I. Horzitz.

[12] Geboren bin ich zu Horzitz, einem kleinen Landstädtchen zwischen Königgrätz und Trautenau, nicht gar weit von der Sprachgrenze; mein Geburtsort gehört zum tschechischen Gebiete, doch war es in meiner Kindheit noch ganz selbstverständlich, daß die Honoratioren des Städtchens entweder Deutsche waren oder doch mit einigem Stolze etwas deutsch redeten. Zu den deutschen Honoratioren gehörten (damals noch selbstverständlich) die jüdischen Besitzer der kleinen mechanischen Webereien. So ein Fabrikbesitzer war auch mein Vater. Horzitz ist jetzt bekannter geworden durch die Tatsache, daß es am Tage nach der Schlacht von Königgrätz das preußische Hauptquartier war. Für uns Kinder war Sadowa einer der nächsten Ausflugsorte, Königgrätz die nächste große Stadt. Als diese Namen historische Berühmtheit erlangten, lebte ich längst nicht mehr in Horzitz.

In Horzitz übernachteten der König und Bismarck nach der Schlacht, der König feldmäßig auf einem Sofa im Rathause, Bismarck in dem Hause unseres Arztes, das neben dem unsern lag. Von Horzitz sind die ersten Briefe über die Schlacht datiert, die beide Männer an ihre Frauen schrieben. Es ist bezeichnend für die Volksphantasie, daß über den Aufenthalt des Königs sich nicht so viele Legenden bildeten wie über den des Grafen Bismarck. Wahr ist, daß auch Bismarck zunächst[12] kein anständiges Bett vorfand, bis der Herzog von Mecklenburg ihm eins verschaffte; viel später warf der Fürst seinem »Büschchen« fast heftig vor, dieser hätte eine solche Wohltat auf das Konto des ihm feindlichen Prinzen Karl geschrieben. In seinen Gedanken und Erinnerungen macht der Fürst dem Generalstabe, also Moltke, leise den philologischen Vorwurf, er habe den Namen des Städtchens »Horritz« geschrieben (wohl ein Druckfehler für Hořitz), gesprochen werde »Horsitz«; was wieder nicht ganz richtig ist. Ich schreibe so, wie der Name von Deutschböhmen geschrieben wird; ausgesprochen wird ungefähr »Horschitz«.

Nach der Monographie Jähns' (»Die Schlacht von Königgrätz«) besaß Horzitz im Jahre 1866 drei- bis viertausend Einwohner, von denen am Tage der Schlacht die allermeisten entflohen gewesen wären. Beides wird nicht ganz stimmen. Die Stadt hatte über fünftausend Einwohner und nur die Wohlhabenden dürften die Flucht ergriffen haben; natürlich vor allem die Hausbesitzer, deren Abwesenheit den Preußen, als sie die Soldaten und dann die Verwundeten unterbringen wollten, zunächst unbequem auffallen mußte.

Ich war noch nicht ganz sechs Jahre alt, als wir Horzitz verließen. Ort und Gegend ist mir aber ganz gegenwärtig geblieben, weil wir noch viele Jahre lang unsere Schulferien dort verlebten, also mit völliger Freiheit in der Landschaft umherzustreifen. In zwei oder drei Sommern waren wir mit den Eltern da, nachher fielen wir einem Onkel zur Last, der sich denn auch später einmal die lärmenden Neffen durch einen Gewaltstreich vom Halse schaffte: unterhalb des Gotthardsberges, auf dem jetzt das ernste Denkmal für die gefallenen Preußen steht, hauste zum Schrecken der[13] Einwohner ein Räuber, dessen gutmütige Art an Raabes »Horacker« erinnern mochte; der Onkel aber machte sich die Schauergerüchte zunutze, packte uns zusammen und schickte uns eines Tages nach Prag, mit der Begründung, wir wären in Horzitz unseres Lebens nicht sicher. Viel Geldwert wäre bei uns Knaben nicht zu holen gewesen.

Das Städtchen liegt genau so da wie andere Landstädte Böhmens. Ein sehr großer, viereckiger Marktplatz, »Ring« genannt, ist mehr die Stadt selbst als bloß der Mittelpunkt. Vom Ringe aus einige schlechte Gäßchen, von denen die beiden längsten sich gegen Süden und gegen Norden erstrecken; die gegen Süden in der Richtung nach Königgrätz bis zur »untern Kapelle«; die andere gegen das Riesengebirge zu bis zur »obern Kapelle«. Auf dem weiten Platze verloren eine Mariensäule und ein Röhrbrunnen. Die untere Hälfte des Rings von Bogengängen umgeben, den sogenannten »Lauben«, in denen es bei den Wochenmärkten und besonders bei den Jahrmärkten geschäftig genug zuging. Den Häusern der obern Hälfte, die offenbar neuern Ursprungs waren, fehlten die Lauben. Das Haus meines Vaters, das er in meinem zweiten Lebensjahre erbaut hatte, stand da auf der obern Hälfte des Rings und dünkte uns Kindern überaus vornehm, weil rechts und links vom Toreingang je ein Pilaster stand mit steinernen Eulen. Als ich das Haus in meinem vierzigsten Jahre nach langer Entfremdung wiedersah, kam es mir nicht mehr so gewaltig vor; merkwürdig, sogar die Bäume des Gartens, die doch recht viel größer geworden sein mußten, kamen mir jetzt kleiner vor. Von den Dachfenstern des Elternhauses war die Schneekoppe zu sehen; ich war elf Jahre alt, als ich sie zum ersten Male erstieg.[14]

Ich habe vergessen zu sagen, daß es in Horzitz auch ein Schloß gab; es war ein unschöner mächtiger Bau, in welchem die Staatsbeamten sich eingerichtet hatten. Hinter dem Schlosse wuchsen in meiner Kinderzeit die ersten Fabriken empor, auch die meines Vaters.

Wollte man von Horzitz nach Prag fahren, so konnte man in meiner frühesten Jugend erst von Pardubitz an die Eisenbahn benützen. Als ich aber im Sommer des Jahres 1867 wieder in meiner Heimat war, da ging die Bahn schon bis Königgrätz, von wo eine schwerfällige, einspännige Britschka in zwei Stunden auf der Kaiserstraße quer über das Schlachtfeld, direkt über Lipa und Sadowa, hart an Chlum vorbei, mich nach Horzitz brachte. Der Eindruck war an diesem friedlichen schönen Augusttage noch traurig genug. Zwar die zerstörten Häuser und Hütten waren wieder aufgebaut und die Kanonenkugeln in den Mauern des Wirtshauses von Sadowa, das jetzt die deutsche Inschrift »Zum Schlachtfelde« trug, sahen nach Reklame aus. Aber rechts und links von der Straße standen Grabsteine; hier waren Offiziere gefallen und an Ort und Stelle begraben worden; bei dem achtzigsten Grabstein hörte ich zu zählen auf. Noch furchtbarer schienen mir die Massengräber der preußischen und österreichischen Soldaten, die in den schnittbereiten Kornfeldern überall deutlich zu erkennen waren, weil die Bauern dort nicht gepflügt und nicht gesät hatten. Von Lipa aus besuchte ich die niedere Höhe von Chlum, wo nichts mehr an die blutigen Stunden der Entscheidung erinnerte, und über Langenhof hinaus die hügeligen Wiesen, wo die »schöne« Reiterschlacht stattgefunden hatte, über welche Jähns den bedenklichen Satz zu schreiben gewagt hat: »Wahrlich ein Schauspiel auch eines Königs in vollem Maße wert!«[15]

Der Kutscher erzählte wilde Geschichten von der Schlacht. Die Legendenbildung war nicht müßig gewesen. Die Flügel einer Windmühle hätten dem Feldzeugmeister Nachricht von den Bewegungen der Preußen gegeben. »Aber ein dummer Kerl war Benedek doch. Er hätte die beiden großen Linden drüben bei Horenowes abhauen sollen. Dann hätte der Kronprinz nicht den Weg von Königinhof hergefunden.« (Bekanntlich marschierte die schlesische Armee wirklich stundenlang auf diese weithin sichtbaren Linden zu; daß es aber auch etwas wie Landkarten gäbe, das wollte der Kutscher nicht glauben.)

In Horzitz selbst wurde mir in aufgeregter Weise viel über die Tage vom zweiten bis fünften Juli des vergangenen Jahres erzählt, Wahres und Falsches durcheinander; aber auch nicht ein einziger Zug von Roheit oder Disziplinlosigkeit der Preußen. Als die schlimmste Tat wurde berichtet, daß sie an der Bistritz zu irgendeinem Zwecke, ich glaube zum Ausbessern der Brücke, Scheunentore ausgehoben hätten. Gegen 20000 Mann waren in Horzitz untergebracht; und dann waren alle besseren Häuser zu Spitälern umgewandelt worden. Allgemein wurde gerühmt, daß die österreichischen Verwundeten ebensogut verpflegt wurden wie die preußischen. Ich habe schon angedeutet, daß das Interesse wie der Haß fast ausschließlich dem Grafen Bismarck galten. Er wäre auf dem Hofe des Doktorhauses »beinahe« in eine Mistgrube gefallen und hätte »beinahe« den Hals gebrochen; kein Kind in Horzitz, das nicht Lust gehabt hätte sich dieses »Beinahe« zu rühmen. Als ich im Jahre 1875 abermals nach Horzitz kam, zur Beerdigung meines Großvaters, vernahm ich nichts mehr über die Schlacht von Königgrätz.[16]

Quelle:
Mauthner, Fritz: Erinnerungen, Band 1: Prager Jugendjahre, München 1918, S. 12-17.
Lizenz: