber die Vergleichung, die Messung der Volumina schon ihren Wert, und stellt sich unter die ersten und wichtigsten Aufgaben der primitiven Geometrie. Die ersten Volumenmessungen wurden wahrscheinlich durch Hohlmaße für Flüssigkeiten und Früchte vorgenommen. Dieselben hatten also den Zweck, die Quantität gleichartiger Materie oder die Menge (Zahl) gleichartiger gleichgeformter (identischer) Körper bequem zu ermitteln. So ist umgekehrt wahrscheinlich auch der Raum von Vorratskammern (Speichern) ursprünglich nach der Menge, Zahl der gleichartigen Körper, die derselbe aufzunehmen vermochte, geschätzt worden. Die Messung des Volumens durch eine Volumeneinheit ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein viel späterer Gedanke und kann sich gewiß nur auf einer höheren Stufe der Abstraktion entwickelt haben.

9. Auch die Flächenschätzung wird nach der Menge (Zahl) der Frucht- oder Nutzpflanzen, nach der Saat, die ein Feld aufzunehmen vermochte, gelegentlich wohl auch nach der Arbeit, die dasselbe in Anspruch nahm, stattgefunden haben. Die Messung einer Fläche durch eine Fläche ergab sich hier leicht und anschaulich, wenn gleich große, gleichgeformte Felder nebeneinander lagen. Da wird man wohl nicht im Zweifel gewesen sein, daß das Feld, welches aus n Feldern von gleicher Größe und Form besteht, auch den n-fachen wirtschaftlichen Wert hat. Man wird aber nicht geneigt sein, die Bedeutung dieses intellektuellen Schrittes zu unterschätzen, wenn man die Unrichtigkeiten in der Flächenmessung in Betracht zieht, welche bei den Ägyptern486 und selbst noch bei den römischen Agrimensoren487 vorkamen. Als der persische ›Übermensch‹ Xerxes488 das Heer zählen wollte, welches er »zu verzehren« hatte, das er mit Peitschenhieben über den Hellespont und gegen die Griechen[358] trieb, wandte er folgendes Verfahren an: Es wurden 10000 Mann dicht gedrängt aufgestellt, der von denselben eingenommene Platz wurde umzäunt, und jede folgende Abteilung des Heeres oder vielmehr der Herde von Sklaven, welche nachher in die Umzäunung hineingetrieben den Platz ausfüllte, galt wieder für 10000. Hier begegnen wir der umgekehrten Anwendung des Gedankens, wonach eine Fläche gemessen wird durch die Menge (Zahl) gleicher, identischer, dichtliegender Körper, welche dieselbe bedecken. Indem zunächst instinktiv, dann bewußt von der Höhendimension dieser Körper abgesehen wird, findet der Übergang zur Flächenmessung durch die Flächeneinheit statt. Der analoge Schritt zur Volumenmessung durch die Volumeneinheit fordert eine viel geübtere, geometrisch geschulte Anschauung, vollzieht sich später und ist auch heute noch dem Volke weniger geläufig.

10. Die älteste Schätzung von großen Entfernungen nach Tagereisen, Wegstunden u.s.w. zog wohl die Mühe, Arbeit, den Zeitaufwand der Überwindung dieser Entfernungen in Betracht. Mißt man aber die Länge durch wiederholtes Anlegen der Hände, Füße, der Armlänge, des Maßstabes, der Meßkette, so ist dies, genau genommen, eine Messung durch Auszählung gleicher Körper, also eigentlich wieder eine Volumenmessung. Das Befremdliche dieser Auffassung wird im Verlauf dieser Darstellung verschwinden. Sieht man hierbei ab, erst instinktiv und dann bewußt, von den beiden Querdimensionen der zur Auszählung verwendeten Körper, so gelangt man dazu, die Länge durch eine Längeneinheit zu messen.

11. Man definiert gewöhnlich die Fläche als die Grenze eines Raumes. So ist die Oberfläche einer Metallkugel die Grenze zwischen Metall und Luft, sie gehört weder dem Metall- noch dem Luftraume an; derselben schreibt man bloß 2 Dimensionen zu. Analog ist die eindimensionale Linie die Grenze einer Fläche, z.B. der Äquator die Grenze der Halbkugelfläche. Der ausdehnungslose Punkt ist die Grenze einer Linie, z.B. eines Kreisbogens. Den Punkt läßt man durch Bewegung eine eindimensionale Linie, diese ebenso eine zweidimensionale Fläche, und letztere analog einen dreidimensionalen körperlichen Raum erzeugen. Der geschulten Abstraktion erwachsen durch diese[359] Auffassung keine Schwierigkeiten. Dieselbe leidet nur an dem Übelstand, daß sie den natürlichen Weg, auf welchem man zu den Abstraktionen gelangt ist, nicht aufzeigt, sondern im Gegenteil künstlich verdeckt. Es wird darum doch eine gewisse Unbehaglichkeit fühlbar, wenn auf diesem Standpunkte, z.B. das Flächenmaß, die Flächeneinheit definiert werden soll, nachdem die Längenmessung abgehandelt ist.489

12. Man gewinnt eine homogenere Auffassung, wenn man jede Messung als eine Raumauszählung durch dichtliegende, räumlich identische, oder doch als identisch angesehene Körper betrachtet, handle es sich um Volumina, Flächen oder Linien. Die Flächen kann man als körperliche Blätter von überall gleicher, konstanter, beliebig kleiner, verschwindender Dicke, die Linien als Schnüre oder Fäden von konstanter, verschwindender Dicke ansehen. Der Punkt wird dann ein kleiner körperlicher Raum, von dessen Ausdehnung man willkürlich absieht, ob derselbe nun einem andern Raum, einer Fläche oder Linie angehört. Die zur Auszählung verwendeten Körper können nach Bedürfnis beliebig klein und von beliebiger passender Form gewählt werden. Nichts hindert uns, diese auf dem bezeichneten natürlichen Wege gewonnenen Vorstellungen durch Absehen von der Dicke der Flächenblätter und Linienfäden in üblicher Weise begrifflich zu idealisieren. Die übliche, etwas ängstliche Darstellung der Grundbegriffe der Geometrie rührt wohl daher, daß die von zufälligen, historischen, elementaren Fesseln befreiende, infinitesimale Methode erst in einem späten Entwicklungsstadium der Geometrie wirksam wurde und daß noch viel später (durch Gauß) die unbefangene Anknüpfung der Geometrie an die physischen Wissenschaften sich wiederfand. Warum aber die bessere Einsicht den Elementen nicht jetzt wenigstens zu gut kommen sollte, ist nicht recht einzusehen. Schon Leibniz weist darauf hin, daß es rationeller ist, mit den geometrischen Definitionen beim Körper zu beginnen.490

13. Die Ausmessung von Räumen, Flächen und Linien durch Körper ist unserer verfeinerten Geometrie ganz fremd geworden;[360] dennoch tritt dieser Gedanke nicht bloß als Vorläufer idealisierter Methoden auf. Derselbe spielt in der Psychologie der Geometrie eine wichtige Rolle, und wir finden ihn noch in einem späten Entwicklungsstadium in der Werkstätte des Forschers und Erfinders auf diesem Gebiete sehr wirksam. Cavalieris Methode der Indivisibilien scheint durch diesen Gedanken am besten verständlich. Nach dessen eigener Erläuterung denke man sich die zu vergleichenden Flächen (Quadraturen) mit beliebig zahlreichen äquidistanten parallelen Fäden nach Art der Kette eines Gewebes, und die zu vergleichenden Räume (Kubaturen) durch parallele Buchblätter ausgefüllt. Die Gesamtlänge der Fäden kann dann als Maß der Flächen, und die Gesamtfläche der Blätter als Maß der Volumina dienen, und zwar kann man in der Genauigkeit so weit gehen, als man will. Die Zahl äquidistanter gleicher Körper kann bei hinreichend dichter Lage und passender Wahl der Form ebensogut die Maßzahlen von Flächen und Räumen liefern, als die Zahl der identischen Körper, welche die Flächen absolut dicht bedecken, oder die Räume absolut dicht ausfüllen. Läßt man diese Körper zu Linien (Geraden), bezw. zu Flächen (Ebenen) schrumpfen, so erhält man die Teilung der Flächen in Flächenelemente und der Räume in Raumelemente, somit die übliche Messung der Flächen durch Flächen und der Räume durch Räume. Die mangelhafte, dem Stande seiner zeitgenössischen Geometrie wenig angemessene Darstellung Cavalieris hat die Historiker der Geometrie zu recht harten Urteilen über dessen schönen und fruchtbaren Erfindungsgedanken bewegen.491 Wenn noch Helmholtz in seiner bedeutenden Jugendarbeit,492 in einem Momente des Übergewichts der Phantasie über die Kritik, die Fläche als die Summe der in ihr liegenden Linien (Ordinaten) ansieht, so lehrt dies, wie tief die ursprüngliche natürliche Auffassung sitzt, und wie leicht dieselbe immer wieder entsteht.493[361]

14. Außer der allgemeinen Erfahrung, daß es bewegliche Körper gibt, denen trotz der Beweglichkeit eine räumliche Beständigkeit in dem oben erläuterten Sinne, eine identisch bleibende Eigenschaft zugeschrieben werden muß, welche die Grundlage aller Maßbegriffe bildet, sammeln sich instinktiv, dann bei berufsmäßiger, handwerksmäßiger Beschäftigung, noch mancherlei Spezial-Erfahrungen an, die der Geometrie zu gut kommen. Indem dieselben zum Teil in überraschender Form auftreten, zum Teil miteinander im Einklang zu stehen, zum Teil aber auch bei unvorsichtiger Verwertung in paradoxen Widerstreit zu geraten scheinen, beunruhigen sie das Denken und reizen sie dasselbe, dem geordneten logischen Zusammenhang dieser Erfahrungen nachzugehen. Diesen Prozessen wollen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit zuwenden.[362]

15. Wenn auch die bekannte Äußerung des Herodot,494 in welcher er den Ursprung der Geometrie auf die Feldmessung der Ägypter zurückführt, nicht vorläge, und wenn des Eudemus Bericht über die Vorgeschichte der Geometrie, den wir durch den Auszug des Proklus kennen, gänzlich verloren gegangen wäre,495 könnten wir doch an einem vorwissenschaftlichen Stadium der Geometrie nicht zweifeln. Die ersten geometrischen Einsichten ergaben sich zufällig und ungesucht auf dem Wege der handwerksmäßigen Erfahrung bei Gelegenheit der verschiedensten Beschäftigungen. Es geschah dies zu einer Zeit, in welcher der wissenschaftliche Sinn, das Interesse für den Zusammenhang dieser Erfahrungen noch sehr wenig entwickelt war. Selbst in unserer dürftigen Geschichte der Anfänge der Geometrie tritt dies deutlich hervor, noch mehr aber in der allgemeinen Kulturgeschichte, welche handwerksmäßige geometrische Verrichtungen in einer so frühen und barbarischen Zeit nachweist, daß die Annahme wissenschaftlicher Bestrebungen ausgeschlossen ist.


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16. Alle wilden Stämme führen Flechtarbeiten aus, bei welchen, so wie bei ihren Zeichnungen, Malereien und Kerbarbeiten, sich vorzugsweise ornamentale Motive ergeben, die aus den einfachsten geometrischen Formen bestehen. Denn diese entsprechen, wie die Zeichnungen unserer Kinder, der vereinfachten, typischen, schematischen Auffassung der Objekte, welche sie abbilden wollen, und diese sind anderseits ihrer Handfertigkeit und ihren primitiven Werkzeugen am leichtesten erreichbar. Ein solches Ornament, aus einer Reihe (Fig. 12) von gleichgeformten, abwechselnd verkehrtgestellten Dreiecken oder einer Reihe von Parallelogrammen bestehend, legt nun die Erfahrung[363] sehr nahe, daß die Summe der 3 Winkel des Dreieckes beim Zusammenlegen der Scheitel, 2 Rechte ausmacht. Diese Erfahrung konnte auch unmöglich den Ton- und Steinarbeitern der Assyrier, Ägypter, Chinesen, Griechen u.s.w. entgehen, sobald sie aus gleichgeformten verschiedenfarbigen Steinen die gebräuchlichen Mosaiken, Pflasterungen zusammensetzten. Der Satz der Pythagoräer, wonach die Ebene um einen Punkt herum durch 6 gleichseitige Dreiecke, 4 Quadrate und 3 reguläre Sechsecke vollständig erfüllt wird, deutet ebenfalls auf die bezeichnete Erkenntnisquelle.496 Dieselbe offenbart sich auch in dem altgriechischen Nachweis der Winkelsumme eines beliebigen Dreieckes durch Zerschneiden desselben in rechtwinklige Dreiecke (durch Ziehen der Höhe) und Ergänzung der so entstandenen Teile zu Rechtecken.497 Dieselben Erfahrungen ergeben sich bei mannigfaltigen anderen Gelegenheiten. Ein Feldmesser umschreite ein polygonales Grundstück. Am Anfangspunkt seines Weges wieder angelangt, wird er finden, daß er eine volle Umdrehung von 4 Rechten ausgeführt hat.


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Im Falle des Dreieckes bleiben also von den 6 Rechten (Fig. 13) an allen drei Ecken und an den Innenseiten der drei Seiten nach Abzug der drei Drehungswinkel a, b, c für die Summe der Innenwinkel 2 Rechte[364] übrig. Diese Ableitung verwendete Thibaut,498 ein Zeitgenosse von Gauß. Wenn ein Zeichner ein Dreieck in der Weise beschreibt, daß er das Lineal nacheinander an den Ecken um den betreffenden Innenwinkel immer in demselben Sinne dreht, so findet er, bei der ersten Seite wieder anlangend, die Schneide des Lineals an der Innenseite des Dreiecks liegend, wenn sie das erste Mal an der Außenseite lag (Fig. 14).


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Das Lineal hat also bei dieser Prozedur, die Innenwinkel in demselben Sinne beschreibend, eine halbe Drehung ausgeführt.499 Tylor500 bemerkt, daß auch das Falten von Stoff oder Papier zu denselben Erfahrungen leiten kann.


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Falten wir ein dreieckiges Papier in der (Fig. 15) angedeuteten Weise, so entsteht ein doppelt belegtes Rechteck, dessen doppelte Fläche also der Dreiecksfläche entspricht. Die Summe der bei a koinzidierenden Dreieckswinkel ist 2 R. Wiewohl man durch Faltungen sehr überraschende Ergebnisse erzielt hat, kann man doch kaum glauben, daß diese Prozeduren historisch für die geometrische Erkenntnis sehr ergiebig waren. Dieses Material ist von zu beschränkter Anwendung, und die mit demselben beschäftigten Arbeiter sind zu wenig zu exakter Beobachtung gedrängt.501

17. Die Einsicht, daß die Winkelsumme des ebenen Dreieckes eine bestimmte Quantität, nämlich 2 R beträgt, ist also auf dem Wege der Erfahrung gewonnen worden, nicht anders als etwa der Hebelsatz und das Boyle-Mariottesche Gasgesetz. Gewiß kann der bloße Augenschein und selbst die Messung mit den feinsten Instrumenten nicht lehren, daß die[365] Winkelsumme absolut genau 2 R ist. Ebenso verhält es sich mit dem Hebelsatz und mit dem Gasgesetz. Alle diese Sätze sind idealisierte, schematisierte Erfahrungen; denn Messungen werden immer kleine Abweichungen von denselben zeigen. Während wir aber das Gasgesetz bei weiteren Versuchen bald als eine Annäherung erkennen und dasselbe modifizieren müssen, um die Tatsachen genauer darzustellen, bleibt der Hebelsatz und der Winkelsatz mit diesen immer in so genauer Übereinstimmung, als dies bei den unvermeidlichen Versuchsfehlern erwartet werden kann, und von allen Folgerungen, die sich auf diese beiden Sätze als Voraussetzungen gründen, kann dasselbe behauptet werden.


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18. Wenn beim Pflastern gleiche und gleichgeformte Dreiecke mit den Grundlinien in einer Geraden nebeneinander gestellt wurden (Fig. 16), so mußte dies wieder zu einer höchst wichtigen geometrischen Einsicht leiten. Bei Verschiebung des Dreieckes in einer Ebene und längs einer Geraden (also ohne Drehung), beschreiben alle Punkte, auch jene der Grenzlinien, den gleichen Weg. Dieselbe Grenzgerade liefert also in beiden Lagen ein überall gleich weit getrenntes Geradenpaar. Zugleich verbürgte die Operation die Gleichheit der Winkel mit der Verschiebungsgeraden an derselben Seite der beiden Geraden des Paares. Die Summe der Innenwinkel zur selben Seite der Verschiebungsgeraden war hiermit zu 2 R bestimmt. Der Euklidsche Parallelensatz war hiermit gewonnen. Fügen wir hinzu, daß die Möglichkeit, eine solche Pflasterung beliebig weit auszudehnen, die berührte Einsicht besonders fühlbar machen mußte. Die Verschiebung eines Dreieckes längs eines Lineals ist bis heute das einfachste und natürlichste Verfahren geblieben, Parallele zu ziehen. Es ist kaum nötig zu bemerken, daß der Winkelsummen- und der Parallelensatz aneinander gebunden sind, nur verschiedene Formen derselben Erfahrung darstellen.[366]

19. Die zuvor erwähnten Steinarbeiter mußten leicht zur Einsicht gelangen, daß ein reguläres Sechseck sich aus gleichseitigen Dreiecken zusammensetzen läßt. Die einfachsten Fälle der Kreisteilung, die Sechsteilung durch den Radius, die Dreiteilung u.s.w. ergaben sich sofort. Wie der Zimmermann fast ohne Überlegung, instinktiv findet, läßt sich aus einem zylindrischen Baumstamm wegen der allseitigen Symmetrie des Kreises in unendlich mannigfaltiger Weise ein Balken von rechteckigem, symmetrischem Querschnitt schneiden, dessen Kanten in der Zylinderfläche liegen. Die Diagonalen des Rechteckes gehen durch den Kreismittelpunkt. Nach Hankels502 und Tylors503 Meinung wurde wahrscheinlich so der Winkel im Halbkreise als ein rechter erkannt.

20. Ein gespannter Faden verschafft uns die eigentümliche Anschauung der geraden Linie. Dieselbe ist charakterisiert durch ihre physiologische Einfachheit. Alle Teile derselben bedingen die gleiche Richtungsempfindung, jeder Punkt löst das Mittel der Raumempfindungen der Nachbarpunkte aus, jeder noch so kleine Teil ist jedem beliebig großen ähnlich. Mit dieser physiologischen Charakteristik, obgleich dieselbe auf die Definition mancher Geometer Einfluß genommen haben mag,504 könnte dennoch der Geometer nur wenig anfangen. Das Anschauungsbild muß durch physikalische Erfahrungen über körperliche Objekte bereichert werden, um geometrisch brauchbar zu sein. Eine Schnur sei mit dem einen Ende bei A befestigt und mit dem andern durch den bei B festgemachten Ring gezogen. Zieht man an dem Ende bei B, so sieht man Schnurteile, welche vorher zwischen A und B lagen, bei B hervortreten, während sich die Schnur zugleich der Form der Geraden nähert. Eine geringere Anzahl von gleichen Schnurteilchen, identischen Körperchen, genügt, um zwischen A und B eine verbindende Gerade, als um eine Krumme zu erfüllen. Es ist ein Irrtum zu behaupten, daß die Gerade durch die bloße Anschauung als die Kürzeste erkannt wird. Allerdings kann man die gleichzeitige Form- und Längenänderung der Schnur in der Vorstellung[367] qualitativ vollkommen richtig und verläßlich reproduzieren, allein es ist dies das Wiederaufleben einer Erfahrung mit Körpern – ein Gedankenexperiment. Die bloße, ruhige Raumanschauung würde nie zu einer solchen Einsicht führen. Messung ist Erfahrung einer körperlichen Reaktion, ein Deckungs-Experiment. Angeschaute, vorgestellte Linien verschiedener Richtung und Länge lassen sich überhaupt nicht ohne weiteres aneinander anlegen. Die Möglichkeit eines solchen Vorganges muß erfahren werden an Materiellem, für unveränderlich Geltendem. Wenn zuweilen sogar den Tieren die instinktive Kenntnis der Geraden als der Kürzesten zugeschrieben wird, so beruht dies auf einem Irrtum. Wirkt auf ein Tier ein anziehender Reiz, und hat sich dasselbe einmal so gewendet, daß dessen Symmetrieebene durch das Reizobjekt hindurchgeht, so ist die Gerade die durch den Reiz eindeutig bestimmte Bewegungsbahn. Dies geht aus Loebs Untersuchungen über die Tropismen der Tiere deutlich hervor.

21. Daß insbesondere zwei Seiten eines Dreieckes größer sind als die dritte, lehrt nicht die bloße Anschauung. Legt man zwei Seiten durch Drehung um die Winkelscheitel an der Grundlinie in diese um, so sieht man allerdings schon in der Vorstellung, daß jene, mit ihren freien Enden sich in Kreisbogen bewegend, sich schließlich teilweise überdecken, also mehr als die Grundlinie erfüllen. Ohne aber diesen Vorgang einmal an körperlichen Objekten gesehen zu haben, wird man nicht zu dieser Vorstellung gelangen. Euklid505 leitet dieselbe Einsicht auf einem künstlichen Umwege daraus ab, daß im Dreieck die größere Seite an den größeren gegenüberliegenden Winkel gebunden ist. Die eigentliche Erkenntnisquelle ist auch hier die Erfahrung bei Bewegung einer körperlichen Dreiecksseite; sie ist nur mühsam durch die Form der Ableitung verdeckt, und nicht zum Vorteil der Klarheit und Kürze.

22. Mit den eben erwähnten Erfahrungen sind die Eigenschaften der Geraden nicht erschöpft. Wird ein beliebig geformter Draht an zwei an einem Brett befestigte Stifte angelegt und in steter Berührung mit diesen verschoben, so ändert sich[368] hierbei die Form und die Lage der Drahtteile zwischen den Stiften unausgesetzt. Je gerader der Draht wird, desto kleiner fällt diese Änderung aus. Ein gerader Draht verschiebt sich bei diesem Vorgang in sich selbst. Um zwei seiner festgehaltenen Punkte gedreht, ändert ein krummer Draht fort und fort seine Lage, während ein gerader dieselbe stets beibehält, sich in sich selbst dreht.506 Wenn wir nun die Gerade definieren als diejenige Linie, welche durch zwei ihrer Punkte vollkommen bestimmt ist, so liegt in diesem Begriff nichts als die Idealisierung der durch jene Erfahrung gewonnenen Vorstellung, welche mit der (physiologischen) Anschauung durchaus noch nicht gegeben ist.


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23. Die Ebene ist wie die Gerade schon physiologisch durch ihre Einfachheit charakterisiert. Dieselbe erscheint überall gleich.507 Jeder Punkt löst das Mittel der Raumempfindungen der Nachbarpunkte aus. Jeder kleine Teil ist jedem beliebig großen ähnlich. Erfahrungen an körperlichen Objekten müssen dennoch hinzukommen, damit alles dies geometrisch verwertbar werde. Die Ebene ist wie die Gerade zu sich selbst physiologisch symmetrisch, wenn sie in die Mediane fällt oder zu derselben senkrecht steht. Um aber die Symmetrie als eine bleibende geometrische Eigenschaft der Ebene und der Geraden zu erkennen, müssen dieselben schon als bewegliche, unveränderliche, körperliche Objekte gegeben sein. Das Gebundensein der physiologischen Symmetrie an metrische Eigenschaften bedarf auch eines besonderen metrischen Nachweises.

24. Die Ebene wird körperlich dargestellt, indem man an drei[369] Körpern durch Schleifen aneinander drei Flächen A, B, C herstellt, von welchen jede auf jede paßt, was (wie an der Fig. 17 ersichtlich) weder bei konvexen noch bei konkaven, sondern nur bei ebenen Flächen möglich ist. Durch das Schleifen verschwinden eben die Konvexitäten und Konkavitäten. Ähnlich erhält man mit Hilfe eines unvollkommenen Lineals eine genauere Gerade, indem man ersteres mit den Endpunkten an die Punkte A, B anlegt, dann nach einer Drehung um 180° aus seiner Ebene wieder an A, B anlegt, und dann die mittlere zwischen beiden gezogenen Linien als vollkommenere Gerade ansieht, mit welcher man dasselbe Verfahren wiederholen kann. Hat man durch Schleifen eine Ebene, also eine Fläche hergestellt, welche überall und zu beiden Seiten dieselbe Form hat, so ergeben sich weitere Erfahrungen. Zwei solche Ebenen aufeinander gelegt lehren, daß die Ebene in sich verschiebbar und in sich drehbar ist, ähnlich wie die Gerade. Ein zwischen zwei Punkten der Ebene gespannter Faden fällt ganz in die Ebene. Ein über ein begrenztes Ebenenstück gespanntes Tuch fällt mit dieser zusammen. Die Ebene stellt also das Minimum der Fläche innerhalb ihrer Begrenzung dar. Legt man die Ebene auf zwei Spitzen, so kann man sie noch um die Verbindungsgerade derselben drehen; eine dritte Spitze außerhalb dieser Geraden legt die Ebene fest, bestimmt dieselbe also vollkommen. Leibniz benutzt in der Tat in der natürlichsten Weise die Erfahrungen an körperlichen Objekten, wenn er in dem oben zitierten Brief an Giordano die Ebene definiert als eine Fläche, welche einen unbegrenzten Körper in zwei kongruente Teile zerschneidet, und die Gerade als jene Linie, welche die unbegrenzte Ebene in zwei kongruente Teile zerschneidet.508

25. Wenn man auf die Symmetrie der Ebene zu sich selbst die Aufmerksamkeit richtet und zu beiden Seiten derselben je einen zum andern symmetrischen Punkt annimmt, so findet man jeden Punkt der Ebene von diesem Punktepaar gleich weit entfernt,[370] man gelangt also zur Leibnizschen Definition509 der Ebene. Die Gleichförmigkeit und die Symmetrie der Geraden und der Ebene sind an deren absolutes Längen-, bezw. Flächenminimum gebunden. Der gegebenen Grenze, ohne sonstige Nebenbedingung, soll das Minimum entsprechen.. Das Minimum ist eindeutig, einzigartig, und daher die Symmetrie in Bezug auf die Grenzpunkte. Wegen des absoluten Minimums stellt jedes noch so kleine Stück selbst wieder dieselbe Minimumeigenschaft dar. Daher die Gleichförmigkeit.

26. Miteinander zusammenhängende Erfahrungen können unabhängig voneinander sich darbieten und sind ohne Zweifel oft so gefunden worden, noch vor der Kenntnis ihres Zusammenhanges. Dies schließt nicht aus, daß nachträglich die eine als durch die andere gegeben und mitbestimmt, als aus derselben ableitbar erkannt werde. Kennt man z.B. die Symmetrie und Gleichförmigkeit der Geraden und Ebene, so leitet man hieraus leicht den geraden Durchschnitt der Ebenen ab, ebenso, daß je zwei Punkte der Ebene durch eine ganz in dieselbe fallende Gerade verbunden werden können u.s.w. Dadurch, daß nur ein Minimum von unscheinbaren, kaum beachteten Erfahrungen zu solchen Ableitungen nötig ist, darf man sich nicht verleiten lassen, dieses Minimum für ganz überflüssig zu halten und zu glauben, daß Anschauung und Raisonnement allein zum Aufbau der Geometrie genügen.

27. Ähnlich wie die Anschauungsbilder der Geraden und Ebene werden auch jene des Kreises, der Kugel, des Zylinders u.s.w. durch metrische Erfahrungen bereichert und dadurch erst geometrisch fruchtbar. Derselbe ökonomische Zug, der unsere Kinder treibt, nur das Typische in ihrer Auffassung und in ihren Zeichnungen festzuhalten, führt auch zur Schematisierung und begrifflichen Idealisierung unserer durch die Erfahrung gewonnenen Vorstellungen. Obgleich wir in Wirklichkeit keine vollkommene Gerade, keinen genauen Kreis vorfinden, ziehen wir doch vor, in unserem Denken von den betreffenden Abweichungen abzusehen. Die Geometrie beschäftigt sich also[371] mit Idealen, welche aber durch Schematisierung von Erfahrungsobjekten entstanden sind.

28. Ich habe schon anderwärts darauf hingewiesen, daß man unrecht tut, beim Elementarunterricht vorzugsweise nur die logische Seite der Geometrie zu pflegen, und die Erkenntnisquellen, welche in der Erfahrung liegen, der Jugend nicht zu erschließen. Kürzlich haben nun die Amerikaner, welchen gegenüber die Tradition eine geringere Macht übt, in erfreulicher Weise mit diesem System gebrochen und haben eine Art experimenteller Geometrie als Vorstufe des systematischen geometrischen Unterrichtes eingeführt.510

29. Eine scharfe Grenze zwischen der instinktiven, handwerksmäßigen und wissenschaftlichen Erwerbung geometrischer Vorstellungen läßt sich nicht ziehen. Im allgemeinen kann man wohl sagen, daß mit der Teilung der wirtschaftlichen Aufgaben, mit der Beschäftigung mit besonderen Objekten, die instinktive Erwerbung von Kenntnissen in den Hintergrund tritt und die handwerksmäßige beginnt. Wird endlich das Messen selbst Zweck und Beruf, so gewinnt auch der Zusammenhang der einzelnen Meßoperationen ein starkes ökonomisches Interesse, und wir gelangen in die Periode der wissenschaftlichen Entwicklung der Geometrie, zu welcher wir jetzt übergehen.

30. Die Abhängigkeit der Maße voneinander ergibt sich auf mannigfaltige Art. War man einmal zur Messung von Flächen durch Flächen gelangt, so mußten sich hieran weitere Fortschritte anschließen. In einem parallelogrammatischen Feld, das sich in gleiche parallelogrammatische Teilfelder zerlegen ließ, so daß n Reihen solcher Felder von je m Feldern nebeneinander lagen, war ein Auszählen dieser Felder unnötig. Durch Multiplikation der Seitenmaßzahlen ergab sich der Flächeninhalt zu m · n solchen Teilfeldern, und ebenso leicht der Flächeninhalt eines jeden der beiden durch den Diagonalschnitt entstandenen Dreiecke zu m · n/2 Teilfeldern. Hierin lag die erste und einfachste Anwendung der Arithmetik auf die Geometrie. Zugleich drängte sich hierbei die Abhängigkeit der Flächenmaße von andern Maßen, Längenund[372] Winkelmaßen auf. Die Fläche eines Rechteckes erweist sich größer als jene eines schiefwinkligen Parallelogramms von den gleichen Seiten; dieselbe hängt also außer von den Seitenlängen noch von deren Winkeln ab. Ein Rechteck hingegen, das aus Streifen, Latten parallel zur Grundlinie aufgebaut ist, kann ersichtlich mit Erhaltung der Höhe zu einem beliebigen Parallelogramm verschoben werden, ohne dessen Fläche zu ändern. Vierecke mit gegebenen Seiten sind noch in den Winkeln unbestimmt, wie jeder Zimmermann erfahren hat. Er fügt Diagonalen hinzu und bewirkt eine Verwandlung in Dreiecke, welche bei gegebenen Seiten starr, d.h. also auch in den Winkeln unveränderlich sind. Mit der Erkenntnis der Abhängigkeit der Maße voneinander, war man auf die eigentliche Aufgabe der Geometrie geführt. Mit gutem Grund nennt J. Steiner sein Hauptwerk: ›Systematische Entwicklung der Abhängigkeit der geometrischen Gestalten voneinander‹. In Snells511 originellem, zu wenig geschätztem Elementarbuch tritt die bezeichnete Aufgabe schon dem Anfänger klar vor Augen.

31. Man stelle aus Drähten ein ebenes körperliches Dreieck dar. Dreht man dann eine Seite um eine Ecke, den Innenwinkel an dieser Ecke vergrößernd, so sieht man auch diese Seite sich ändern und die gegenüberliegende Seite mit dem Winkel zugleich wachsen. Neue Drahtteile neben den früher vorhandenen werden nötig, um die letztere Seite zu bilden. Dieses und andere analoge Experimente können in Gedanken wiederholt werden, wobei aber das Gedankenexperiment doch immer nur eine Kopie des physischen Experimentes bleibt. Ersteres wäre unmöglich, wenn nicht vorher die physische Erfahrung zur Kenntnis räumlich unveränderlicher physischer Körper,512 zum Maßbegriff geführt hätte. Durch solche Erfahrungen gelangt zur Einsicht, daß von den sechs an einem Dreieck bemerkbaren Maßgrößen (3 Seiten und 3 Winkeln) drei, worunter mindestens eine Seite, zur Bestimmung des Dreieckes genügen.[373] Ist nur ein Winkel unter den Bestimmungsstücken, so muß derselbe zur eindeutigen Bestimmung ein von den gegebenen Seiten eingeschlossener oder der größeren Seite gegenüberliegender sein. Ist einmal die Bestimmtheit des Dreiecks durch drei Seiten, sowie die Unabhängigkeit der Form von der Lage erkannt, so können im gleichseitigen Dreieck alle drei Winkel und im gleichschenkligen die beiden den gleichen Seiten gegenüberliegenden Winkel nur gleich sein, in welcher Art auch Winkel und Seiten voneinander abhängen mögen. Dies steht logisch fest. Die Erfahrungsgrundlage ist aber darum ebensowenig überflüssig wie in analogen Fällen der Physik.

32. Die Art der Abhängigkeit von Seiten und Winkeln wird natürlich zuerst in Spezialfällen erkannt. Bei der Flächenberechnung von Rechtecken und von Dreiecken, welche durch Diagonalschnitt aus diesen hervorgehen, mußte es auffallen, daß das Rechteck mit den Seiten 3, 4 ein rechtwinkliges Dreieck von den Seiten 3, 4, 5 liefert. Die Rechtwinkligkeit zeigte sich an ein bestimmtes rationales Seitenverhältnis gebunden. Man benützte diese Erfahrung, um durch drei miteinander verknüpfte Schnüre, von den Längen 3, 4, 5, rechte Winkel abzustecken.513 Die Gleichung 32+42 = 52, welche in ganz analoger Weise für alle rechtwinkligen Dreiecke von den Seitenlängen a, b, c sich als bestehend erwies (a2+b2 = c2), fesselte nun die Aufmerksamkeit. Es ist bekannt, wie tief diese Relation in die Geometrie des Maßes eingreift, wie alle indirekten Entfernungsmessungen sich auf dieselbe zurückführen lassen.


Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie

33. Wir wollen nun versuchen, der Grundlage dieser Relation nachzugehen. Da ist nun zunächst zu bemerken, daß weder die griechischen geometrischen noch die indischen arithmetischen Ableitungen des sogenannten Pythagoräischen Satzes von Flächenbetrachtungen absehen können. Ein wesentlicher Punkt, auf den sich alle Ableitungen stützen, der nur in verschiedener Form, mehr oder weniger deutlich[374] bei allen hervortritt, ist folgender. Verschiebt man das Dreieck a b c (Fig. 18) ein wenig in seiner Ebene, so nimmt man an, daß die eben verlassenen Flächenraumelemente durch die neu eingenommenen ersetzt, kompensiert, aufgewogen werden. Es ist also die bei der Verschiebung von zwei Seiten beschriebene Fläche der von der dritten Seite beschriebenen Fläche gleich. Dieser Auffassung liegt die Annahme der Flächenerhaltung des Dreieckes zu Grunde. Sehen wir eine Fläche als einen Körper von sehr kleiner überall gleicher Dicke, dritter Dimension an, die eben deshalb bei dieser Betrachtung einflußlos ist, so tritt hier wieder die Volumenerhaltung der Körper als fundamentale Voraussetzung hervor. Die Auffassung läßt sich auf die Verschiebung eines Tetraëders anwenden, ohne indessen hierdurch zu neuen Gesichtspunkten zu führen. Die Volumenerhaltung ist eine starren und flüssigen Körpern gemeinsame, von der alten Physik als Undurchdringlichkeit idealisierte Eigenschaft. Bei starren Körpern kommt die Erhaltung aller Entfernungen ihrer Teile hinzu. Die flüssigen Körper haben die Eigenschaften der starren nur in den kleinsten Raum- und Zeitelementen.


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34. Wird ein schiefwinkliges Dreieck mit den Seiten a, b, c nach der Richtung der Seite b verschoben, so beschreiben nur a und c nach dem Obigen flächengleiche Parallelogramme, welche in einem gleichen, durch dieselben Parallelen gebildeten Gegenseitenpaar übereinstimmen. Bildet a mit b einen rechten Winkel und verschiebt man das Dreieck senkrecht zu c um das Stück c, so beschreibt die Seite c das Quadrat c2, die beiden andern Seiten aber Parallelogramme, deren Flächensumme der Fläche des Quadrates gleich ist. Die einzelnen Parallelogrammflächen entsprechen nach der unmittelbar vorausgehenden Beobachtung a2, beziehungsweise b2, womit der Pythagoräische Satz gegeben ist. Man kann (Fig. 19) auch zuerst senkrecht zu a um a, dann senkrecht zu b um b verschieben,[375] und findet a2+b2 gleich der Summe der von c beschriebenen Flächen, welche ersichtlich c2 ist. Die letztere Prozedur ergibt im Falle eines schiefwinkligen Dreieckes ebenso leicht und anschaulich den allgemeineren Satz:


c2 = a2+b2-2ab·cos (<ab).

35. Die Abhängigkeit der dritten Dreieckseite von den beiden andern ist also durch die Fläche des umschriebenen Dreieckes, also in unserem Sinne durch eine Volumenbedingung bestimmt. Man sieht auch ohne weiteres, daß die betreffenden Gleichungen Flächenrelationen ausdrücken. Allerdings kann man auch den Winkel der beiden Dreieckseiten als maßgebend für die dritte Seite betrachten, und den Gleichungen eine scheinbar ganz andere Form geben. Sehen wir uns nun diese verschiedenen Maße genauer an! Wenn zwei Gerade von den Längen a, b mit ihren Enden in einem Punkt zusammenstoßen, so ist die Länge der Geraden c, welche ihre freien Enden verbindet, in bestimmte Grenzen eingeschlossen. Es ist c≤a + b und c≥a-b. Dies lehrt zwar nicht die Anschauung, aber das auf physikalische Erfahrung sich stützende und dieselbe reproduzierende Gedankenexperiment. Man sieht dies, indem man z.B. a festhält und b dreht, bis es einmal die Verlängerung von a bildet, und ein zweites Mal mit a zusammenfällt. Die Gerade ist zunächst eine eigenartige, durch physiologische Eigenschaften charakterisierte Anschauung, welche wir durch einen physischen Körper von besonderer Beschaffenheit gewinnen, der in Form einer Schnür oder eines Drahtes von beliebig kleiner aber konstanter Dicke zwischen die Orte seiner Endpunkte ein Minimumvolumen einschaltet, was nur in eindeutig bestimmter, einzigartiger Weise geschehen kann. Gehen mehrere Gerade durch einen Punkt, so unterscheiden wir dieselben ohne weiteres physiologisch nach ihrer Richtung. Im begrifflichen, durch metrisch-physikalische Erfahrungen gewonnenen Raume gibt es aber keinen Unterschied der Richtungen. Eine Gerade, welche durch einen Punkt geht, kann da nur dadurch vollkommen bestimmt werden, daß noch ein zweiter physischer Punkt derselben angegeben wird. Man definiert nach physiologischen Momenten, wenn man die Gerade als Linie von konstanter Richtung, den Winkel als Abweichung[376] der Richtungen, parallele Gerade als Gerade von gleicher Richtung bezeichnet.


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36. Um Winkel, welche uns anschaulich gegeben sind, auch geometrisch zu charakterisieren, zu bestimmen, stehen uns verschiedene Mittel zu Gebote. Wenn für 2 bestimmte, übrigens beliebige Punkte, von welchen je einer auf je einem Schenkel (außerhalb des Schnittpunktes) liegt, die Entfernung gegeben ist, so ist der Winkel bestimmt. Um Gleichförmigkeit in die Bestimmung zu bringen, könnte man den Abstand jener Punkte vom Scheitel ein für allemal von bestimmter gleicher Größe wählen. Die Unzukömmlichkeit, daß dann dem 2, 3... fach mit zusammenfallendem Scheitel in derselben Ebene nebeneinander gelegten Winkel nicht das 2, 3... fache Entfernungsmaß jener Punkte entspricht, hat diese Bestimmungsweise in den Elementen nicht aufkommen lassen.514 Ein einfacheres Maß, eine einfachere Charakteristik des Winkels erhält man durch den aliquoten Teil des Kreisbogens oder der Kreisfläche, welche der in die Ebene des Kreises mit dem Scheitel auf das Zentrum gelegte Winkel ausschneidet. Es liegt hierin eine bequemere Übereinkunft.515 Wenn wir den Kreisbogen zur Bestimmung des Winkels benutzen, so messen wir eigentlich wieder ein Volumen, welches durch einen Körper von besonderer einfacher Form, zwischen vom Scheitel gleich weit abstehende Schenkelpunkte eingeschaltet wird. Der Kreis kann aber durch bloße (gerade) Entfernungen charakterisiert werden. Es ist Sache der Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit, der daraus hervorgehenden Geläufigkeit und Bequemlichkeit, daß hauptsächlich zwei Maße, das (gerade) Längenmaß und das Winkelmaß als Grundmaße verwendet und die übrigen Maße aus diesen abgeleitet werden. Notwendig ist dies keineswegs. Man kann z.B. ohne besonderes Winkelmaß die[377] senkrecht eine Gerade durchschneidende Gerade dadurch bestimmen, daß alle ihre Punkte von zwei Punkten der ersteren Geraden, welche vom Durchschnittspunkt gleich weit abstehen, durchaus gleiche Entfernungen haben (Fig. 20). Die Halbierungslinie eines Winkels kann in ganz ähnlicher Weise bestimmt, und durch fortgesetzte Halbierungen kann eine beliebig kleine Winkeleinheit abgeleitet werden. Als eine zu einer Geraden parallele Gerade kann diejenige bezeichnet werden, deren sämtliche Punkte durch kongruente, krumme oder gerade Bahnen in Punkte der ersteren übergeführt werden, oder ebenso aus letzteren hervorgehen.516 Es ist ganz wohl möglich von der (Geraden) Länge als Grundmaß allein auszugehen. Es sei uns ein fester physischer Punkt a gegeben. Ein anderer Punkt m hätte die Entfernung ra von demselben. Dann kann er noch überall in der mit ra um a beschriebenen Kugelfläche liegen. Kennt man noch einen zweiten festen Punkt b, von dem m die Entfernung rb hat, so ist das Dreieck abm starr, bestimmt; aber m kann sich noch auf dem Kreis bewegen, der durch die Achsendrehung um ab beschrieben wird. Hält man nun den Punkt m in irgend einer Lage fest, so ist auch der ganze starre Körper, dem etwa die drei Punkte a, b, m angehören, fest.

37. Durch die Entfernungen ra, rb, rc von mindestens drei im Raume festen Punkten a, b, c ist also ein Punkt m räumlich bestimmt. Diese Bestimmung ist jedoch keine eindeutige, denn die Pyramide mit den Kanten ra, rb, rc, in deren Scheitel m liegt, läßt sich sowohl auf der einen wie auf der andern Seite der Ebene abc konstruieren. Wollte man die Seite, etwa durch ein Zeichen festsetzen, so wäre dies eine physiologische Bestimmung, denn geometrisch sind die beiden Seiten der Ebene nicht verschieden. Soll ein Punkt m eindeutig bestimmt sein, so muß noch dessen Entfernung rd von einem vierten Punkt d, der außer der Ebene abc liegt, gegeben sein. Ein anderer Punkt m' bestimmt sich ebenso vollkommen durch vier Entfernungen r'a, r'b, r'c, r'd. Demnach ist auch die Entfernung von m und m' hiermit schon gegeben. Dasselbe gilt für beliebige weitere Punkte bei[378] Bestimmung derselben durch je vier Entfernungen. Zwischen 4 Punkten sind 4((4-1)/1·2) = 6 Entfernungen denkbar und ebensoviele müssen gegeben sein, um die Form des Punktkomplexes zu bestimmen. Bei 4+z = n Punkten genügen 6+4z oder 4n-10 Entfernungen zur Bestimmung, während eine größere Zahl, nämlich (n(n-1))/1·2 Entfernungen existieren, so daß also der Überschuß derselben mit bestimmt ist.517

38. Geht man von drei Punkten aus und setzt fest, daß alle Entfernungen weiter zu bestimmender Punkte für eine Seite der Ebene jener 3 Punkte gelten, so genügen für ein System von n Punkten 3n-6 Entfernungen zur Form- und Größenbestimmung und zur Lagenbestimmung in Bezug auf die drei Ausgangspunkte. Wird aber über die Seite der Ebene nichts festgesetzt, welche Festsetzung, wie gesagt, sich an anschauliche, physiologische, nicht aber an begriffliche, metrische Merkmale hält, so kann das Punktsystem statt der beabsichtigten Form und Lage die zu ersterer symmetrische annehmen, oder es kann sich aus den Punkten beider kombinieren. Symmetrische geometrische Gebilde erscheinen uns vermöge unserer symmetrischen physiologischen Organisation sehr leicht als gleich, während dieselben metrisch und physisch gänzlich verschieden sind. Eine rechts- und eine linksgewundene Schraube, zwei entgegengesetzt rotierende Körper u.s.w. sind für die Anschauung sehr ähnlich, wir dürfen sie aber deshalb nicht für geometrisch oder physisch gleichwertig halten. Beachtung dieses Umstandes möchte manche paradoxe Frage ausschalten. Man bedenke, was solche Fragen Kant zu schaffen gemacht haben. Anschauliche physiologische Merkmale sind durch Beziehungen zu unserem Leib, zu einem körperlichen System von besonderer Beschaffenheit, metrische Merkmale aber durch Verhältnisse zur allgemeinen Körperwelt bestimmt. Die letzteren können nur durch Deckungserfahrungen, durch Messung ermittelt werden.[379]

39. Wie wir sehen, kommt jede geometrische Bestimmung im Grunde auf eine Volumenmessung, auf eine Körperauszählung zurück. Die Längenmessung wie die Flächenmessung beruht auf der Volumenvergleichung sehr dünner Schnüre, Stäbe und Blätter von konstanter Dicke. Dem widerspricht nicht, daß man aus Längenmaßen Flächenmaße, aus Längenmaßen allein oder mit Flächenmaßen zusammen Körpermaße aritmetisch ableiten kann. Es zeigt dies nur, daß verschiedenartige Volumenmessungen voneinander abhängig sind. Diese Abhängigkeiten zu ermitteln, ist die Grundaufgabe der Geometrie, so wie es die Aufgabe der Arithmetik ist, die Abhängigkeit der Zähloperationen, unserer Ordnungstätigkeiten voneinander zu ermitteln.

40. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Erfahrungen des Gesichtssinnes die rasche Entwicklung der Geometrie bedingt haben. Die Vertrautheit mit den Eigenschaften der Lichtstrahlen, die wir bei der heutigen Entwicklung der Technik haben, darf uns aber nicht verleiten, Erfahrungen an Lichtstrahlen für die wesentliche Grundlage der Geometrie zu halten. Strahlen in staubiger oder rauchiger Luft liefern uns ja eine sehr schöne Anschauung der Geraden. Die metrischen Eigenschaften der Geraden können wir aber von einem Lichtstrahl ebensowenig abnehmen, als von einer vorgestellten Geraden. Hierzu sind unbedingt Erfahrungen an körperlichen Objekten notwendig. Das Seilspannen der praktischen Geometer ist gewiß älter als die Anwendung der Diopter. Kennen wir aber einmal die körperliche Gerade, so liefert uns der Lichtstrahl ein sehr anschauliches und bequemes Mittel, zu neuen Ansichten zu gelangen. Die moderne synthetische Geometrie hätte ein Blinder kaum erfinden können. Die ältesten und stärksten Erfahrungen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, sind aber dem Blinden durch den Tastsinn ebenso zugänglich, wie dem Sehenden. Beide kennen die räumliche Beständigkeit der Körper trotz deren Beweglichkeit; beide gewinnen eine Vorstellung des Volumens beim Ergreifen derselben. Der Schöpfer der primitiven Geometrie sieht erst instinktiv, dann absichtlich und bewußt von den Eigenschaften der Körper ab, die für seine Operationen nicht von Belang sind, die ihn augenblicklich nicht interessieren. So entstehen nach und nach auf Grund der Erfahrungen die idealisierten Begriffe der Geometrie.[380]

41. Unsere geometrische Erkenntnis stammt also aus verschiedenen Quellen. Eine Menge räumlicher Formen ist uns durch die unmittelbare Anschauung, durch den Gesichts- und Tastsinn physiologisch geläufig. An dieselben knüpfen sich physikalische (metrische) Erfahrungen (über die Vergleichung der unter gleichen Umständen durch verschiedene Körper ausgelösten Raumempfindungen), die sich allerdings wieder auf den Zusammenhang von Sinnesempfindungen zurückführen lassen. Diese Erfahrungen verschiedener Ordnung sind meist so innig verschmolzen, daß sie sich nur bei sorgfältiger Analyse trennen. Daher rühren auch die weit auseinander gehenden Ansichten über Geometrie. Bald wird dieselbe auf die bloße Anschauung, bald auf die physische Erfahrung zurückgeführt, je nachdem das eine Moment überschätzt wird oder unbeachtet bleibt. Beide Momente haben aber zur Entwicklung der Geometrie mitgewirkt und sind auch in der heutigen Geometrie noch wirksam, da sich diese, wie gezeigt wurde, keineswegs ausschließlich rein metrischer Begriffe bedient.

42. Wenn man einen unbefangenen aufrichtigen Menschen frägt, wie er sich den Raum, z.B. auf ein Descartessches Koordinatensystem bezogen, vorstellt, so wird derselbe etwa sagen: »Ich stelle mir ein System von starren (formfesten), durchsichtigen, durchdringlichen, sich berührenden Würfeln vor, deren Grenzflächen nur durch schattenhafte Gesichts- oder Tastvorstellungen gezeichnet sind, mit einem Wort eine Art Gespenster von Würfeln.« Über und durch diese Körper-Gespenster bewegt sich ein wirklicher Körper oder dessen Gespenst mit Wahrung seiner räumlichen Beständigkeit (in dem oben angegebenen Sinne) hinweg, wenn wir praktische oder theoretische Geometrie oder Phoronomie treiben. Die berühmte Gaußsche Untersuchung über krumme Flächen z.B. handelt eigentlich von der Applikation unendlich dünner blattförmiger, demnach biegsamer Körper aneinander. Daß Erfahrungen verschiedener Ordnung bei Bildung der betreffenden Grundvorstellungen zusammengewirkt haben, ist nicht zu verkennen.

43. So mannigfaltig auch die Spezialerfahrungen waren, von welchen die Geometrie ihren Ausgang genommen hat, so lassen sich dieselben doch auf ein Minimum von Tatsachen zurückführen:[381] Es gibt bewegliche Körper von besonderer räumlicher Beständigkeit, starre Körper. Die Beweglichkeit ist aber in folgender Weise charakterisiert. Wir ziehen von einem Punkt aus drei Gerade, welche nicht alle drei in einer Ebene liegen, sonst aber ganz beliebig sind. Durch drei Fortschreitungen parallel diesen Geraden kann von jedem Punkt aus jeder andere erreicht werden. Drei physiologisch und metrisch als einfachste charakterisierte Abmessungen, Dimensionen, genügen also für alle räumlichen Bestimmungen. Dies sind die Grundtatsachen.

44. Die physikalisch-metrischen Erfahrungen werden wie alle Erfahrungen, welche die Grundlage einer experimentellen Wissenschaft bilden, begrifflich idealisiert. Das Bedürfnis, die Tatsachen durch einfache, durchsichtige, logisch leicht zu beherrschende Begriffe darzustellen, führt hierzu. Es gibt einen absolut starren, räumlich ganz unveränderlichen Körper, eine vollkommene Gerade, eine absolute Ebene so wenig, als es ein vollkommenes Gas, eine vollkommene Flüssigkeit gibt. Dennoch operieren wir lieber und leichter mit diesen Begriffen, als mit anderen, welche genauer den Eigenschaften der Objekte entsprechen, und nehmen dafür nachträglich auf die Abweichungen Rücksicht. Die theoretische Geometrie braucht diese Abweichungen überhaupt nicht zu beachten, indem sie eben Objekte voraussetzt, welche die Bedingungen der Theorie vollkommen erfüllen, wie die theoretische Physik. Hat die praktische Geometrie sich aber mit wirklichen Objekten zu beschäftigen, so ist sie in dieselbe Notwendigkeit versetzt, wie die praktische Physik, die Abweichungen von den theoretischen Annahmen zu berücksichtigen. Außerdem hat aber die Geometrie noch den Vorteil, daß jede Abweichung ihrer Objekte von den Voraussetzungen der Theorie, welche man noch erkennt, auch beseitigt werden kann, während die Physik aus naheliegenden Gründen keine vollkommeneren Gase herzustellen vermag, als sie eben in der Natur vorkommen. Denn in letzterem Falle handelt es sich nicht um eine willkürlich herstellbare räumliche Eigenschaft allein, wie im ersteren, sondern um die in der Natur vorkommende, von unserer Willkür unabhängige Beziehung zwischen Druck, Volumen und Temperatur.

45. Die Wahl der Begriffe ist zwar durch die Tatsachen nahegelegt, gewährt aber, da sie auf selbsttätiger Nachbildung der[382] ersteren in Gedanken beruht, der Willkür einen gewissen Spielraum. Die Wichtigkeit der Begriffe wird nach der Größe des Anwendungsgebietes geschätzt. Deshalb wird der Begriff der Geraden und der Ebene in den Vordergrund gestellt, weil jedes geometrische Objekt sich wenigstens mit hinreichender Annäherung in eben und geradlinig begrenzte Elemente auflösen läßt. Welche Eigenschaften der Geraden, der Ebene u.s.w. wir besonders beachten wollen, bleibt willkürlich, und dies spricht sich in den verschiedenen Definitionen desselben Begriffes aus.518

46. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die Grundsätze der Geometrie der physikalischen Erfahrung entnommen sind, indem ja die Raumanschauung, die Raumempfindung an sich der Messung gar nicht zugänglich ist, keine metrischen Erfahrungen zuläßt. Ebenso gewiß ist es aber, daß, wenn einmal der Zusammenhang der Raumanschauung mit den einfachsten metrischen Erfahrungen geläufig geworden ist, geometrische Tatsachen mit Leichtigkeit und Sicherheit in der bloßen Vorstellung, im Gedankenexperiment reproduziert werden können. Schon der Umstand, daß einer kontinuierlichen metrischen Änderung der Körper eine kontinuierliche Änderung der Raumempfindung entspricht, ermöglicht in der bloßen Vorstellung zu ermitteln, welche metrischen Elemente überhaupt voneinander abhängen. Wenn nun solche metrische Elemente in gleicher Weise in verschiedene Konstruktionen von verschiedener Lage eingehen, so wird man deren metrische Ergebnisse als gleich ansehen. Der vorher erwähnte Fall des gleichschenkligen und gleichseitigen Dreiecks mag als Beispiel dienen. Das geometrische Gedankenexperiment ist gegen das physikalische nur darin im Vorteil, daß ersteres auf Grund viel einfacherer, leichter und fast unbewußt gewonnener Erfahrungen ausgeführt werden kann.


Zur Psychologie und natürlichen Entwicklung der Geometrie

47. Die Raumanschauung und Raumvorstellung ist an sich qualitativ, nicht quantitativ, nicht metrisch. Wir entnehmen aus denselben Übereinstimmungen und Verschiedenheiten der Ausdehnung, aber keine eigentlichen Größen. Man denke sich z.B. eine feste Münze und an dieser ohne Gleiten Rand an Rand im[383] Sinne des Uhrzeigers abrollend eine gleich große zweite Münze. So lebhaft man sich auch das Abrollen vorstellen mag, wird man doch vergebens versuchen, aus dieser Vorstellung allein den Drehungswinkel bei vollem Umlauf abzuleiten. Berücksichtigt man aber, daß zu Beginn der Bewegung die Radien a, a' (Fig. 21) eine Gerade bilden, nach Abrollen des Viertelumfangs der festen Münze aber die Radien b, b' in einer Geraden liegen, so sieht man sofort, daß nun der Radius a' vertikal aufwärts gerichtet ist, also eine halbe Drehung gemacht hat. Das Ausmaß der Drehung wird also aus metrischen Begriffen abgeleitet, welche idealisierte Erfahrungen an körperlichen Objekten fixieren, der Sinn der Drehung aber wird hierbei in der anschaulichen Vorstellung festgehalten. Die metrischen Begriffe stellen nur fest, daß zu gleichen Bogen gleicher Kreise auch gleiche Winkel gehören, daß die an den Berührungspunkt gezogenen Kreisradien in eine Gerade fallen u.s.w.

48. Stelle ich mir ein Dreieck mit wachsendem Winkel vor, so sehe ich auch die gegenüberliegende Seite wachsen. Es entsteht dadurch der Eindruck, daß die betreffende Abhängigkeit a priori aus der Vorstellung folgt. Doch reproduziert hier die Vorstellung nur eine Erfahrungstatsache. Winkelmaß und Seitenmaß sind zwei auf dieselbe Tatsache anwendbare physikalische Begriffe, die uns so geläufig sind, daß sie uns nur als zwei verschiedene Merkmale derselben Tatsachenvorstellung, demnach als notwendig verbunden erscheinen. Doch würden wir ohne physikalische Erfahrung jene Begriffe nie gewonnen haben.

49. Das Zusammenwirken der Anschauung und idealisierter Erfahrungsbegriffe zeigt sich bei jeder geometrischen Ableitung. Betrachten wir z.B. den einfachen Satz, daß die drei Senkrechten auf den Seitenmittelpunkten des Dreieckes ABC sich in einem Punkte schneiden. Das Experiment und die Anschauung hat wohl auf den Satz geleitet. Je feiner man aber die Konstruktion[384] ausführt, desto besser überzeugt man sich, daß die dritte Senkrechte nicht genau durch den Schnittpunkt der beiden ersten hindurchgeht, daß also bei einer wirklichen Konstruktion drei nahe aneinander liegende Schnittpunkte gefunden werden. Denn in Wirklichkeit zieht man weder vollkommene Gerade, noch vollkommene Senkrechte, noch setzt man dieselben genau auf die Seitenmittelpunkte auf u.s.w. Nur für diese idealen Voraussetzungen enthält die Senkrechte auf die Mitte von AB alle von A, B gleich weit entfernten Punkte, die Senkrechte auf die Mitte von BC alle von B, C gleich abstehenden Punkte. Demnach ist der Schnittpunkt beider gleich weit von A, B, C und gehört wegen des gleichen Abstandes von A, C auch der dritten Senkrechten auf die Mitte von AC an. Der Satz sagt also nur, daß je genauer die Voraussetzungen erfüllt sind, desto genauer die drei Schnittpunkte zusammenfallen.

50. Wie wichtig die Zusammenwirkung der Anschauung und des Begriffes ist, möchte durch diese Beispiele deutlich geworden sein. »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind«, sagt Kant.519 Vielleicht könnte man noch besser sagen: »Begriffe ohne Anschauung sind blind, Anschauungen ohne Begriffe sind lahm«. Denn es möchte doch nicht ganz berechtigt sein, die Anschauung blind und die Begriffe leer zu nennen. Wenn Kant520 ferner behauptet, »daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist«, so kann man vielleicht von allen Wissenschaften und von der Mathematik sagen, »daß sie nur insofern Wissenschaften sind, als sie mit Begriffen operieren«. Denn nur über Begriffe, deren Inhalt wir selbst bestimmt haben, erstreckt sich unsere logische Herrschaft.

51. Die Tatsachen der Starrheit und der Beweglichkeit der Körper würden genügen, um jede noch so komplizierte geometrische Tatsache zu begreifen, d.h. aus ersteren abzuleiten. Allein die Geometrie hat sowohl in ihrem eigenen Interesse, wie als Hilfswissenschaft, oder zur Verfolgung praktischer Zwecke,[385] Fragen von oft wiederkehrender Form zu beantworten. Es wäre nun nicht ökonomisch, jedesmal von den elementarsten Tatsachen beginnend jeden neuen Fall immer wieder von Grund aus zu analysieren. Vielmehr empfiehlt es sich, aus einigen wenigen einfachen, geläufigen und unbezweifelten Sätzen, bei deren Wahl die Willkür durchaus nicht ausgeschlossen ist,521 die Antworten auf häufiger vorkommende Fragen in Form von Lehrsätzen ein für allemal für den Gebrauch zurecht zu legen. Aus diesem Gesichtspunkt versteht man sofort die Form der Geometrie, z.B. den Wert, den dieselbe auf ihre Dreieckssätze u.s.w. legt. Für den bezeichneten Zweck ist es wünschenswert, möglichst allgemeine Sätze von weitestem Gültigkeitsbereich zu gewinnen. Die Geschichte lehrt, daß solche Sätze durch Zusammenfassung von Spezialerkenntnissen zu einer allgemeineren Erkenntnis gewonnen wurden. Auch gegenwärtig ist man zu diesem Vorgang noch genötigt, wenn es sich um den Zusammenhang zweier geometrischen Gebilde handelt, und wenn die Spezialfälle der Form und Lage zu Modifikationen der Ableitungsschritte nötigen. Als bekanntestes Beispiel aus der Elementargeometrie mag die Ableitung des Verhältnisses von Zentri- und Peripheriewinkel angeführt werden. Kroman522 hat sich die Frage vorgelegt, wieso wir einen Nachweis für eine spezielle Figur (ein besonderes Dreieck) als allgemein gültig ansehen? Er findet die Aufklärung in der Annahme, daß wir die Figur in Gedanken rasch variierend alle möglichen Formen annehmen lassen und uns so von der Zulässigkeit derselben Schlußweise in allen Spezialfällen überzeugen. Die Geschichte und die Selbstbeobachtung lehren diesen Gedanken als einen im wesentlichen richtigen kennen. Allein wir dürfen nicht (mit Kroman) annehmen, daß jedes Geometrie treibende Individuum sich in jedem Einzelfall »blitzschnell« diese vollständige Übersicht verschafft und sich zu dieser Klarheit und Stärke der geometrischen Überzeugung erhebt. Oft ist die verlangte Operation gar nicht ausführbar, und Irrtümer beweisen, daß sie in andern Fällen nicht ausgeführt wurde, daß man sich mit einer Vermutung nach der Analogie begnügt[386] hat.523 Was das Individuum aber in einem Augenblick nicht leistet oder nicht leisten kann, dazu hat es sein ganzes Leben lang Zeit. Ganze Generationen arbeiten an der Kontrolle der Geometrie. Die Überzeugung von deren Richtigkeit wird auch durch diese Kollektivarbeit gestärkt.524 Ich kannte einen sonst ausgezeichneten Lehrer, welcher seine Schüler nötigte, alle Nachweise an einer falschen Figur zu führen, da es, wie er meinte, auf die Figur überhaupt nicht ankäme, sondern nur auf den logischen Zusammenhang der Begriffe. Die in den Begriffen fixierten Erfahrungen haften aber an den Anschauungen. Welche Begriffe nun auf einen Fall anwendbar sind, darüber kann uns nur die angeschaute oder vorgestellte Figur belehren. Um den Anteil der logischen Operationen an einer Einsicht fühlbar zu machen, eignet sich das Verfahren jenes Lehrers vorzüglich. Wer es aber regelmäßig anwendet, verkennt gewiß, daß die Begriffe ihre Kraft aus der Sinnlichkeit schöpfen.

Die Meinung, daß eine neue Einsicht durch glücklich zurechtgelegte Syllogismen in wenigen Minuten für immer sich einfangen läßt, ist den genau beobachteten Tatsachen gegenüber[387] nicht aufrecht zu halten. Sie ist weder für den einzelnen Lernenden oder Forscher, noch für ein Volk oder die Menschheit, weder für die Geometrie, noch für irgend eine andere Wissenschaft zutreffend. Die Geschichte der Wissenschaft lehrt im Gegenteil, daß eine neue richtige, und auf richtige Grundlagen zurückgeführte Einsicht, bald mehr oder weniger sich trüben, einseitig und unvollständig hervortreten, einem Teil der Forscher sogar verloren gehen, und wieder aufleuchten kann. Das einmalige Finden und Aussprechen einer Einsicht genügt nicht. Jahre und Jahrhunderte sind oft nötig, das allgemeine Denken soweit zu entwickeln, damit eine Einsicht dem gemeinsamen Besitz sich einverleibe und dauernd erhalten bleibe. Besonders schön wird dies beleuchtet durch Duhems525 eingehende Untersuchungen zur Geschichte der Statik.[388]

485

Dieser Artikel erschien in »The Monist«. July 1902.

486

Eisenlohr, Ein mathematisches Handbuch der alten Ägypter. Papyrus Rhind. Leipzig 1877.

487

M. Cantor, Die römischen Agrimensoren. Leipzig 1875.

488

Herodot, VII, 22, 56, 103, 223.

489

Hölder, Anschauung u. Denken in der Geometrie. Leipzig 1900. S. 18.

490

Brief an Giordano (Leibniz, Mathem. Schriften, herausg. v. Gerhardt. Berlin 1849. I. Abt., I. Bd., S. 199).

491

Weißenborn, Prinzipien der höheren Analysis in ihrer Entwicklung. Halle 1856. – Gerhardt, Entdeckung der höheren Analysis. Halle 1855. S. 18 u. f. – M. Cantor, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1892. II. Bd.

492

Helmholtz, Erhaltung der Kraft. Berlin 1847. S. 14.

493

Für Leser, welche der Geometrie ferner stehen, mag die Cavalierische Methode durch ein einfaches Beispiel erläutert werden. Wir denken uns aus einem Block von Papierblättern auf einem Tische einen geraden Zylinder mit horizontaler Kreisbasis herausgeschnitten, und zugleich einen Kegel von derselben Basis und Höhe in den Zylinder eingeschrieben. Während die vom Zylinder ausgeschnittenen Blätter alle gleich sind, wachsen die dem Kegel angehörigen Blätter quadratisch mit der Entfernung vom Scheitel. Die Elementargeometrie lehrt in diesem Falle das Kegelvolumen als den dritten Teil des Zylindervolumens kennen. Hiervon ergibt sich nun sofort eine Anwendung auf die Quadratur der Parabel. Um ein Parabelstück werde ein Rechteck beschrieben, durch die Achse, die Scheiteltangente und die zugehörigen Gegenseiten.

Denkt man sich das Rechteck mit einem zu x parallelen Fadensystem überzogen, so gehört zu jedem Faden von der zu x parallelen Rechteckseitenlänge ein y2 proportionales Fadenstück außerhalb des Parabelabschnittes. Demnach steht die Fläche außerhalb des Parabelabschnittes zur Fläche des gesamten Rechteckes im Verhältnis 1:3, gerade so wie das Volumen des Kegels zu jenem des Zylinders. Es spricht für die Natürlichkeit der Cavalierischen Anschauung, daß auch Schreiber dieser Zeilen, der als Gymnasiast von der höheren Geometrie hörte, aber nichts von derselben zu sehen bekam, auf sehr ähnliche Anschauungen verfiel, was ja im 19. Jahrhundert nicht mehr schwierig war. Er machte mit Hilfe derselben eine Menge kleiner, natürlich längst bekannter Entdeckungen, fand so den Güldinschen Satz, berechnete einige der Keplerschen Rotationskörper u.s.w.

494

Herodot, II, 109.

495

James Gow, History of Greek mathematics. Cambridge 1884. S. 134.

496

Der Satz wird von Proklus den Pythagoräern zugeschrieben. Vgl. Gow, History. S. 143.

497

Hankel, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1874. S. 96.

498

Thibaut, Grundriß der reinen Mathematik. Göttingen 1809. S. 177. – Die möglichen Einwendungen gegen diese und die folgenden Ableitungen lassen wir vorläufig unberücksichtigt.

499

Auch vom Verfasser bei Gelegenheit des Zeichnens bemerkt.

500

Tylor, Einleitung in das Studium der Anthropologie. Braunschweig 1883. S. 383.

501

Vgl. z.B. Sundara Row, Geometric Exercises in Paper-Folding. Chicago 1901.

502

Hankel, Gesch. d. Mathem. S. 206-207.

503

Tylor, a. a. O.

504

Euklid, Elemente, I. Def. 3.

505

Euklid, Elemente, I. Prop. 20.

506

Leibniz in einem Brief an Vitale Giordano (abgedr. in Leibnizens math. Schriften, herausgegeben von Gerhardt, Berlin 1849, I. Abt., Bd. I, S. 195, 196) benützt letztere Eigenschaft zur Definition der Geraden. Die Verschiebbarkeit in sich selbst teilt die Gerade mit dem Kreise und der Kreiszylinderspirale. Die Drehung in sich selbst und die Bestimmung durch zwei Punkte sind ihr aber ausschließlich eigen.

507

Vgl. Euklid, Elemente I. Definition 7.

508

»Et difficulter absolvi poterit demonstratio, nisi quis assumat notionem rectae, qualis est qua ego uti soleo, quod corpore aliquo duobus punctis immotis revoluto locus omnium punctorum quiescentium sit recta, vel saltem quod recta sit linea secans planum interminatum in duas partes congruas; et planum sit superficies secans solidum interminatum in duas partes congruas.«

509

Leibniz in seiner »geometrischen Charakteristik« in dem Brief an Huygens vom 8. September 1679, Gerhardt, a. a. O., II. Abt., Bd. I, S. 23.

510

W. T. Campbell, Observational Geometry. New York 1899. – W. W. Speer, Advanced Arithmetic. Boston 1899.

511

Snell, Lehrbuch der Geometrie. Leipzig 1869.

512

Der ganze Aufbau der Euklidischen Geometrie läßt diese Grundlage schon deutlich erkennen. Noch klarer äußert sich dieselbe in der schon erwähnten Leibnizschen Charakteristik. Wir kommen auf diese Sache noch zurück.

513

M. Cantor, Geschichte der Mathematik. Leipzig 1880. I, S. 55, 56.

514

In der Trigonometrie kommt doch ein nahe verwandtes Maßprinzip zur Anwendung.

515

So dient auch die ausgeschnittene Kugelfläche als Maß des Körperwinkels.

516

Bei dieser Fassung wäre der Zweifel an dem Euklidischen Parallelensatz wahrscheinlich viel später aufgetreten.

517

Ein interessanter Versuch, die Euklidsche und auch die Nicht- Euklidsche Geometrie auf den bloßen Begriff der Entfernung zu gründen, rührt her von De Tilly, Essai sur les principes fondamentaux de la géométrie et de la mécanique (Mémoires de la société des sciences physiques et naturelles de Bordeaux 1880).

518

Man vergleiche z.B. die Definition der Geraden bei Euklid und bei Archimedes.

519

Kritik der reinen Vernunft. 1787. S. 75.

520

Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Vorwort.

521

Zindler, Zur Theorie der mathematischen Erkenntnis. Sitzber. d. Wiener Akadem. philos.-histor. Cl., Bd. 118. 1889.

522

Kroman, Unsere Naturerkenntnis. Kopenhagen 1883. S. 74 u. f.

523

Hölder, Anschauung und Denken in der Geometrie. Leipzig 1900. S. 12.

524

Gerken, der sich in seiner Programmabhandlung: »Die philosophischen Grundlagen der Mathematik« (Perleberg 1887, S. 27) ähnlich ausspricht wie Kroman, beruft sich hierbei auf Beneke. Beneke behandelt nun an mehreren Stellen seiner »Logik als Kunstlehre des Denkens« die mathematische Erkenntnis recht ausführlich, so z.B. II, S. 51 u. f. Es heißt dort S. 52-53: »Zuerst ist es keinem Zweifel unterworfen, daß eine solche unendliche Vergleichung wirklich vollzogen werden könne; ja dies läßt sich in manchen Fällen selbst unmittelbar anschaulich nachweisen. Man nehme den vorher angeführten geometrischen Satz (von der Winkelsumme im Dreieck). Wenn ich den der verlängerten Grundlinie gegenüberliegenden Winkelpunkt des Dreieckes im Kreise herumführe und hierbei zugleich (indem ich die Hilfslinien und den ganzen Beweis ebenso herumführe) in stetigem Fortschritte anschaulich mache, daß das bezeichnete Verhältnis bei allen Lagen des Dreieckes, und (was hiermit unmittelbar zusammenhängt) bei allen Größenverhältnissen ebenso stattfinde: habe ich hierbei eine endliche oder unendliche Anzahl von Fällen verglichen?«... Von der bedenklichen Blitzesschnelligkeit ist aber bei Beneke nicht die Rede. – Vgl. hierzu die abweichenden Ausführungen von C. Siegel, Versuch einer empiristischen Darstellung der räumlichen Grundgebilde u.s.w. (Vierteljahrschr. f. wiss. Philosophie, 1900, insbesondere S. 203.)

525

Duhem, Les origines de la statique, Paris 1905, besonders T. I, S. 181 u. f.

Quelle:
Ernst Mach: Erkenntnis und Irrtum. Leipzig 31917, S. 353-389.
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