Siebenundzwanzigstes Kapitel

[182] Dritte Reise nach Berlin. Gescheiterter Plan der hebräischen Schriftstellerei. Reise nach Breslau. Ehescheidung.


Ich besuchte nun meine alten Freunde, Herrn Mendelssohn, Herrn Doktor B., Herrn F., J., L. und bat, da ich mir nun einige Sprachkenntnisse erworben hätte, mich zu irgendeinem, meiner Fähigkeit angemessenen[182] Geschäfte zu brauchen. Diese gerieten auf den Einfall, daß ich zur Aufklärung der noch im Dunkeln lebenden polnischen Juden wissenschaftliche Bücher in hebräischer (der einzigen ihnen verständlichen) Sprache verfertigen sollte, die diese Menschenfreunde auf ihre Kosten drucken und unter die Nation verbreiten wollten. Ich nahm diesen Vorschlag mit Freuden an. Nun entstand aber die Frage: Mit welcher Art Schriften man den Anfang machen solle? Hierüber waren diese vortrefflichen Männer in ihren Meinungen geteilt. Herr J. meinte, daß die Geschichte der Nation zu diesem Zwecke hauptsächlich dienlich sei, indem die Nation dadurch den Ursprung ihrer Religionslehren und ihre nachherige Ausartung entdecke, und die Ursachen des Verfalls ihres Staats, ihrer nachherigen Verfolgungen und Bedrückungen in ihrer Unwissenheit und Widersetzlichkeit gegen alle vernünftige Einrichtung, einsehen lernen würde. Er riet daher, daß ich Basnages Geschichte der Juden aus dem Französischen liefern sollte, gab mir zu diesem Behufe das gedachte Werk und verlangte, daß ich zur Probe etwas davon liefern sollte. Diese Probe geriet zur Befriedigung aller, selbst Herrn Mendelssohns, und ich war schon bereit, Hand ans Werk zu legen. Herr F. aber meinte, daß man mit einer natürlichen Religion und vernünftigen Moral den Anfang machen müsse, indem diese der Zweck aller Aufklärung sei. Er riet daher, daß ich zu diesem Behuf Reimarus natürliche Religion übersetzen sollte. Mendelssohn hielt seine Meinung zurück, weil er glaubte, daß alles, was man von dieser Art unternähme, zwar nichts schaden, aber auch nicht viel nützen würde. Ich selbst unternahm diese Arbeiten nicht aus eigner Meinung, sondern auf Verlangen meiner Freunde.

Ich kannte zu gut den rabbinischen Despotismus, der durch die Macht des Aberglaubens schon seit vielen hundert Jahren in Polen seinen Thron befestigt hat, und der zu seiner Sicherheit die Ausbreitung von Licht und Wahrheit[183] auf alle mögliche Art zu verhindern sucht; wußte, wie genau die jüdische Theokratie mit ihrer Nationalexistenz verknüpft ist, so daß die Abschaffung der ersten die Vernichtung der letzten notwendig nach sich ziehen muß. Ich sah also ein, daß meine Bemühungen in dieser Rücksicht fruchtlos sein würden; doch übernahm ich diesen Auftrag, weil, wie schon gesagt, meine Freunde es einmal haben wollten und weil ich kein anderes Mittel zu meiner Subsistenz sah. Ohne also über den Plan meiner Arbeiten etwas Bestimmtes festzusetzen, beschlossen meine Freunde, mich nach Dessau zu schicken, wo ich mit Muße meine Arbeiten vornehmen könnte.

In Dessau gelangte ich mit der Hoffnung an, daß in einigen Tagen meine berlinischen Freunde über meine Arbeit etwas Bestimmtes beschließen würden, ich betrog mich aber, denn sobald ich Berlin den Rücken zugekehrt hatte, wurde an den ganzen Plan nicht mehr gedacht. Ich wartete ungefähr vierzehn Tage; da ich aber während dieser Zeit keine Resolution erhielt, so schrieb ich nach Berlin: »Wenn man sich in Ansehung des Planes nicht vereinigen könne, so möchten sie die Bestimmung desselben meiner eignen Wahl überlassen; ich für meinen Teil glaubte, daß man so wenig mit der Geschichte, als der natürlichen Geschichte und Moral, den Anfang der Aufklärung der jüdischen Nation machen müsse, indem diese Wissenschaften erstens wegen ihrer allgemeinen Faßlichkeit dem gelehrten Teil der Nation, der nur dasjenige, was Anstrengung der höheren Seelenkräfte erfordert, zu achten pflegt, keine Achtung für Wissenschaften überhaupt einflößen könnten, und sie zweitens nicht selten mit ihren Religionsvorurteilen in Kollision kämen und deshalb bei ihnen keinen Eingang finden würden. Auch gäbe es, die Wahrheit zu sagen, keine eigentliche Geschichte der Nation; denn diese stand beinahe niemals in einem politischen Verhältnis mit andern zivilisierten Nationen; und außer dem Alten Testament, dem Josephus und einigen Fragmenten[184] von den Verfolgungen der Juden in den mittleren Zeiten finden wir davon nichts aufgezeichnet. Ich glaubte daher, daß es am besten sein würde, den Anfang mit einer solchen Wissenschaft zu machen, die außerdem, daß sie der Entwicklung des Geistes am meisten beförderlich auch an sich evident sei, und mit keinen Religionsmeinungen in Verbindung stehe; von dieser Art sind die mathematischen Wissenschaften, und ich sei daher willens, zu diesem Behuf ein mathematisches Lehrbuch in hebräischer Sprache zu schreiben.« Hierauf bekam ich von Herrn F. die Antwort: daß ich meinem Plan folgen könne. Ich wandte allen Fleiß auf die Verfertigung dieses Lehrbuchs, legte die Wolffische lateinische Mathematik dabei zum Grunde, und in Zeit von ein paar Monaten war es fertig. Ich reiste nun nach Berlin zurück, um von meiner Arbeit Rechenschaft zu geben, mußte aber leider sogleich von Herrn J. die traurige Nachricht hören, daß, da dieses Werk sehr voluminös sei, und besonders wegen der dazu erforderlichen Kupferplatten viele Kosten verursachen würde, er die Herausgabe desselben nicht auf eigne Kosten unternehmen könne, und ich also mit meinem Manuskript machen könne, was ich wolle.

Ich beklagte mich hierüber bei Mendelssohn; dieser meinte zwar, daß es freilich unbillig sei, meine Arbeit unbelohnt zu lassen, daß ich aber auch nicht fordern könne, meine Freunde sollten die Herausgabe eines Werks, das nach der mir selbst bekannten Abneigung der Nation von allen Wissenschaften auf keinen guten Abgang rechnen dürfe, auf eigne Kosten unternehmen; sein Rat war daher, ich solle es auf Subskription drucken lassen. Natürlich mußte ich mich hiermit befriedigen. Mendelssohn und die andern aufgeklärten Juden in Berlin subskribierten, und ich behielt für meine Arbeit bloß mein Manuskript und die Subskriptionsliste; an den ganzen Plan aber wurde nicht mehr gedacht.

Hierüber zerfiel ich abermals mit meinen berlinischen[185] Freunden. Als ein Mann von wenig Weltkenntnis, und der nichts anders glaubte, als daß die menschlichen Handlungen bloß nach den Gesetzen der Gerechtigkeit bestimmt werden müßten, drang ich auf Erfüllung der getroffenen Verabredung. Meine Freunde hingegen fingen an, obgleich zu spät, einzusehen, daß ihr nicht genugsam überdachtes Projekt notwendig scheitern müsse, weil sie des Debits solcher voluminösen, viele Kosten erfordernden Werke nicht versichert waren. Bei dem bisherigen religiösen, moralischen und politischen Zustande der Nation war vorauszusehen, daß die wenigen Aufgeklärten sich gewiß keine Mühe geben würden, die Wissenschaften in der hebräischen Sprache, die zum Vortrag derselben am wenigsten geschickt ist, zu studieren, sondern sie vielmehr aus den Quellen selbst zu schöpfen suchen würden.

Die Unaufgeklärten – und dies ist die größte Zahl – werden von rabbinischen Vorurteilen so beherrscht, daß sie das Studium der Wissenschaften, wenn auch in hebräischer Sprache, für die verbotene Frucht halten und sich nur mit dem Studium des Talmuds und der ungeheuern Anzahl seiner Kommentare beständig abgeben. Alles dies sah ich sehr wohl ein, verlangte auch gar nicht den Druck meines ausgearbeiteten Werkes, sondern bloß Entschädigung der darauf umsonst gewandten Mühe. Mendelssohn blieb in dieser Zwistigkeit ganz neutral, weil er glaubte, daß beide Parteien recht hätten. Er versprach, meine Freunde zu bewegen, daß sie auf irgend eine andere Art für meine Subsistenz sorgen möchten. Da aber auch dieses nicht einmal zustande kam, so wurde ich ungeduldig, und beschloß, Berlin abermals zu verlassen und nach Breslau zu reisen.

Ich nahm zwar Empfehlungsschreiben dahin mit, die mir aber nicht viel halfen, denn, noch ehe ich selbst nach Breslau kam, waren schon Uriasbriefe dahin gekommen, die bei den meisten, welchen ich empfohlen war, einen übeln Eindruck machten. Ich wurde also, natürlicherweise,[186] kalt aufgenommen, und da ich von diesen letzteren Briefen nichts wußte, so konnte ich mir dieses unmöglich erklären, und war entschlossen, Breslau wieder zu verlassen.

Zufälligerweise wurde ich aber mit dem berühmten Dichter jüdischer Nation, dem seligen Ephraim Kuh, bekannt. Dieser, als ein gelehrter und edelgesinnter Mann, fand soviel Geschmack an mir, daß er, mit Hintansetzung aller seiner bisherigen Beschäftigungen und Ergötzungen, sich einzig und allein auf den Umgang mit mir einschränkte. Mit den reichen Juden sprach er von mir mit dem größten Enthusiasmus und rühmte mich als einen sehr guten Kopf. Da er aber merkte, daß alle seine Empfehlungen bei diesen Herren keinen Eindruck machten, so bemühte er sich, die Ursache davon zu erforschen und brachte auch endlich heraus, daß der Grund davon in den freundschaftlichen Briefen aus Berlin liege. »Salomon Maimon«, hieß es darin, »sucht schädliche Systeme zu verbreiten.« Ephraim Kuh sah gleich als ein denkender Mann den Grund dieser Beschuldigung ein, konnte es aber mit aller Mühe, die er sich darum gab, diesen Leuten nicht ausreden.

Ich gestand ihm, daß ich zwar bei meinem Aufenthalt in Berlin als ein junger Mann ohne Erfahrung und Weltkenntnis einen unwiderstehlichen Trieb empfand, die von mir erkannte Wahrheit zu verbreiten und andern mitzuteilen, bewies ihm aber auch, daß ich seit einigen Jahren, durch Erfahrung klug geworden, mit vieler Behutsamkeit zu Werke gehe, diese Beschuldigung also jetzt ganz ohne Grund sei.

Mißvergnügt über meine traurige Lage, beschloß ich, mich mit christlichen Gelehrten bekanntzumachen, durch deren Empfehlung ich bei den Reichen meiner Nation Gehör zu finden glaubte. Da ich aber befürchten mußte, daß meine mangelhafte Sprache dem Ausdruck meiner Gedanken Hindernisse in den Weg legen möchte, so verfertigte ich einen schriftlichen Aufsatz, worin ich meine[187] Gedanken über die wichtigsten Gegenstände der Philosophie aphoristisch vortrug. Mit diesem Aufsatz ging ich zu dem berühmten Herrn Professor Garve, machte ihm kürzlich mein Vorhaben bekannt und legte ihm meine Aphorismen zur Prüfung vor. Er unterhielt sich mit mir freundschaftlich über dieselben, gab mir ein sehr gutes Zeugnis und empfahl mich außerdem mündlich mit vielem Nachdruck dem reichen Bankier Herrn Lipmann Meier. Dieser setzte mir etwas Monatliches zu meinem Unterhalt aus, sprach auch mit andern Juden darüber.

Meine Lage verbesserte sich nun nach und nach immer mehr. Viele junge Leute von der jüdischen Nation suchten meinen Umgang; unter andern fand der mittelste Sohn des Herrn Aron Zadig soviel Geschmack an meiner Wenigkeit, daß er meinen Unterricht in den Wissenschaften zu genießen wünschte. Er hielt bei seinem Vater darum an, und dieser, ein wohlhabender, aufgeklärter Mann von vielem bon sens, der seinen Kindern die beste deutsche Erziehung zu geben suchte und auf ihre Ausbildung keine Kosten sparte, willigte darein mit Vergnügen.

Er ließ mich zu sich kommen und tat mir den Vorschlag, ob ich bei ihm ziehen und für ein mäßiges Honorarium seinem mittelsten Sohn ein paar Stunden in der Physik und den schönen Wissenschaften und seinem jüngsten gleichfalls eine Stunde im Rechnen geben wollte. Sehr gern ließ ich mir diesen Vorschlag gefallen. Nicht lange nachher bot mir Herr Zadig an, ob ich nicht auch seinen Kindern, die bisher einen polnischen Rabbi mit Namen Rabbi Manoth zum Lehrer in der hebräischen Sprache und den ersten Anfangsgründen der Mathematik gehabt hatten, in diesen Wissenschaften Unterricht geben wolle. Da ich es aber für unbillig hielt, diesen armen Mann, der eine Familie zu ernähren hatte, und mit dem man sonst zufrieden war, zu verdrängen, so lehnte ich dieses von mir ab. Rabbi Manoth behielt also seine Lektionen, und ich trat die meinigen an.[188]

Selbst studieren konnte ich in diesem Hause wenig. Erstlich fehlte es mir an Büchern, zweitens wurde ich auch immer sehr gestört, weil ich mit den Kindern in einer Stube wohnte, wo sich alle Stunden andre Maitres einfanden. Auch wollte sich das Rasche dieser jungen Leute nicht ganz mit meinem schon ernst gewordenen Charakter vertragen, und ich hatte also oft Gelegenheit über kleine Wildheiten zu zürnen. Da ich hier also meine meiste Zeit in Müßiggang zubringen mußte, so suchte ich mir Gesellschaft. Oft besuchte ich Herrn Heiman Lisse; ein kleines rundes Männchen von aufgeklärter Denkungsart und heiterm Gemüte. Mit diesem und andern lustigen Brüdern vertrieb ich mir des Abends meine Zeit, wo wir allerhand schwatzten, scherzten und spielten! Bei Tage aber trieb ich mich in Tabagien herum.

Auch in anderen Häusern wurde ich bald bekannt, und vorzüglich beim Herrn Bankier Simon und Herrn Bortenstein, die mir gleichfalls viel Wohltaten erzeigten. Alle suchten mich zu bereden, daß ich mich der Medizin widmen sollte, wogegen ich immer einen großen Widerwillen gehabt hatte. Als ich aber aus allen Umständen sah, daß ich sonst schwerlich Unterstützung finden würde, so ließ ich mich dazu bereden. Herr Professor Garve empfahl mich dem Herrn Professor Morgenbesser, ich frequentierte auch einige Zeit seine medizinischen Vorlesungen, konnte aber doch meinen Widerwillen gegen diese Kunst nicht überwinden, und gab also diese Kollegien wieder auf.

Nach und nach wurde ich auch mit andern christlichen Gelehrten bekannt, vorzüglich mit dem wegen seiner Talente sowohl als seines vortrefflichen Charakters und warmen Gefühls für das Interesse der Menschheit mit Recht so geschätzten seligen Lieberkühn, wie auch mit einigen verdienstvollen Lehrern von dem dasigen Jesuitenkollegium.

Ich gab auch hier in Breslau meine hebräischen Ausarbeitungen nicht gänzlich auf. Ich übersetzte Mendelssohns[189] Morgenstunden ins Hebräische und schickte einige Bogen zur Probe nach Berlin an Herrn Isaak Daniel Itzig, erhielt aber darauf keine Antwort, weil dieser vortreffliche Mann wegen seiner zu ausgebreiteten Tätigkeit unmöglich auf Gegenstände, die ihn nicht unmittelbar interessierten, seine Aufmerksamkeit wenden konnte, und also dergleichen Geschäfte, als die Beantwortung meines Briefes, leicht in Vergessenheit gerieten. Auch eine Naturlehre nach newtonianischen Prinzipien schrieb ich in hebräischer Sprache, und hebe sie sowohl als meine übrigen hebräischen Arbeiten noch bis jetzt in Manuskript auf.

Zuletzt kam ich auch hier wieder in eine mißliche Lage. Die Kinder des Herrn Zadig kamen ihrer Bestimmung zufolge in Handlungskondition, sie brauchten also keinen Lehrer mehr; andere Unterstützungen fielen auch nach und nach weg. Da ich also meine Subsistenz auf eine andere Art suchen mußte, so legte ich mich auf das Informieren, erklärte einem jungen Menschen Eulers Algebra, unterwies ein paar Kinder in den Anfangsgründen der deutschen und lateinischen Sprache und dergleichen. Aber auch selbst dieses dauerte nicht lange, und ich befand mich in kümmerlichen Umständen.

Unterdessen kam meine Frau und mein ältester Sohn aus Polen hier an. Jene, ein Frauenzimmer von rauher Erziehung und Lebensart, aber von sehr vielem bon sens und Amazonenmut, verlangte, daß ich gleich auf der Stelle mit ihr nach Hause reisen sollte, ohne die Unmöglichkeit einzusehen, daß ein Mann von meiner Art, der sich schon seit einigen Jahren in Deutschland aufgehalten, sich von den Fesseln des Aberglaubens und der Religionsvorurteile glücklich losgemacht, seine rohen Sitten und Lebensart abgelegt und seine Kenntnisse um vieles erweitert hatte, freiwillig wieder in den vorigen barbarischen und elenden Zustand sich zurückbegeben, aller erworbenen Vorteile sich berauben und der rabbinischen Wut sich bei der kleinsten Abweichung vom Zeremonialgesetz und bei[190] Äußerung eines freien Gedankens aussetzen sollte. Ich stellte ihr vor, daß dieses nicht sogleich anginge, daß ich erst sowohl meinen hiesigen als meinen Berliner Freunden meine Lage bekannt machen und sie um einen Beistand von ein paar hundert Talern ersuchen müsse, womit ich in Polen unabhängig von meinen Religionsverwandten leben könnte. Sie wollte aber von dem allem nichts wissen und eröffnete mir ihren Entschluß, sich von mir, wenn ich mit ihr nicht gleich reisen wollte, scheiden zu lassen. Hier war also unter zwei Übeln das kleinere zu wählen, und ich willigte in die Scheidung.

Ich mußte indessen doch für Wohnung und Unterhalt dieser Gäste sorgen und sie in Breslau herumführen. Beides tat ich, und machte vorzüglich meinen Sohn mit dem Unterschied bekannt, der zwischen der hiesigen und polnischen Lebensart stattfindet, suchte ihm auch durch einige Stellen aus dem More Newochim zu beweisen, daß Aufklärung des Verstandes und Verfeinerung der Sitten der Religion viel mehr vorteilhaft als nachteilig wären.

Ich tat noch mehr; ich suchte ihn zu bewegen, daß er bei mir bleiben sollte, und versicherte ihm, daß er in Deutschland durch meine Anleitung und durch Unterstützung einiger Freunde Gelegenheit finden würde, seine guten natürlichen Talente auszubilden und zweckmäßiger anzuwenden. Meine Vorstellungen machten auch Eindruck bei demselben.

Da aber meine Frau mit meinem Sohn einige orthodoxe Juden besuchte, auf deren Rat sie sich am besten verlassen zu können glaubte, so rieten diese, meine Frau sollte sogleich auf eine Ehescheidung dringen, mein Sohn aber auf keine Weise sich bewegen lassen, bei mir zu bleiben; doch müßten sie ihren Entschluß nicht eher entdecken, als bis sie zur häuslichen Einrichtung Geld genug von mir erhalten hätten. Dann könnten sie sich auf ewig von mir trennen und mit der gemachten Beute nach Hause ziehen. Treulich wurde dieser schöne Rat befolgt. Denn da ich[191] einige zwanzig Dukaten, nach und nach von meinen Freunden eingesammelt, meiner Frau gegeben hatte und ihr nun vorstellte, daß wir zur Vollmachung der nötigen Summe nach Berlin reisen müßten, so fing sie an, Schwierigkeiten zu machen, und sagte endlich geradeheraus, daß für uns eine Ehescheidung am besten sei, weil weder ich mit ihr in Polen noch sie mit mir in Deutschland glücklich leben würde.

Sie hatte meiner Meinung nach vollkommen recht. Da es mir indessen doch noch leid tat, eine Frau, der ich einstens gut gewesen war, zu verlieren, ich auch nicht die Sache zu leichtsinnig betrieben wissen wollte, so sagte ich ihr, daß ich nur dann in eine Ehescheidung willigen würde, wenn sie mir von den Gerichten auferlegt würde.

Dies geschah. Ich wurde vor Gericht zitiert, und da meine Frau ihre Gründe zur Ehescheidung vorgetragen hatte, sagte der Oberrichter: »Wir können unter diesen Umständen nichts anders tun, als zur Ehescheidung raten.« »Herr Oberrichter,« erwiderte ich hier auf, »wir kamen hier nicht her um Rat zu fragen, sondern um eine richterliche Sentenz zu erhalten.« Nun stand der Oberrabbiner von seinem Sitze auf (damit das, was er sagen würde, nicht die Kraft eines richterlichen Ausspruchs haben sollte), näherte sich mir mit dem Kodex in der Hand und zeigte mir darin folgende Stelle: Ein Vagabund, der seine Frau auf viele Jahre verläßt, ihr nicht schreibt und kein Geld schickt, soll, wenn er aufgefunden wird, zur Ehescheidung gerichtlich gezwungen werden.

»Es kommt mir nicht zu,« antwortete ich, »eine Vergleichung zwischen diesen Fall und dem meinigen anzustellen, dies kommt Ihnen als Richter zu. Setzen Sie sich also wieder an Ihren Platz und sprechen hierüber Ihre richterliche Sentenz.« Der Oberrichter wurde bald blaß, bald rot, stand bald auf, bald setzte er sich wieder, und die Herren Richter sahen sich wechselsweise einander an. Endlich wurde der Oberrichter böse, fing an, auf mich zu[192] schimpfen, nannte mich verdammter Ketzer und fluchte mir im Namen des Herrn. Ich aber ließ ihn toben und ging fort; und so endigte sich dieser seltsame Prozeß. Es blieb alles beim alten.

Da meine Frau sah, daß mit Gewalt nichts anzufangen war, legte sie sich aufs Bitten, und ich willigte auch endlich, jedoch mit der Bedingung ein, daß bei der Ehescheidung der so schön fluchende Herr Oberrichter nicht den Vorsitz führen solle. Nach der Ehescheidung reiste meine Frau mit meinem Sohn nach Polen zurück.

Ich blieb noch einige Zeit in Breslau; da sich aber mein Zustand immer mehr verschlimmerte, so beschloß ich, wieder nach Berlin zurückzukehren.

Quelle:
Maimon, Salomon: Geschichte des eigenen Lebens (1754–1800). Berlin 1935, S. 182-193.
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Ausgewählte Ausgaben von
Salomon Maimons Lebensgeschichte
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